Читать книгу Im Zentrum der Spirale - Cecille Ravencraft - Страница 16
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ОглавлениеMr. M. kam wenige Minuten später zu ihm, um ihn abzuholen. Thomas’ Augen wurden zu Schlitzen, als das Tageslicht sie traf.
»Nun gut, Tommy. Ich will dich in zehn Minuten im Schuppen sehen. Aber zuerst trägst du den Müll raus.«
»Den Müll? Aber was ist mit den Bu… den Cops?«
»Weg. Es war ein Unfall und die wissen das auch. Ich habe sie vor ein paar Minuten abfahren sehen. Mach dir keine Sorgen«, sagte er mit einem kalten Grinsen und sah mehr denn je wie ein Vampir aus. »Keine Sorgen mehr. Jetzt ist alles perfekt.«
Tom produzierte ein scheues Lächeln, das sofort schwand, als Mr. M ins Wohnzimmer ging. Da war etwas in Mr. M’s Gesicht gewesen, das ihm überhaupt nicht gefiel. Etwas Bösartiges und Heimtückisches. Er sah in solchen Momenten Christopher Lee in den alten Hammer Filmen sehr ähnlich, wenn er sein Cape ausbreitete und die Fangzähne entblößte. Da fasste Thomas einen Entschluss. Er würde hier abhauen. Er wollte es zwar nicht, denn merkwürdig oder nicht, er mochte die beiden.
›Weiß nicht ob es verkehrt ist oder nicht, aber ich verziehe mich lieber‹, dachte er, während er zum Mülleimer ging. Er blinzelte irritiert als er den Deckel hob und das Vogelhäuschen darin liegen sah, das, was er mit Mr. M. zusammen gebaut hatte. Für eine Sekunde starrte Thomas es an, dann hob er die Schultern und stopfte den Müllbeutel in die Tonne. Offensichtlich hatte Mr. M. endlich die traurige Wahrheit akzeptiert: Dieses Vogelhäuschen war eine einzige Katastrophe.
Thomas verschloss sorgfältig die Mülltonne und ging durch den Garten zurück zum Haus. Als er am Zaun vorbeikam, nahm er zwischen den Latten Bewegungen wahr. Geduckt schlich er sich näher heran und lugte vorsichtig hindurch. Mr. Johanson stand im wasserlosen Pool und zerschmetterte die Fliesen mit einem Hammer. Splitter flogen durch die Luft und streiften sein Gesicht, aber er bemerkte es nicht. Er drosch weiter mit dem Hammer auf sie ein. Er schluchzte.
»Sie haben das Türchen von dem Zaun nicht zugemacht.« Mrs. M’s Stimme flüsterte in Toms Ohr. Er glaubte, sein Herz spränge ihm vor Schreck aus der Brust. Wieso zur Hölle mussten die sich immer so anschleichen?
»Sie haben das Türchen aufgelassen, und das kleine Mädchen ist ins Wasser gefallen. Das hat die Polizei herausgefunden. Komm jetzt, Tommy. Lass dem armen Mann seine Privatsphäre.« Thomas folgte ihr, aber Mr. Johanson ging ihm nicht aus dem Kopf.
Betroffen ging er zum Schuppen hinüber, wo Mr. M. ihn mit einem neuen Projekt erwartete. Zum Glück war es kein weiteres Vogelhäuschen, sondern ein kleines Schmuckkästchen. Thomas seufzte gequält auf. Der Alte hatte doch überhaupt keine Ahnung vom Schreinern, warum sammelte er nicht einfach Briefmarken? Dabei musste man auch mit niemandem reden oder gar lächeln.
Er brauchte Thomas heute nicht mal. Geschickter, als Tom es je hätte vermuten können, fertigte der alte Mann das Kästchen ganz allein. Tom sollte ihm lediglich die Werkzeuge reichen und am Ende wieder einmal fegen. Thomas musste eingestehen, dass das Kästchen wirklich gut gelungen war und Mr. M. es erstaunlich schnell zusammengezimmert hatte.
