Читать книгу Im Zentrum der Spirale - Cecille Ravencraft - Страница 15
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ОглавлениеVerwandte waren aufgetaucht und hatten das andere Kind, Chris, mitgenommen. Mrs. M. erzählte Tom am nächsten Morgen davon.
»Die Polizei wird wohl dafür gesorgt haben. Sie ermitteln, aber ich bin sicher, dass das Ganze nur ein schrecklicher Unfall war. Armes kleines Mädchen.« Sie saß auf Toms Bett.
Thomas aß sein Frühstück. Er war wach geworden, als Mrs. M. mit ihrem Tablett hereinkam und »Aufgewacht, es ist schon nach acht« gerufen hatte. Thomas wunderte sich darüber, dass sie an einem solchen Tag so munter sein konnte. Immerhin war das Kind erst gestern gestorben. Es machte ihn unbehaglich, dabei zuzusehen, wie sie fröhlich summend seine schmutzige Wäsche einsammelte.
Tom aß langsam und ohne Appetit. Gestern hatte Mrs. M. das hingenommen und tatsächlich zum ersten Mal, seit er hier war, nichts gekocht. Aber heute Morgen hatte sie ihm einen riesigen Stapel Pfannkuchen mit Ahornsirup gebracht. Er wusste ja, wie sehr sie es hasste, wenn er nichts aß, also aß er. Ihm war speiübel, aber er aß.
»Ich befürchte, dass die Polizei bald hier aufkreuzen wird, die Nachbarn zu befragen ist in solchen Fällen üblich. Auf keinen Fall kannst du hier oben bleiben, bis sie fort sind.«
»Kann ich nicht?«, mampfte er.
»Nein, Tommy. Sie werden hier hochkommen und sich den Nachbargarten von diesem Fenster aus ansehen wollen. Von hier aus kann man doch direkt auf das Schwimmbecken sehen. Sie werden uns fragen, ob wir irgendetwas gesehen haben und wenn ja, warum wir keinen Notruf abgesetzt haben. Du wirst auf dem Dachboden warten müssen.«
Thomas war schon einmal auf dem Dachboden gewesen. Er war leer. Das einzig Interessante war einer der Dachbalken. Jemand hatte »I love Mary« hineingeritzt. Mehr gab es dort oben nicht zu sehen. Eine Idee schoss Tom durch den Kopf. Er hatte sich doch geschworen, herauszufinden, was hier vor sich ging, oder nicht? Es würde wohl kaum eine passendere Gelegenheit geben als heute. Die beiden würden gezwungenermaßen in der Nähe der Bullen bleiben müssen.
»Der Dachboden ist vielleicht keine so gute Idee, Ma. Vielleicht wollen sie auch von da oben aus in den Nachbargarten gucken. Da sind doch sogar zwei Fenster, die in Richtung der Johansons zeigen. Ich warte besser im Keller.« Thomas stopfte den letzten Pfannkuchen in sich hinein. Er glaubte, gleich zu platzen. Er sah hoch zu Mrs. M., die besorgt schien.
»Vielleicht hast du Recht, Tommy«, gab sie zu und knetete unruhig ihre Hände. »Du kannst im Keller bleiben, aber bewege dich bloß nicht! Ich stelle einen Klappstuhl in den Waschraum, und bitte bleibe drauf sitzen, bis sie wieder weg sind! Wenn die was hören sollten …«
»Nein, keine Sorge, Ma! Ich werde mucksmäuschen-still sein, versprochen! Ich weiß ja, dass ich in großer Gefahr schwebe. Ich mache nicht mal das Licht an. Ach ja, woher wusstest du, dass ein paar Verwandte Chris abgeholt haben?«, fragte er unschuldig in der Hoffnung, sie werde sich in ihrer Nervosität verplappern.
»Ich habe sie gesehen, als ich zum Auto ging. George hatte vergessen, die Milch rauszuholen, als er heute Morgen einkaufen war.«
»Er war schon einkaufen?«, fragte Thomas verblüfft. Es war ja noch nicht mal neun Uhr.
