Читать книгу Familiengeheimnis - Catherine St.John - Страница 7
Kapitel 5
ОглавлениеMelly zog die Stola etwas enger um die Schultern, denn zum einen war es recht kalt im Salon und zum anderen musste sie ja die Verfärbung an ihrem Arm verstecken, dort, wo ihr Vater sie mit hartem Griff gepackt hatte. Ein Wunder, dass er sie nicht geohrfeigt hatte – nur angeschrien hatte er sie, aber das mehrfach – und ihr war immer noch nicht klar, was sie sich eigentlich hatte zuschulden kommen lassen. Sicher, sie hätte wohl länger in der Bibliothek bleiben sollen… aber wozu nur? Es hatte doch niemand weiter die Bibliothek betreten? Wollte ihr Vater, dass jemand sie kompromittierte - wie genau? Und war es ihm gleichgültig, wer es war? Sie hätte ihn gerne gefragt, was denn geschehen wäre, wenn zum Beispiel Lord Horbury die Bibliothek betreten und sich nur väterlich nach ihrem Wohlbefinden erkundigt hätte – er hätte sie ja wohl kaum heiraten können, wenn er schon verheiratet war! Hätte Papa sich mit ihm duellieren wollen? Und was wäre mit ihr geschehen, wäre sie ruiniert gewesen? Ohne irgendeinen Fehler gemacht zu haben?
Andererseits hätte diese Frage ihr auf jeden Fall einige Ohrfeigen eingetragen.
Was sollte sie jetzt nur tun? Ihr Vater wollte sie lieber heute als morgen loswerden, das war deutlich geworden. Und wenn sie ganz ehrlich war und sich nicht in töchterliche Heuchelei flüchtete, wäre sie ihn auch gerne los. Mama und Jane aber nicht…
Warum ihr Vater so sehr an seiner Familie sparte, dass sie kaum satt zu essen hatten, und warum er so verzweifelt versuchte, seine Tochter an irgendeinen Kandidaten zu verheiraten, wusste sie nicht. Er schien sich vor einer unbekannten Bedrohung zu fürchten, hatte aber offenbar niemandem reinen Wein eingeschenkt. Mama jedenfalls wusste, so sagte sie, nicht, warum er sich so gebärdete. Gewiss, der Vater warf Mama vor, dass sie keinen Sohn geboren hatte. Dann würde Lynet nach seinem Tod an jemand Fremden fallen. Von solchen Erbfragen hatte selbst sie schon gehört. Aber wäre das denn so tragisch?
Sie starrte nachdenklich in das winzige Kaminfeuer, das kaum den Bereich unmittelbar vor dem Kamingitter erwärmte. Waren sie so arm, dass es nicht einmal für Feuerholz reichte?
Die Tür wurde aufgestoßen und Melly zuckte zusammen. Ihr Vater trat energischen Schrittes herein, stocherte etwas im Feuer herum, das daraufhin noch etwas kläglicher flackerte, und drehte sich dann um.
„Warum sitzt du hier herum?“
Melly hatte sich schon gehorsam erhoben, als sich doch ein Hauch von Widerstand in ihr regte. „Was soll ich denn tun? In der Küche helfen?“
Ihre Wange brannte von dem plötzlichen heftigen Schlag.
„Du bist unverschämt, du nutzloses Gör! Und jetzt verschwinde aus dem Salon!“
Nun gut… Den Mut, ihn zu fragen, was ihn eigentlich antrieb, hatte sie nun natürlich nicht mehr.
Sie rannte aus dem Salon und die Treppe hinauf in ihr Zimmer, in dem natürlich gar kein Feuer brannte, obwohl es draußen recht kühl war. Aber ein Schlafzimmer heizen? Das kam ja gar nicht in Frage…
Was sollte sie hier nun tun? Die paar Bücher, die sie selbst besaß, kannte sie fast auswendig; aufgeräumt und geputzt hatte sie heute Morgen schon.
Im Schrank hingen fünf Kleider, von denen keines einer flickenden Hand bedurfte; auf dem Schrankboden standen zwei paar gut geputzter Schuhe und daneben ein kleiner Mantelsack, den sie eigentlich Mama zurückbringen sollte. Sie hatte die Hand schon danach ausgestreckt, als sie zurückzuckte. Zum einen durfte sie sich wahrscheinlich auch nicht auf dem Flur im oberen Stock sehen lassen, zum anderen wusste man ja nie… vielleicht konnte sie den Mantelsack noch brauchen.
