Читать книгу Familiengeheimnis - Catherine St.John - Страница 8
Kapitel 6
ОглавлениеSebastian hatte nach dem Dinner noch mit John in der Bibliothek gesessen und allerlei Philosophisches besprochen, das mit der Anzahl der geleerten Cognacgläser immer tiefsinniger wurde, bis John schließlich unvermittelt auflachte und verkündete, er werde sich zu Bett begeben, bevor das Gespräch völlig ins Sinnlose abrutsche.
Sebastian musste ihm Recht geben, aber müde war er noch nicht – außerdem bildete er sich ein, dass es bis nach Lynet nicht gerade weit war. Vielleicht führte ja der Anblick des nächtlichen Schlosses zu irgendeiner Art von Erkenntnis? Irgendetwas, das er Ben berichten konnte? Und seinen benommenen Schädel sollte er wohl auch etwas auslüften…
Er hüllte sich in seinen Mantel mit den zahlreichen Kragen und verließ das Haus durch das Portal, das ihm ein Diener eifrig öffnete.
Eine klare Nacht mit einem scharf umrissenen Halbmond, der alles in ein sehr schwaches Licht tauchte, aber durchaus imstande schien, bedrohliche Schatten zu erschaffen.
Er schlenderte dahin und erkannte in der Entfernung das oberste Stockwerk von Lynet, das über Bäume und Hecken hinausragte und still im blassen Mondlicht stand. Kein Fenster war erleuchtet – um diese Zeit wahrscheinlich kein Wunder.
Nach dem, was er über den Viscount gehört hatte, ging die ganze Familie wahrscheinlich bei Sonnenuntergang schlafen, um Talglichte zu sparen. Er sollte ja unglaublich geizig sein…
Wenn er sich halblinks hielt, musste er eigentlich an die Stelle gelangen, an der gestern dieses Mädchen durch die Büsche geflohen war. Die ältere Tochter, hatte John gesagt, Miss de Lys…
Diese Stelle wollte er finden, denn dort sollte es ihm doch wohl möglich sein, selbst aus der Nähe einen Blick auf das alte Gemäuer zu werfen. Ob Lynet es wenigstens notdürftig in Schuss hielt, wenn er so geizig war?
Er schlenderte geradeaus und versuchte, die Stelle zu finden, an der das unglückliche Mädchen verschwunden war, als es plötzlich heftig zu rascheln begann und etwas zwischen den Büschen hervorstürzte, schnaufend und offenbar etwas hinter sich her schleifend, den Geräuschen zufolge. Ein Pony, das seine Zügel nachschleifte? Um diese Zeit? War es aus den Stallungen entwichen – aber warum noch aufgezäumt?
Nein, es tauchte stattdessen eine menschliche Silhouette auf, und zwar eine weibliche: Eine Haube, eine hübsche Rückenlinie, ein grauer, hochangesetzter Rock, soweit er etwas im diffusen Mondlicht einschätzen konnte.
Das weibliche Wesen zerrte etwas hinter sich her – ein Dienstmädchen, das man entlassen hatte? Aber wieder: um diese Zeit?
Er trat näher.
„Kann ich helfen?“
Das Mädchen stieß einen leisen Schrei aus. „Wer sind Sie?“
„Ich bin Hertwood. Und Sie?“
Sie sah trotzig zu ihm auf und wandte sich dann wieder ab, um mit letzter Kraft einen Mantelsack aus abgewetztem Leder aus dem Gebüsch zu zerren.
„Puh, ist das Ding schwer…!“
„Wer sind Sie?“, wiederholte er.
„Das geht Sie nichts an“, murmelte sie und wollte sich abwenden.
Er packte ihren Ellbogen und zwang sie so, sich umzudrehen und ihn richtig anzusehen.
„Ach nein – Miss de Lys, wie ich vermute?“
„Nein. Woher wollen Sie das überhaupt wissen?“
„Ich habe Sie gestern gesehen, als Sie ins Gebüsch geflohen sind.“
„Ach, Sie waren das, zusammen mit John Horbury? Unserem Nachbarn?“
„Ganz recht. So, und jetzt erzählen Sie mir bitte, was Sie um diese Zeit mit einem viel zu schweren Mantelsack im Gebüsch vorhaben!“
„Das geht Sie gar nichts an.“
Sie hatte den Kopf gesenkt und scharrte mit dem linken Fuß über den Weg, bis ihr Schuh ganz staubig sein musste.