»Na ja, wir konnten beide letzte Nacht nicht besonders gut schlafen, da sagte er, er könne genauso gut einkaufen gehen.« Mrs. M. stellte die benutzten Teller ineinander und sah ihn nicht an. Thomas hatte die beiden die ganze Nacht schnarchen gehört. Der Tod eines kleinen Mädchens machte ihnen wohl nicht viel aus. Er wurde schon wieder angelogen.
Mrs. M. erhob sich vom Bett und nahm das Tablett an sich. »Du solltest schnell duschen und dich anziehen. Dann komm bitte runter in den Keller. Lange wird die Polizei nicht auf sich warten lassen.« Sie drehte sich um und verließ verdächtig schnell den Raum. Thomas stand auf, machte sein Bett, räumte alle Hinweise darauf, dass dieses Zimmer benutzt wurde, fort. Anschließend nahm er eine Dusche. Er zog sich an und bevor er runterging, öffnete er die Schublade seines kleinen Nachttisches. Darin befanden sich Hustenbonbons, ein paar Taschentücher und eine kleine Taschenlampe. Er knipste sie kurz an. Sie funktionierte. Tom steckte sie erfreut in die Tasche seiner Jeans und zog sein T-Shirt aus dem Hosenbund, damit es die verdächtige Ausbuchtung verdeckte. Dann ging er die Treppe runter.
Mrs. M. knipste gerade, als er in die Küche kam, das Licht an. Er wollte sie schon fragen, warum sie das tat, da hörte er ein fernes Grollen.
»Ich glaube, da ist ein Gewitter im Anmarsch.« Thomas sah aus dem Fenster. Der Himmel hatte sich schwarz verfärbt, ein greller Blitz zuckte auf und blendete ihn für eine Sekunde. Er und Mrs. M. fuhren zusammen. Dann prasselte auch schon der Regen gegen die Scheibe. Mrs. M. hoppelte schnell herüber und machte es zu. Thomas sah erst jetzt, dass es zum allerersten Mal, seit er hier war, etwas offen gestanden hatte. Überrascht sah er sie an. Mrs. M. lächelte. »Ich mag die Luft vor einem Gewitter. Die Atmosphäre scheint dann beinahe wie mit Elektrizität aufgeladen zu sein.« Tom nickte verwirrt, und sie scheuchte ihn die Kellertreppe hinunter.
Aber es war Mr. M., der ihn zum Waschkeller führte. Ein kleiner Klappstuhl stand in der Mitte zwischen der Waschmaschine und dem Trockner. Mr. M. muffelte Tom an, er solle darauf still sitzen, bis entweder er oder seine Frau kamen und ihn wieder abholten. Thomas nickte. Mr. M. warf ihm noch einen misstrauischen Blick zu, der Thomas erschauern ließ. Dann drehte er sich um und erklomm die Stufen. Die Tür schlug mit einem Knall zu, und Thomas zuckte zusammen. Es war nun völlig dunkel. Das Gewitter tobte inzwischen so heftig, dass das ganze Haus darunter zu wanken schien. Es dröhnte, als würden alle finsteren Götter es mit ihren Fäusten bearbeiten. Das Heulen des Windes war hier unten sehr laut. Es war das einsamste Geräusch, das Thomas je gehört hatte.