›Ein Vogelhäuschen kriegt er nicht hin, braucht über eine Woche, das blöde Ding zusammenzukloppen, es sieht aus wie ein Haufen Scheiße, aber ein perfektes Schmuckkästchen kriegt er in vier Stunden hin?‹
Perplex sah er dabei zu, wie Mr. M. ein Symbol in den Deckel schnitzte, das er schon einmal gesehen hatte. Es war eine Spirale. Thomas hatte keine Lust, ihn zu fragen, was das zu bedeuten hatte. Er würde Mrs. M. danach fragen. Und er würde Samstag in der Nacht hier verschwinden, entschied er. Samstags waren die Straßen nicht so leer. Er konnte vielleicht jemanden finden, der ihn mitnahm, bevor die M’s überhaupt merkten, dass er nicht mehr da war.
Allerdings hielten die M’s ihn bis dahin ziemlich auf Trab. Tom war schon ein bisschen angepisst deswegen. Das Schmuckkästchen wurde liebevoll eingeölt, poliert und von Mr. M. feierlich in den Keller getragen. Er hielt es so ehrfurchtsvoll, als seien die Kronjuwelen von England drinnen. Dann befahl er Thomas, ihm bei der Beseitigung von etwas Schimmel im Bad zu helfen. Die Verandatür hing nur noch an einer Angel und musste repariert werden. Dann bauten sie noch ein Regal, das aussah wie der noch schiefere Turm von Pisa. Für die Videokassetten in seinem Zimmer, wie Mr. M. Thomas erklärte. Der fand kaum noch Zeit, überhaupt über seine Flucht nachzudenken.
Es war schon Freitag, als Mr. M. mit einem geliehenen Anhänger ankam und Thomas und seiner Frau erklärte, dass ein großer Flohmarkt am Sonntag stattfinden sollte.
»Ich weiß, dass du nicht mitkommen und uns beim Verkaufen helfen kannst«, murrte er in Richtung Thomas, »aber du wirst mir doch wohl helfen, die Kartons in den Anhänger zu verladen, oder?«
»Klar«, mampfte Thomas und wandte sich wieder seinen Koteletts zu. Die Portionen waren wieder größer geworden, und er konnte sich einfach nicht dazu durchringen, das Essen verkommen zu lassen. Seit er bei den Ringers gelebt hatte, war es ihm einfach unmöglich »Nein« zu den köstlichen Mahlzeiten zu sagen, die Mrs. M. für ihn zubereitete. Jedes Mal, wenn er Fleisch, Käsekuchen oder die übersüßte Limonade hinunterschluckte, schienen Kellys vorwurfsvolle Augen zu verblassen.
Sein voller Magen gab ihm ein Gefühl der Sicherheit, und Mrs. M’s Kühlschrank ließ ihn nie im Stich. Die Speckrollen, die ihm erst hier gewachsen und dann während seiner langen Krankheit beinahe vollständig wieder verschwunden waren, kamen zurück. Seine T-Shirts spannten über der Wampe, die sich immer weiter nach vorne schob. Mrs. M. war entzückt darüber, dass Thomas in wenigen Wochen über sieben Kilo zugelegt hatte.
»Es wird genügen«, frohlockte sie, und sah dabei wie eine glückliche kleine Eule aus. Thomas fand eher, dass er langsam wie Pete auszusehen begann, aber es grauste ihm bei dem Gedanken, mit Mrs. M. darüber zu reden.
›Nächste Woche bin ich ja sowieso nicht mehr hier‹, dachte er und verschlang die Eiscreme, die Mrs. M. zum Nachtisch servierte. Sie lächelte zufrieden und bot ihm noch mehr Sahne an, und Thomas wagte nicht abzulehnen.
Den ganzen Freitag über war Mrs. M. fleißig in der Küche. Wann immer Tom hineinsah, hoppelte sie zwischen Tisch und Herd hin und her, schnippelte und raspelte, wühlte in Schubladen herum, würzte und summte. Sobald er damit fertig war, mit Mr. M. den Anhänger zu beladen, holte sich Thomas ein Glas Limonade aus dem Kühlschrank und sah ihr eine Weile zu. Mrs. M. hatte damit aufgehört ihm zu sagen, wie schlecht Limonade für seine Gesundheit war und schüttete sogar noch mehr Zucker hinein als zuvor.