Ihr knurrte der Magen, aber bis zum Dinner (edles Geschirr, wenig darauf) dauerte es noch mindestens zwei Stunden. Sie wickelte sich enger in den Schal, setzte sich an ihren Toilettentisch und beschloss, die Schubladen aufzuräumen.
Leider war diese Aufgabe im Handumdrehen erledigt, weil die Schubladen nicht mehr als einige aufzurollende Haarbänder, einen Armreifen im ägyptischen Stil (also völlig aus der Mode) und zwei leicht verstaubte Ansteckblumen enthielten.
Melly sah sich unschlüssig um und griff dann doch zu einem viel gelesenen Roman, nur um ihn wieder sinken zu lassen. Vielleicht konnte sie Mama helfen? Immerhin musste sie mit viel weniger Personal auskommen als eigentlich für ein Haus dieser Größe als notwendig galt.
Auf dem Flur vor ihrem Zimmer war niemand zu sehen, als sie vorsichtig durch den Türspalt spähte. Also schlich sie sich wieder hinunter und hoffte, ihre Mutter im Salon anzutreffen – aber ihre Mutter war nicht allein.
„Du weißt doch, worum es geht!“, hörte sie ihren Vater mit erhobener Stimme argumentieren.
„Natürlich“, war Mamas gleichmütige Antwort, „aber ich verstehe nicht, warum das so eilig ist. Die Mädchen sind noch so jung. Und auch Melly ist noch nicht reif für die Ehe.“
„Ach, Papperlapapp! Sie ist alt genug – und reif? Frauen werden ohnehin nie reif, dann ist es doch ohnehin gleichgültig.“
„Max…!“
„Lass diesen tadelnden Tonfall, Margaret. Ich bestimme in dieser Familie, ich alleine. Nur solange ich lebe, habt ihr ein Zuhause, vergiss das niemals! Danach stehet ihr auf der Straße.“
„Malst du da nicht zu schwarz, Max?“
„Keinesfalls! Und deshalb wird Melly verheiratet. Mittlerweile ist mir gleichgültig, an wen, nachdem sie sich selbst so ungeschickt angestellt hat. Der erstbeste, der vorbeikommt, soll sie mir vom Hals schaffen.“
„Du bist herzlos, Max.“ Mamas Stimme klang immer noch sanft, aber einen leisen Tadel glaubte Melly hinter der Tür doch herauszuhören.
„Herzlos? Verdammt, Margaret -“
„Also bitte!“
„Hättest du deine Pflicht getan, hätten wir zwei kräftige Söhne und eine Tochter. Eine hübsche, lebhafte Tochter“, betonte der Viscount. „Und dann hätte ich auch gar keine Sorgen… aber was hast du mir beschert?“
Darauf antwortete ihre Mutter nicht und Melly glaubte, Schritte zu hören, also huschte sie zur Treppe zurück und floh wieder in ihr Zimmer.
Was sollte sie nur tun? Was, wenn ein uralter, fetter, widerlicher reicher Mann vorbeikam? Müsste sie ihn auf der Stelle heiraten und auf Gedeih und Verderb mit ihm ziehen?
Lieber tot. Oder lieber fliehen?
Wohin nur? Zu Tante Amelia nach Andover? Bestimmt würde sie sie aufnehmen. Mamas älteste Schwester war schon länger Witwe und lebte in recht angenehmen Verhältnissen. Wenn sie eine Nichte bei sich hätte, die mit ihr stickte, ihr vorlas, die beiden Möpse striegelte und mit ihr spazieren ging… das klang eigentlich recht nett.
Aber wie dorthin gelangen?
Wo fuhr denn die Post? Und wie sollte sie die Post bezahlen? Mama konnte sie natürlich nicht um Geld bitten, Jane hatte genauso wenig auch nur einen Penny wie sie selbst…
Sollte sie sofort fliehen – oder warten, wie dieser erstbeste Heiratskandidat aussah, dem sie zu folgen hatte? Eigentlich war sie zu ängstlich für eine Flucht, aber blieb ihr denn eine Wahl?
Was war mit ihrem Onkel, Mamas jüngerem Bruder Marron? Seltsamer Name, übrigens…
Marron, der gegenwärtige Herzog von Dunmore, mit Ehefrau und vier Söhnen, um die ihr Vater ihn schon wortreich beneidet hatte… Söhne besaß er reichlich, Vermögen aber auch nicht unbedingt mehr als die Familie de Lys; er würde sich über einen weiteren Esser nicht freuen und die unnütze Nichte gewiss umgehend zurückschicken.
Sie seufzte und betrachtete den Mantelsack im Schrank, der eine Flucht andeutete – ja, versprach! – die offensichtlich unmöglich war. Ja, wenn sie nicht ein derartiger Angsthase wäre… aber wohin sollte sie schließlich fliehen?