›So muss der leere Raum zwischen den Galaxien sein‹, dachte er schaudernd. ›Absolute Dunkelheit, ein klagender Wind fegt durch deine Seele.‹ Kelly hatte einmal ein Gedicht geschrieben und diese Worte benutzt. Damals hatte Tom nicht verstanden, was sie damit sagen wollte. Jetzt allerdings schon. ›So hat sie sich ihr ganzes Leben lang gefühlt‹, dachte er traurig, ›einsam und isoliert.‹
Thomas war versucht, seine Suche sofort zu beginnen, aber er glaubte es sei besser zu warten, bis es oben an der Tür klopfte. Es war nicht gerade angenehm, hier bewegungslos in kompletter Finsternis zu sitzen. Es gab Spinnen hier drinnen und Mäuse, vielleicht sogar Ratten so groß wie Hundewelpen … Er rutschte unruhig auf seinem Stuhl hin und her und stöhnte, als das alte Ding unter ihm quietschte. Vielleicht raste genau in diesem Moment eine riesige Spinne auf ihn zu, ihre vielen Beine hasteten mit furchtbarer Geschwindigkeit seinen Oberschenkel hinauf … sie würde über sein Gesicht krabbeln, und wenn er seinen Mund öffnete, um zu schreien, kroch sie hinein …
»Was habe ich dir gesagt«, fauchte eine wütende Stimme direkt neben seinem Ohr. Thomas sprang mit einem entsetzten Keuchen, das fast schon ein Schrei war, von seinem Stuhl hoch.
Mr. M’s Gesicht erschien in der Dunkelheit. Es war spärlich von einer Taschenlampe beleuchtet. Der alte Sack stand direkt neben dem Stuhl, der umgefallen war, als Thomas so plötzlich aufsprang.
»Ich hatte doch gesagt, dass du still sitzen sollst, oder nicht?«, zischte Mr. M. grimmig. »Kein Herumrutschen! Kein Quietschen! Jetzt heb diesen Stuhl auf und pflanze deinen Hintern darauf, hörst du?«
»Ja, Mr. M.«, erwiderte Thomas mit zittriger Stimme. Mit einem letzten finsteren Blick ging Mr. M. wieder die Treppe rauf und schloss die Tür. Diesmal hörte Thomas die Schritte über seinem Kopf, als der Alte in die Küche ging, zweifelsohne um seiner Frau schadenfroh zu erzählen, wie er den Jungen da unten zu Tode erschreckt hatte.
Thomas versuchte, sich wieder zu beruhigen. Seine Hände und sein ganzer Körper zitterten erbärmlich. Er glaubte sogar, sich vor Schreck etwas in die Hose gepisst zu haben, als der alte Fiesling so plötzlich in der Dunkelheit in sein Ohr gegrummelt hatte.
›So ein Arschloch! Da kriegt man ja `nen Herzinfarkt‹, dachte er noch immer völlig von der Rolle, wagte aber nicht, es laut auszusprechen. Jetzt war Tom froh, nicht doch sofort mit seiner Suche begonnen zu haben. Der alte Mistkerl hatte wohl im Dunkeln auf der Treppe gestanden und nur darauf gewartet, dass Thomas etwas tat, das er nicht sollte. Als ob Mr. M. gewusst hätte, dass Tom das tun würde.
Es wurde rasch zur reinen Folter, auf dem alten, harten Stuhl zu sitzen, ohne sich bewegen zu dürfen. Toms Muskeln wurden langsam steif und fingen an zu schmerzen. Endlich erklang das Klopfen an der Haustür, auf das sie alle gewartet hatten, und Thomas seufzte erleichtert auf. Über sich vernahm er die Schritte des alten Paares, das sich der Tür näherte. Die Show begann.
Die M’s führten die Cops die Treppe hoch. Thomas hörte ihre Stimmen leiser werden. Nun hatte er vielleicht fünf Minuten. Die M’s würden zudem auch noch erpicht darauf sein, den unerwünschten und gefährlichen Besuch schnell wieder loszuwerden. Also musste er sich beeilen.
›Hoffentlich steht kein verdammter Bulle direkt neben der Kellertür‹, dachte er nervös und stand vorsichtig auf. Das Quietschen war furchtbar laut in der Stille, denn ausgerechnet jetzt donnerte es nicht. Thomas fluchte leise und schaltete seine Taschenlampe ein. Er fing mit dem Raum zu seiner Rechten an und betete, das dünne Licht würde nicht durch ein Kellerfenster scheinen. Er konnte sich zwar nicht erinnern, eins gesehen zu haben, als er draußen war, aber wer konnte sich da so sicher sein? Zu seiner Erleichterung sah er nirgendwo eins.