Mit einem erschöpften Stöhnen ließ sich Thomas auf einen Stuhl fallen und sah wieder einmal auf die gestickten Wandbilder mit den Sprüchen. Es waren drei: Neben »Ohne Agonie erhöhst Du Dich nie« hingen »Hölle und Herd sind Goldes wert« und »Unbarmherzigkeit zu jeder Zeit«. Die M’s hatten wirklich einen herzigen Sinn für Humor.
»Was ist das, Ma? Es riecht gut«, nahm er nach einer Weile das Gespräch wieder auf, das wegen Mrs. M’s Konzentration und Hingabe an ihre Kochkünste schnell ins Stocken geraten war.
»Das ist eine spezielle Marinade für morgen Abend.«
»Morgen Abend? Was passiert denn da?«, fragte er nervös, immerhin würde er sich morgen mitten in der Nacht absetzen.
»Morgen werden du, George und deine gute alte Ma ein Barbecue veranstalten. Um den Vollmond zu feiern. Und deine Wiedergeburt.«
»Meine was?«, fragte er verdutzt. Was hatten die vor? Ihn zu taufen? Es gab nicht eine Bibel im Haus, nirgendwo hing ein anklagendes Kreuz, also hatte er angenommen, die M’s wären nicht besonders religiös. Er hatte das gemocht. Nachdem er seine Eltern verlor, hatte Thomas auch seinen Glauben an Gott verloren. Und in seinen Pflegefamilien hatte er ihn nun wirklich nicht wiedergefunden. Und jetzt fand er heraus, dass die M’s doch religiös waren und ihn bekehren wollten?
»Du, George und ich werden zu einer Einheit, Tommy. Du hast uns alles erzählt, was du getan hast, und wir verstehen, was in diesem Geschäft passiert ist. Es war nicht deine Schuld. Du hattest dich nur verlaufen, das war die schlechte Gesellschaft. Dieser Juan hat dich beeinflusst. Aber du bist im Grunde ein guter Junge. Du gehörst nun zu uns, als wären wir blutsverwandt. Wir lieben dich, Tommy, und wir wollen wie eine Familie feiern. Klingt das nicht wie eine gute Idee?« Sie sah so froh aus, dass Thomas nur nicken konnte. Es war gar nicht mal so übel, überlegte er. Wenn sie viel aßen, würden sie später schlafen wie ein Stein. Außerdem konnten Tage vergehen, bis er wieder etwas zu Essen bekam. Er sollte soviel essen wie nur möglich.
Mrs. M. gab Rotwein, Kräuter, Öl und Gewürze in einen großen Topf. Darin würde sie das Fleisch über Nacht einlegen. »Es wird morgen köstlich sein«, versicherte sie.
»Was ist das denn, Ma?« fragte Tom und hielt ihr ein paar Kräuter hin.
»Das ist Thymian, Lieber. Fleisch taugt nicht ohne Thymian.« Sie gluckste vor sich hin.
Samstagmorgen stieg Thomas zugleich deprimiert und erwartungsvoll aus dem Bett. Er wollte eigentlich nicht weg von hier, und fragte sich, ob es nicht doch besser wäre zu bleiben. Mrs. M. log, na schön. Vielleicht wurde sie nach Petes Tod zu einer notorischen Lügnerin. Ihr Märchen über Pete und Mrs. Johanson ließ ihn nach wie vor grinsen. Warum sollte sie nicht hier und da mal lügen? Er selbst hatte seinen echten Nachnamen verschwiegen und behauptet, er habe eine Schwester. Das stempelte ihn genauso zum Lügner.
Mrs. M. brauchte einfach etwas Aufmerksamkeit, das war alles. Die bekam sie weiß Gott nicht von ihrem Mann. Die M’s waren zwei harmlose alte Eremiten, Tom konnte hierbleiben und endlich ein echtes Zuhause haben. Wenn er von hier verschwand, würde man ihn innerhalb weniger Tage fassen, und dann ging er für lange Zeit in den Knast.