Ihre Gedanken begannen sich im Kreis zu drehen, stellte sie fest. Vielleicht könnte sie ihrer Tante einen Brief schreiben und darin vorsichtig andeuten, wie es hier zuging?
Aber wäre ihr Vater bereit, den Brief freizumachen? Hatte er dieses Recht überhaupt noch, wenn er nie an Parlamentssitzungen teilnahm? Er saß doch praktisch immer nur auf Lynet herum und passte auf, dass seine Familie ihm nichts wegaß…
Sie könnte den freundlichen Herzog bitten. Aber wenn der Vater davon erfuhr, würde er wahrscheinlich versuchen, den Herzog in eine Ehe mit ihr zu zwingen. Und dann säße sie auf Schloss Lynham, umgeben von einer Familie, die sie hassen würde – und das mit Recht: die aufgezwungene Herzogin. Sogar Lady Simon, die reizende Victoria, müsste sie ablehnen.
Nein, auch das war kein Ausweg…
Dieses ziellose Hin- und Herdenken machte müde; sie legte sich auf ihr Bett und schlief rasch ein.
Als sie wieder erwachte, war es draußen finstere Nacht. Sie hatte das Dinner verpasst. Würde ihr Vater sie dafür bestrafen oder war er insgeheim froh, weil so mehr für ihn geblieben war?
Sie schlich zur Tür und lauschte hinaus, konnte aber nichts hören. Auf dem Treppenabsatz gelang das schon besser – der Viscount polterte einigermaßen verständlich, während seine Gemahlin ab und zu besänftigende Worte einwarf, die den Ärger des Vaters aber nur noch zu steigern schienen. Schließlich war jedes Wort zu verstehen, weil er regelrecht tobte: „Dem erstbesten! Ich schwöre es dir, dem erstbesten, der das dumme Ding haben will! Familie und Vermögen sind mir völlig egal, ich gebe sie auch einem Landstreicher! Was fällt ihr eigentlich ein, einfach nicht zum Dinner zu erscheinen?“
„Du hast sie aus dem Salon verwiesen und sie sogar geohrfeigt“, erinnerte Mama ihn. „Sie wird sich nicht mehr nach unten wagen, und das ist kein Wunder.“
„Wenn sie nicht ein so kümmerliches Geschöpf wäre, würde sie es wagen!“
„Und riskieren, von dir totgeschlagen zu werden?“
Einen Moment herrschte Stille.
„Das traust du mir zu?“, brüllte der Viscount dann.
„Ich traue dir nachgerade alles zu. Deine Töchter können nichts dafür, dass du keinen Sohn hast, sie können auch nichts dafür, dass deine Einkünfte nur dir alleine ein standesgemäßes Leben ermöglichen und deine Familie hungert und die Hausarbeit verrichtet wie Dienstboten.“
„Aber du kannst etwas dafür! Wieso habe ich keinen Sohn?“
„Du hattest einen! Philip hat sich erkältet, weil du in deinem Geiz verboten hattest, die Wochenstube zu heizen.“
„Wäre er nicht so ein Mickerling gewesen, hätte ihm das nichts ausgemacht. Du hast mir nur Mickerlinge geboren! Die Portneys haben eben schlechtes Blut.“
„Das ist eine unverschämte Behauptung und ich höre mir das nicht länger an!“
Melly hörte eine Tür schlagen und huschte in ihr Zimmer zurück. Einem Landstreicher wollte er sie geben – was für ein Vater war er nur? Und was hatte ihn dazu gemacht?
Nun entzündete sie rasch das Talglicht auf ihrem Toilettentisch und zog doch den Mantelsack aus dem Schrank. Wahllos stopfte sie ihre Wäsche, ihre Kleider, das bisschen wertlosen Schmuck und Putz, ihre zwei liebsten Bücher und die Schuhe hinein, zog dann ihr wärmstes Kleid an und bequeme Stiefelchen dazu (bestimmt würde sie weit laufen müssen!) und legte sich die dunkle Haube für den Kirchgang bereit.
Sie würde sich einfach von den Straßen fernhalten und in etwa eine nordwestliche Richtung einhalten, damit müsste sie doch in der Nähe von Andover herauskommen?
Wenn sie hungrig würde, würde sie versuchen, den ägyptischen Armreif gegen etwas Brot einzutauschen. So viel war er doch wohl noch wert? Warum sah Mama eigentlich nicht nach ihr, wenn sie sich schon ihretwegen mit dem Vater gestritten hatte?