„Seien Sie nicht albern!“, fuhr er sie an. „Was soll das hier“ – er holte mit der Hand weit aus – „denn bitte werden?“
„Ich reise zu meiner Tante.“
„Ach ja. Diese Tante wohnt, nehme ich an, gleich hinter den Bäumen dort.“
Leises Gemurmel.
„Lauter, bitte?“
„Andover…“
„Zu Fuß? Sie werden nie dort ankommen!“
Als sie nicht reagierte, fuhr er fort: „Man wird Sie ausrauben, wenn nicht Schlimmeres. Und Sie wollen doch wohl auch nicht so viele Meilen gehen?“
„D-doch. Für die Post habe ich kein Geld.“
„Etwas so Törichtes habe ich noch nie gehört. Warum wollen Sie denn ihr Elternhaus verlassen? Was sich im Übrigen gar nicht gehört!“
Zu seinem Schreck begann sie zu schluchzen. Wenn ihn etwas in tödliche Verlegenheit versetzte, dann weinende Frauen, also tätschelte er ihr verlegen die Schulter und erschrak, als er unter dem abgetragenen Wollstoff die Knochen fühlte. Das arme Kind war ja tatsächlich halb verhungert!
Miss de Lys weinte immer noch, aber immerhin konnte man jetzt einige Worte verstehen, allerdings ergaben sie für ihn wenig Sinn: Worin bestand nur der Zusammenhang zwischen Landstreicher, Vater und Tante? Sie wollte zur Tante nach Andover, diese kleine Wahnsinnige – sie wäre eine leichte Beute für jeden Räuber, jeden Verführer, jeden Mörder. Hatte der Vater sie tatsächlich aus dem Haus geworfen? Der Landstreicher allerdings stellte Sebastian wirklich vor ein Rätsel.
Er reichte dem armen Kind sein Taschentuch; Miss de Lys trocknete sich damit die Augen und befühlte dann verwundert das feine Material.
„So, und was hat jetzt der Landstreicher mit Ihrer Flucht zu tun, Miss de Lys?“
Sie schnüffelte noch einmal, aber sprach nun einigermaßen verständlich: „Mein Vater will mich loswerden. Ich b-bin unnütz und hässlich und finde keinen Ehemann. Er hat gesagt, er gibt mich dem Erstbesten und wenn es ein Landstreicher ist!“ Ihre Augen schwammen immer noch in Tränen und trotz ihrer nassen Wangen und ihrer deutlich geröteten Nase fand er sie plötzlich sehr niedlich. Immer noch bedauernswert, aber auch rührend.
„Dem Erstbesten? Soso.“ Er überlegte kurz und schwankte zwischen dem Glauben, hier eine Chance zu wittern, und dem Verdacht, gerade vollkommen den Verstand zu verlieren. Dann fasste er einen Entschluss.
„Wenn ich Ihnen zusichere, morgen mit Ihrem Vater zu sprechen, können Sie dann wieder ungesehen zurückschleichen und morgen ganz unbefangen wirken – so, als hätten wir uns noch nie gesehen?“
Sie nickte, aber mit ratloser Miene. „Ja, das kann ich, aber wozu? Was wollen Sie mit meinem Vater besprechen?“
Er lächelte über so viel Naivität. „Warten Sie ab; ich bin sicher, es wird Ihrem Vater gefallen. So, und jetzt sehen Sie zu, dass Sie in Ihr Zimmer zurückkehren, ohne ertappt zu werden.“
Sie machte kehrt und zerrte ihren Mantelsack durch das Gebüsch zurück. Als das Blätterrascheln verstummt war, kehrte er ebenfalls um und schlenderte zu den Horburys zurück.
Wie sollte es nun weitergehen? Mit Lynet konnte er nur eins besprechen – und wollte er das wirklich? Zurück konnte er nun auch nicht mehr… was hatte ihn nur zu diesem Versprechen bewogen? Mitleid? Rührung? Mehr als das? Wohl kaum. Der Gedanke an Ben? Die detektivische Neugierde?
Eine Mischung von allem vermutlich, beschloss er, nicht wirklich mit sich zufrieden, betrat das Haus der Horburys durch das Hauptportal, wünschte dem Diener eine gute Nacht und eilte hinauf in sein Zimmer.
Wahrscheinlich würde er wegen seines übereilten Handelns heute Nacht von Alpträumen heimgesucht werden, aber das geschah ihm dann nur recht.