›Ich entscheide mich später‹, dachte er erleichtert.
Thomas nahm eine lange Dusche, zog sich an und ging nach unten. Seine Jeans wurden allmählich eng, dabei war es schon das zweite Paar, das Mrs. M. ihm gegeben hatte. Er zog eine Grimasse und suchte nach den beiden. Er fand sie in der Küche vor, und sie strahlten um die Wette.
»Guten Morgen, Tommy!«, rief Mrs. M. und umarmte ihn so herzlich, als habe sie ihn seit Wochen nicht mehr gesehen. Ihr Mann tat dasselbe. Thomas starrte ihn verwundert an. Mr. M. lächelte noch immer wie ein Barracuda mit schlimmer Verstopfung, aber seine Umarmung kam von Herzen. Er ließ Thomas los und wuschelte ihm sogar noch durchs Haar. ›Die Wunder nehmen kein Ende‹, dachte Thomas und Tränen ließen ihn blinzeln. Der Gedanke, die M’s zu verlassen, brach ihm das Herz. ›Ich kann das nicht.‹ Er wusste, er würde doch bleiben.
Mrs. M. setzte ihm wieder Pfannkuchen vor die Nase, aber die Portion war erheblich kleiner als sonst.
»Wir werden ja heute grillen, also sollten wir nicht jetzt schon den größten Hunger stillen«, reimte sie ungeschickt und lachte herzlich. Mr. M. und Thomas kicherten. Tom hatte die beiden noch nie so übermütig gesehen, und er fand es wunderbar.
›Sie haben mich tatsächlich als ihren Sohn angenommen.‹ Es berührte ihn tief. Keine seiner Pflegefamilien hatte sich je groß um ihn gekümmert. Denen war es immer nur um das Geld vom Staat gegangen. Jetzt wurde er aufrichtig geliebt. Die Atmosphäre hier in der Küche war so herzlich und gemütlich, dass er sich nicht vorstellen konnte, dies wieder gegen die Gefahren, die Herzlosigkeit und Kälte da draußen einzutauschen.
Während Tom all diese Gedanken durch den Kopf schossen, und er seinen Entschluss zu gehen, immer lächerlicher fand, las der alte Mr. M. ihm gegenüber Zeitung. Auf einmal schüttelte er angewidert den Kopf.
»Stimmt was nicht, Lieber?«, fragte Mrs. M. besorgt. Sie rührte den Nudelsalat durch und fügte noch etwas Salz hinzu.
»Irgendein Kerl hat einen anderen Mann zu sich eingeladen, ihm dann seinen Lebensspender abgeschnitten, und ihn gegessen! Kaum zu glauben!«
Mrs. M. gab einen angeekelten Laut von sich. »Es gibt wirklich kranke Menschen da draußen«, seufzte sie, und ihr Mann nickte zustimmend.
Nach dem Frühstück machte Tom den Abwasch, während Mrs. M. weiterhin das Barbecue vorbereitete. Das Abwaschen gab Thomas noch mehr das Gefühl, hierhin zu gehören. Er unterhielt sich angeregt mit Mrs. M. und es schien ihm, als würden ihm die Worte nur so aus dem Mund purzeln. Das, so wusste er, würde der schönste Tag seines Lebens werden.
Die Sonne schien warm in die Küche und Tom wünschte sich, er hätte ein Paar Shorts statt der Jeans. Er schwitzte wie ein Schwein. Die M’s liebten den Sommer, die Grillsaison, aber der Herbst gefiel ihnen sogar noch besser.
Vor ein paar Wochen hatte sie ihn erzählt, dass sie jeden Herbst in die Stadt zurückkehrten, in der sie früher lebten. Nach Sharpurbie. Es hatte eine große Sehnsucht in ihrer Stimme gelegen.
Sharpurbie? Thomas wusste, er hatte diesen Namen schon einmal gehört, konnte sich aber nicht daran erinnern, wann und in welchem Zusammenhang.