Sicherheitshalber faltete sie den Mantelsack und deponierte ihn wieder im Schrank. Eigentlich gehörte er ja auf ein Pferd, überlegte sie. Aber ein Pferd zu stehlen… Cissy, ihr altes Pony war natürlich längst verkauft – und die anderen? Sie konnte ein Pferd ja nicht einmal selbst satteln!
Nein, sie musste zu Fuß gehen und das unförmige Ding irgendwie mitschleppen, an dem Riemen in der Mitte konnte man ihn wohl festhalten.
Immer wenn sie vor dieser abenteuerlichen Flucht zurückschreckte, dachte sie wieder an den Landstreicher, dem ihr Vater sie überlassen wollte. Sie würde schon von Lynet wegkommen, und dass ihr Vater nach ihr suchen lassen würde, konnte sie sich wirklich nicht vorstellen. Wenn Tante Amelia sie nicht aufnehmen wollte, würde sie sich in Andover einen Posten suchen. Als Dienstmädchen konnte sie bestimmt ihr Brot verdienen. Auch im Flicken war sie recht gewandt – aber nur sehr große Häuser leisteten sich eine Hausschneiderin. Schneiderin werden… das würde ihr gefallen!
Schließlich zeigte die alte Uhr auf dem Sims über dem kalten Kamin zehn Uhr an; ihre Eltern begaben sich bestimmt gerade zu Bett und Jane schlief schon seit zwei Stunden… Sie wickelte sich in ihr warmes Tuch, setzte das dunkle Häubchen auf und zog es tief ins Gesicht, packte den Mantelsack, dessen Riemen ihr schmerzhaft in die Hand schnitt, und schlich den Gang entlang zur hinteren Treppe, die nicht nur zum Dienstbotenquartier, sondern auch zur Gartentür führte. Tatsächlich ließ sich niemand sehen, weder Walters, der uralte Butler (der wohl nur noch für Kost und Logis blieb, denn bezahlt hatte ihr Vater ihn bestimmt schon länger nicht mehr), noch die Köchin, die Lynet nicht entlassen konnte, weil er Wert auf gutes Essen legte – wenigstens für sich.
Je länger sie über ihren Vater nachdachte, desto mehr verabscheute sie ihn – aber jetzt musste sie sich konzentrieren, die Hintertreppe hatte zwei Stufen, die laut zu knarren pflegten. Welche waren es wohl? Die eine kurz vor der Kehre… ja, sie passierte sie ohne einen Laut. Und die drittletzte Stufe? Nein, die war es nicht, die viertletzte knarrte aber nur leise.
Erleichtert zog sie langsam die schwere Tür auf, die ins Freie führte, schlüpfte hindurch – dieser vermaledeite Mantelsack war schwerer, als sie zu Anfang gedacht hatte – und schloss die Tür wieder lautlos hinter sich.
Erleichtert atmete sie tief ein und genoss einen Moment lang die klare Nachtluft, aber dann sah sie einen Schatten und presste sich ängstlich in den Busch neben der Seitentür.
Ein Mann schritt langsam den Weg entlang, der zu den Büschen an dem Weg neben dem Schloss führte. Lieber Himmel, er wollte doch wohl nicht zum Seiteneingang? Unbedingt würde er sie bemerken! Wo sollte sie nur hin? Und wer war das überhaupt – nachts auf dem Land von Lynet?
Der Mann kam näher und Melly, starr vor Angst, erkannte den alten Butler, der dann kurz vor der Seitentür die Richtung wechselte und sich in Richtung des Dienstboteneingangs entfernte.
Der alte Walters, immer korrekt. Nie würde er einen anderen Eingang nehmen, auch wenn er seinen müden Knochen ein paar Schritte ersparen konnte. Sie hatte ihn immer sehr gerne gehabt, und Riley, die Köchin ebenfalls. Und jetzt würde sie die beiden niemals wiedersehen…
Sie wischte sich eine Träne aus dem Auge und spähte zur Hecke hinüber. Gestern hätten diese beiden Reiter sie beinahe gesehen, als sie dort gesessen und geweint hatte. Und jetzt weinte sie schon wieder! Das musste aufhören.
Und jetzt würde sie durch die Hecke in die Freiheit gelangen und immer dem Halbmond entgegen gehen, denn in dieser Richtung lag Andover. Leider nur sehr weit entfernt.
Sie überquerte den Rasenstreifen und tauchte in das Gebüsch ein, nur um festzustellen, dass der dumme Mantelsack dauernd an den Ästen hängenbleiben wollte. Sie zog und zerrte, hätte beinahe noch die Haube verloren und stolperte schließlich auf den Reitweg hinaus.