Der Raum war leer. Er nahm den nächsten. Leer bis auf ein paar Regale, eine Kühltruhe und fünf Kühltaschen. Tom hob den Deckel der Kühltruhe und lugte hinein. Sie war halb mit Fleisch gefüllt. Eine Kettensäge lag auf dem Fußboden neben der Kühltruhe. Uninteressant. Thomas wandte sich dem nächsten Raum zu. Er war winzig und bis obenhin mit Kartons gefüllt. Er trat näher heran. Alle Kartons waren mit »Flohmarkt« beschriftet. Thomas machte einen auf und wühlte darin herum. Er fand Kleidung, CDs, Bücher, Zeitschriften und Schuhe. Drei weitere Kartons waren ebenfalls mit ganz ähnlichen Dingen befüllt. Ein unbeschrifteter Karton war voll mit eingeschweißten Maleranzügen aus Plastik.
›Wozu brauchen die denn so was? Oder haben sie die billig für einen Dollar pro Stück gekauft, und verkaufen sie für zwei Dollar pro Stück auf dem Flohmarkt?‹
Er zuckte mit den Schultern und öffnete einen weiteren Karton. Ein Ghettoblaster war darin, eine Videokassette und zwei Bücher. Das eine Buch war »Das Schweigen der Lämmer«, das andere »Hänsel und Gretel.« Dieses Buch machte er auf und sah zu seiner Überraschung, dass es wunderschöne Illustrationen darin gab, aber auch ein anderes Ende als bei den Gebrüdern Grimm. Allerdings kein Happy End. Auf den letzten Seiten kochte die Hexe, eine kleine Frau mit braunen Locken und einem dümmlichen Grinsen im Gesicht, beide Kinder und saß glücklich vor sich hinsabbernd am gedeckten Tisch, einen gebratenen Unterschenkel auf dem Teller.
Thomas war fasziniert und sah sich das Buch genauer an. Es war tatsächlich nicht von den Gebrüdern Grimm, sondern einer Autorin namens Cecille Ravencraft.
›Cecille Ravencraft? Wer zum Geier ist denn das?‹, fragte er sich. Und was war mit dem »Schweigen der Lämmer«? Buch und Video, beides in einem Karton. Pete hatte diesen Film jedenfalls nicht sehen dürfen, erinnerte er sich. Die Kassette oben im Zimmer war überspielt worden. Aber warum? Thomas musste zu seiner Enttäuschung zugeben, dass sein Aufenthalt im Keller sich als ziemlich nutzlos erwiesen hatte. Er hatte mehr Fragen als Antworten gefunden. Und all die Kleidung … sie konnte nicht allein Pete gehört haben. Die Jeans unterschieden sich in Stil und Größe. Ein Karton war voll mit Klamotten, die man in den Siebzigern getragen hatte.
›Fettie-Pete hätte sich nicht mal tot in so was erwischen lassen‹, dachte er und legte ein Paar Schlaghosen mit einem angewiderten Kopfschütteln zurück in den Karton.
›Das wird ja ein riesiger Flohmarkt.‹ Thomas zählte weit über zwanzig große Kartons. Er warf einen Blick auf seine Armbanduhr und zuckte zusammen. Schnell verschloss er die Kartons und schob sie an ihre Plätze zurück. Er eilte gerade noch rechtzeitig zurück zu seinem Klappstuhl. Die Cops kamen gerade die Treppen herunter, und im Lärm der Schritte auf der Holztreppe konnte sich Thomas vorsichtig wieder setzen, ohne dass das Quietschen oben gehört wurde.
Thomas entspannte sich mit einem langen Ausatmen. Oben begann höfliche Konversation. Mrs. M. weinte wegen dem lieben kleinen Mädchen, welches so süß gewesen sei. Mr. M. versuchte, mitfühlend zu klingen, als er erklärte, er könne sich vorstellen, wie schrecklich das für die Johansons sein musste.
»Wir haben selbst Enkel, wissen Sie.« Und dann war die Show auch schon vorbei. Die Cops verabschiedeten sich, die M’s sagten artig: »Auf Wiedersehen« und die Tür wurde geschlossen.