»Aber warum im Herbst? Warum fahrt ihr nicht auf einen schönen Sommerurlaub dorthin?«
»Wir lieben den Herbst, und Sharpurbie ist einfach wundervoll im Oktober. Dann ist auch ein riesiger Jahrmarkt. Und Herbst ist die Jahreszeit des Verfalls und der Melancholie. Das Laub nimmt eine so schöne Farbe an, wenn es stirbt. Es ist beinahe so, als ob es Schönheit nur durch den Tod erringen könnte«, hatte sie ihm mit einem wohligen Seufzen geantwortet, während Tom sie nur dümmlich anglotzte und kein Wort verstand.
»Melancholie, Ma?« Mrs. M. starrte weiter aus dem Fenster. Ihre Augen waren träumerisch in die Ferne gerichtet gewesen. Es hatte gerade geregnet, ein schöner, warmer Frühlingsregen. Zuerst hatte Thomas geglaubt, sie habe ihm nicht zugehört, aber auf einmal sagte sie etwas, das ihm Eiseskälte durch den ganzen Körper jagte.
»Ziehe niemals die Melancholie in Zweifel, die im Regen wohnt, der an den Fenstern herunterströmt wie die Tränen der Verdammten.«
Thomas dachte jetzt über diesen merkwürdigen Satz nach, und plötzlich standen ihm Tränen in den Augen. Er bekam überall Gänsehaut und schwarzes Entsetzen breitete sich in seiner Brust aus. Da war etwas, das sein trauerndes Herz bereits wusste, sich aber seinem Verstand entzog.
Mr. M. brachte den Anhänger dorthin, wo der große Flohmarkt stattfinden sollte. Er würde dort die Kartons ausladen und in einer Garage verstauen, die sie für Gelegenheiten wie diese gemietet hatten.
»Flohmärkte sind unser Hobby, Lieber«, hatte Mrs. M. Tom an dem Tag erzählt, als ihr Mann Thomas um Hilfe bat. »Es macht so viel Spaß, mit einem leeren Anhänger und einer vollen Brieftasche nach Hause zu fahren! Vielleicht kannst du uns ja eines Tages begleiten.« Er hatte ihr zugestimmt und war sich wie ein Idiot vorgekommen. Da schlich er im dunklen Keller herum wie ein Einbrecher, durchwühlte Kartons, und zwei Tage später lud er sie auf einen Anhänger. Je mehr er darüber nachdachte, desto dümmer erschien Thomas die Sache. Er schüttelte den Kopf, um ihn wieder klar zu bekommen, und fragte Mrs. M. nun, ob er ihr helfen könnte.
»Du kannst später den Tisch decken, aber im Moment gibt es nichts zu tun. Du kannst dich ja oben etwas ausruhen, oder einen von Petes Videofilmen ansehen.«
›Nein, danke‹, dachte er, stimmte ihr aber zu. Stattdessen konnte er ja das Geld zählen, das er versteckt hatte, und es für alle Fälle in seiner Hosentasche verstauen. Aber er bezweifelte sehr, dass er später aus dem Fenster steigen und abhauen würde. Nein, er ließ das Geld besser dort, wo es war.
Er trollte sich die Treppe hinauf und bemerkte, dass zum ersten Mal die Tür vom Schlafzimmer der beiden offenstand. Tom linste neugierig hinein. Das Schlafzimmer der M’s war sehr spartanisch eingerichtet. Zwei Einzelbetten standen in den entferntesten Ecken des Raumes. Sie standen so weit auseinander, dass man ohne weiteres einen Lastwagen dazwischen hätte parken können. Das Zimmer schien ihm »Kein Sex!« entgegen zu schreien.
Thomas schlich sich zu einem der Kleiderschränke und öffnete ihn. Mrs. M’s Kittelschürzen waren darin, die mit dem hässlichen Blümchenmuster, ihre Kochschürzen – »Küss den Koch!« stand auf einer, und Thomas grauste es ohne erkennbaren Grund – und einige schwarze Trägerkleider und weiße Blusen, sorgfältig mit Plastikfolie bedeckt. Thomas runzelte die Stirn. Was war so besonders an den Kleidern und Blusen, dass man sie so schützen musste? Er schloss leise die Tür des Schranks und durchquerte den Raum. Jetzt würde er sich endlich mal das zweite Badezimmer ansehen, das sich an das Schlafzimmer der M’s anschloss und das er noch nie hatte betreten dürfen. Er fand das ziemlich bescheuert. Es war ihr Bad, ihr privates Reich, na schön. Trotzdem fand er das übertrieben und es war komisch, dass es nur den Zugang durch das Schlafzimmer hier gab.
Drinnen sah er, dass es keineswegs so war: Es hatte eine zweite Tür vom Flur hergegeben, aber jemand hatte sie entfernt und das entstandene Loch in der Wand zugemauert. Es sah wie einer von diesen Do-it-yourself-Jobs aus, verbrochen von Mr. M. Er hatte sich nicht einmal die Mühe gemacht, die rohen Ziegel zu verputzen.
›Wieso zum Teufel hat er das denn gemacht?‹, fragte Thomas sich wieder einmal. Er wusste, dass man vom Flur her nichts bemerkte. Da war nur dieselbe langweilige Tapete überall. Mr. M. hatte dafür gesorgt, dass niemand diese Tür von dort aus bemerken würde, aber nichts dafür getan, dass das Bad innen hübscher aussah. Warum nur hatte er diese Tür zugemauert?
Thomas sah sich um. Dieses Badezimmer sah genauso aus wie seins, es war nur etwas größer. Weiße Fliesen bedeckten die Wände, da waren ein altmodisches weißes Waschbecken und eine weiße Badewanne. Es dauerte ein paar Sekunden, bis ihm ein Unterschied auffiel: Hier gab es einen Spiegel und ein Medizinschränkchen.
Tom hob die Augenbrauen und öffnete das Medizinschränkchen. Viele Fläschchen mit Tabletten waren darin. Aber auch welche mit merkwürdig aussehenden Flüssigkeiten, eine davon grünlichschwarz und eher unappetitlich.
BRALOCOLIN stand auf einer der größeren Fläschchen, und Tom sah mit einiger Überraschung, dass die Schrift auf dem Etikett die Handschrift von Mrs. M. aufwies. Kein maschineller Aufdruck.
Bralocolin. Jeden Morgen kam Mrs. M. mit einer großen, weißen Kapsel und einem Glas ihrer weltberühmten Limonade zu ihm. Tom steckte sich die Tablette dann in den Mund, zog eine Grimasse, die sich vertiefte, sobald er einen Schluck Limonade nahm und seine Zähne um Gnade schrien.
Jeden verdammten Tag hatte er sie gefragt, ob er nicht langsam aufhören könnte, Bralocolin zu nehmen, und Mrs. M. schüttelte jedes verdammte Mal den Kopf. »Nein. Du hustest immer noch, Lieber.«
Diese Scheiß-Pillen. Sie machten Thomas müde und verursachten ihm Kopfschmerzen. Bisher hatte er angenommen, es seien einfach heftige Antibiotika, und nun sah er, dass Mrs. M. die Flasche selbst beschriftet hatte. Und überhaupt, was waren diese ganzen anderen Tabletten, in allen Regenbogenfarben und Größen?
›Es sind alte Leute‹, sagte er sich, ›die brauchen alles Mögliche für den Blutdruck, Magen, Gelenke …‹
Aber diese Fläschchen waren unbeschriftet, wie hielten sie die Medikamente bloß auseinander? Wieder schüttelte Thomas verwundert den Kopf und schloss das Medizinschränkchen. Bei einem beiläufigen Blick in den Spiegel erschrak er, als er seine aufgeblähten Wangen sah. Zudem war ihm ein tierisches Doppelkinn gewachsen.
›Oh mein Gott, ich bin fett!‹
Thomas war immer ein gut aussehender junger Mann gewesen, und nun fingen die Speckwülste, die er hier zugelegt hatte, an, sein Aussehen zu ruinieren.
›Oh Mann, ich sehe wie der Goodyear-Zeppelin aus!‹ Thomas berührte ungläubig seine aufgeschwemmten Wangen und warf einen Blick auf seine pummelige Hand. Er sah seine Hände jeden Tag, aber es war ihm bisher noch nicht aufgefallen, wie dick sie geworden waren.
›Ich bin ein Idiot. Ich habe es einfach nicht wahrhaben wollen. Ich muss aufhören, diesen ganzen fettigen Kram in mich reinzustopfen, den sie den lieben langen Tag für mich kocht. Ich muss mit ihr reden. Jetzt gleich.‹ Er wandte sich zum Gehen und blieb wie angewurzelt stehen.
›Nein. Geht nicht. Das Barbecue. Sie flippt aus, wenn ich ihr das Grillfest versaue. Ich rede morgen mit ihr.‹ Thomas seufzte erleichtert und ging in sein Zimmer. Wie immer gab es ihm ein komisches Gefühl, Petes ehemaliges Zimmer zu betreten. Auf den ersten Blick sah es wie ein Raum aus, der von einem Teenager bewohnt wurde, auf den zweiten jedoch nicht. Schon oft hatte Thomas die Schränke und Schubladen durchsucht und sich darüber gewundert, dass Petes Klamotten noch hier waren, aber die meisten anderen Sachen fortgeschafft worden waren. Und weshalb waren die ganzen persönlichen Dinge, wie Zeugnisse oder Schulbücher nicht mehr da, aber seine Videokassetten und Comics schon? Thomas konnte das nicht nachvollziehen.
›Wenn man jemanden verliert, den man liebt, wirft man entweder alles weg, um nicht ständig an den Menschen erinnert zu werden, den man so schrecklich vermisst. Oder man lässt das Zimmer so, wie es war, um sich immer an ihn erinnern zu können. Also wirft man entweder alles weg, oder nichts. Aber warum sollte man manche Dinge behalten, andere aber wegräumen? Oder haben sie seine Sachen etwa auf dem Flohmarkt verscherbelt? Wie könnte man das nur über sich bringen?‹ Thomas wusste es nicht. Er würde sie auch nicht danach fragen. Ein gemeiner Gedanke schoss ihm durch den Kopf: ›Das ist jetzt mein Zimmer. Pete ist weg und es gehört mir.‹
Es war gegen fünf Uhr nachmittags, als Mrs. M. nach ihm rief. Thomas war erstaunt, dass er eine volle Stunde geschlafen hatte. Er ging runter und nahm Messer, Gabeln und Teller entgegen. Er balancierte alles zur Veranda hinaus und deckte den Tisch. Mr. M. kam und schüttete sorgsam Kohle in den Grill, die er bald darauf entzündete. Er tätschelte seinem neuen Sohn die Schulter. Tom lächelte nach wie vor etwas unbehaglich, auch wenn die Geste ihn freute. Er entzog sich ihr trotzdem, indem er in die Küche ging, um das Fleisch zu holen. Aber Mrs. M. ließ das nicht zu. Thomas durfte lediglich den Korb mit dem Brot und die Schüssel mit dem Salat nehmen. Und noch eine Flasche Rotwein holen. Mrs. M. trug die große Platte mit hausgemachter Bratwurst, Koteletts, Schnitzel und Rippchen. Sie trug sie so feierlich vor sich her, dass es wie eine Opferungsprozession aussah. Die Hohepriesterin des Fleisches. Tom grinste.
Das Fleisch war köstlich. Thomas aß viel zu viel und stöhnte, als Mrs. M. ihm eine weitere Bratwurst anbot.
»Ich kann nicht mehr Ma, ich bin so voll, ich platze gleich.« Die beiden M’s kicherten. Thomas fand es etwas unsensibel, zu lachen und eine Party zu veranstalten, wo doch das kleine Mädchen nebenan gerade erst gestorben war. Aber Mrs. M. hatte ihm versichert, dass es schon in Ordnung ging.
»Mrs. Johanson ist in einer psychosomatischen Klinik, der Junge bei Verwandten, und Mr. Johanson ist gestern auch weggefahren. Er hatte zwei große Koffer bei sich. Ich bezweifle, dass er in nächster Zeit wieder auftauchen wird.« Ab und zu konnte Thomas nicht anders, als einen Blick rüber zu dem dunklen, stillen Haus zu werfen, und er erschauerte. Aber er wollte die fröhliche Stimmung nicht zerstören und wechselte das Thema:
»Warum habt ihr die Blumen im Beet ausgerechnet zu einer Spirale gepflanzt?« Er zuckte zusammen, dieses Thema würde die gute Stimmung erst recht zunichtemachen. Vor ein paar Wochen erst hatte Mrs. M. zu ihm gesagt, sie habe die Blumen in Erinnerung an Pete gepflanzt. Stille senkte sich herab. Dann begann Mrs. M. ernst zu sprechen: »Die Spirale ist ein Symbol für ewiges Leben, Tommy. Ich bin sicher, davon hast du schon einmal gehört.«
»Ja, Ma. Ich finde das sehr interessant.« Mr. M. schnaubte verächtlich. Tom musterte ihn etwas erschrocken. Mrs. M. sprach ungerührt weiter:
»Ja, das ist es wirklich. Die Spirale repräsentiert Vermehrung, das heilige Geschlecht, den Lebensspender. Die Spirale selbst ist rund wie die Gebärmutter, welche Leben und Lebenskraft hervorbringt. Die Spirale steht auch für Leben, Tod und Wiedergeburt.« Mr. M. nickte langsam und warf einen gedankenvollen Blick hoch zum Vollmond, der auf sie herab zu scheinen begann.
»Tja«, sagte Mrs. M. mit normaler, munterer Stimme, bevor Thomas irgendetwas sagen konnte. »Wir sollten den Tisch abräumen und wieder reingehen. Es wird langsam spät. Aber zuerst«, sie erhob ihr Glas, »stoßen wir an.« Auch Mr. M. und Thomas hoben ihre Gläser, Tom etwas träger als die beiden.
»Auf Tommy, der heute wiedergeboren wurde. Dies ist ein ganz neues Leben. Prost!« Sie alle leerten ihre Gläser. Thomas musste sich zusammennehmen, um sich nicht zu übergeben. Das Essen war lecker gewesen, aber der Wein hatte einen furchtbaren Nachgeschmack. Irgendwie nach Chemikalien, als wäre Bralocolin darin, und wie Erde, sauer und süßlich zugleich. Thomas war froh, dass der Scheiß jetzt endlich weg war. Den ganzen Abend hatte er nur am Wein genippt, aber jetzt hatte er wohl oder übel zusammen mit dem fröhlichen Paar das Glas leeren müssen.
Wieder einmal wurde Tom von beiden M’s umarmt. Dann zog Mrs. M. fünf Zehndollarnoten aus ihrer Schürze und überreichte sie ihrem Gatten, der sie in seine Hosentasche stopfte. Thomas fragte sich, was das nun wieder zu bedeuten hatte, aber zuckte nur müde mit den Schultern. Alles, was er jetzt noch wollte, war in sein Bett gehen und schlafen.
Die M’s sagten ihm, er könne ruhig sitzen bleiben, und räumten den Tisch selbst ab. »Du hast zu viel gegessen, Tommy.« Thomas nuschelte, dass er gar nicht soviel gegessen habe, es wäre nur, dass ihm schwindelig sei, als habe er zu viel Wein getrunken.
»Na, dann hattest du eben zu viel Wein, Tommy.« Sie nahm den Korb mit den Überresten vom Brot an sich.
»Nein, Ma …«, brachte er noch hervor. Seine Zunge wollte ihm nicht mehr gehorchen. Toms Kopf fiel auf die Seite. Ihm war entsetzlich schwindelig. Die Veranda begann sich langsam um ihn zu drehen wie ein Karussell. Sein Bewusstsein trübte sich mehr und mehr. Dieser verdammte Wein. Thomas verdrehte die Augen, bis er die M’s sehen konnte. Sie lächelten nicht mehr. Sie sahen wie zwei Raubtiere aus, die sich bereit machten, sich auf ihn zu stürzen. Ihre verengten Augen glitzerten bösartig. Mr. M. fletschte die Zähne.
›Wiedergeboren, am Arsch‹, dachte Thomas noch und verlor das Bewusstsein.