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Nachdem er aufgegessen hatte, führte Mrs. M ihn wieder nach oben. Sie öffnete die Tür neben dem Badezimmer und drängte Thomas, sich etwas Ruhe zu gönnen. Thomas war zu erschöpft sich dagegen aufzulehnen, obwohl er ihr am liebsten gesagt hätte, dass er gehen müsse. Es war gefährlich, sich irgendwo für längere Zeit aufzuhalten. Aber er brauchte etwas Schlaf, da hatte sie völlig Recht.

Er dankte ihr wieder und ging einige Schritte in das Schlafzimmer. Mrs. M wünschte ihm eine gute Nacht und schloss die Tür. Thomas sah sich in dem halbdunklen Zimmer um. Die Vorhänge waren zugezogen, daher konnte er außer dem Bett nicht viel erkennen. Thomas zog den Bademantel aus und legte sich hin. Es war herrlich, sich mal wieder in einem richtigen Bett auszustrecken. Es war schon über eine Woche her, dass er in einem Bett geschlafen hatte.

Normalerweise brauchte Tom einige Zeit, sich an eine neue Umgebung zu gewöhnen. Aber jetzt fiel er innerhalb weniger Minuten in den tiefen Schlaf völliger Erschöpfung. Sobald er anfing zu schnarchen, öffnete Mrs. M vorsichtig die Tür und lugte herein. Als sie sich vergewissert hatte, dass er tief und fest schlief, machte sie die Tür wieder zu und der Schlüssel bewegte sich leise klickend im Schloss.

Die Sonne strahlte durch die Vorhänge, als Thomas wieder wach wurde. Das Haus war sehr still. Wahrscheinlich lagen die beiden alten Leute noch im Tiefschlaf. Thomas öffnete die Augen und sah ein Modellflugzeug an der Decke hängen. Er blickte sich um.

Dies hier war das Zimmer eines Jungen, so um die dreizehn Jahre alt, schätzte er. Damit kannte er sich aus. Er hatte eine Menge dieser Zimmer bei seinen Pflegefamilien gesehen. Die eigenen Kinder waren meist gut gepflegt und verwöhnt. Sie hatten große, schön eingerichtete Zimmer mit viel Spielzeug, und voll mit Konsolenspielen und dem allerneuesten Computerkram. Die Pflegekinder mussten sich meistens mit sehr viel kleineren und äußerst hässlichen Zimmern abfinden, in denen sie zu zweit oder manchmal auch zu viert schliefen und die nur zweckmäßig möbliert waren. Die Schränke stammten oft vom Sperrmüll und fielen fast auseinander.

Dieses Zimmer hier sah zwar so aus, als ob ein Kind hier lebte, das über alles geliebt wurde, aber es fühlte sich nicht so an. Es erschien eher leer unter all den schönen Dingen. So leer wie die Zimmer, in denen er als Kind hatte hausen müssen. Es hingen keine Bilder an der Wand, auch keine Poster von Popstars.

Kalt.

Seelenlos.

Thomas stützte sich auf seine Ellenbogen und ächzte. Er hatte einen furchtbaren Muskelkater von seinem langen Marsch auf der Straße. Er zwang sich aufzustehen. Stöhnend humpelte er zu einem Schränkchen, öffnete zwei Türen und war angenehm überrascht, einen Fernseher vorzufinden. Auch ein alter Videorekorder versteckte sich hier drinnen. Der Fernseher war allerdings nicht an eine Antennenbuchse angeschlossen. Nur an den Videorekorder. Auf einem Regal unter dem Videorekorder fand er einen ganzen Stapel Kassetten, alle ordentlich beschriftet. »Star Wars« stand auf der ersten, die er sich ansah. Das Cover war liebevoll mit Bildern von Luke Skywalker, Darth Vader und Chewbacca beklebt worden, wahrscheinlich ausgeschnitten aus einer Programmzeitschrift.

Thomas glaubte jetzt, dass der Junge, der hier wohnte, etwas älter war. Wahrscheinlich zwischen fünfzehn und sechzehn. ›Sie haben also Enkelkinder‹, dachte er. Vielleicht war der Eindruck, dass dieser Raum seelenlos und kalt war, falsch gewesen. Tom durchforstete die anderen Filme, die der Enkel sammelte. Alle »Indiana Jones«-Filme, »Ghostbusters«, »Stirb langsam«, »The Crow«, und dann stieß er auf die erste Kassette, deren Beschriftung nicht ganz so sauber war wie die der anderen. »Das Schweigen der Lämmer« hatte darauf gestanden, bevor jemand die Schrift mit dickem, schwarzem Filzstift durchgestrichen hatte. Die Bilder von Jodie Foster und Anthony Hopkins waren noch immer auf der Kassette, aber auf dem Aufkleber stand jetzt »Pete mit 17«.

Thomas hob die Augenbrauen und legte die Kassette beiseite. Er nahm eine, die mit »Der merkwürdige Mann« beschriftet war, und schob sie mit einem schuldbewussten Grinsen in den Rekorder. Soweit er sich erinnern konnte, war das ein Film über einen Kerl, der sich in eine Nutte verliebte. Keine romantische Komödie, sondern ein blutrünstiges Drama. Er konnte sich den Film jetzt antun, bis seine Gastgeber aufwachten.

›Kelly liebte diesen Film‹, dachte er, und Toms Herz begann zu rasen. Nichts auf dieser Welt würde je diesen Stachel der Schuld mildern können, der ihm jedes Mal durchs Herz fuhr, wenn er an sie dachte. Sie hatte immer Filme gemocht, die einen gewissen Anspruch hatten. Für Tom war »Der merkwürdige Mann« immer eine Art Softporno gewesen, aber Kelly hatte ihn auf die tragischen Charaktere und die brillanten Schauspieler aufmerksam gemacht. Thomas hatte vorgegeben, zu verstehen was sie meinte, und sah ihn sich mit Kelly zusammen an. Er wartete auf die anrüchigen Stellen, während Kelly die Bedeutung des leidenschaftlichen Verkehrs erklärte, den der Mann mit der Nutte hatte, und wie besessen er von ihr war. Thomas konnte damit nichts anfangen. Er trank ein Bier und aß Popcorn, während Kelly mit kummervoller Miene zusah, wie die betrogene Ehefrau Selbstmord beging, nachdem sie ihren Mann umgebracht hatte.

Thomas legte sich wieder aufs Bett und sah sich den Film an. ›Langweilig wie immer‹, dachte er. Als die erste Sexszene anfing, legte er den Superman Comic beiseite, den er zu lesen begonnen hatte, und sah genau hin. Alma Hath und Stephen Grimbo, beide berühmte Schauspieler, küssten sich. Plötzlich blitzte es, der Bildschirm wurde für eine Sekunde grau, und als der Film weiterlief, lagen Grimbo und Hath im Bett und redeten. Thomas starrte dümmlich auf den Bildschirm. Vielleicht war die Kassette alt, bestimmt sogar. Wer hat denn heutzutage noch Videos? Das passiert, wenn Videokassetten alt werden. Aber trotzdem …

Er legte den Comic beiseite und sah genauer hin. Hath und Grimbo begrapschten sich in einer dunklen Straßenecke. Ein Blitz, ein grauer Bildschirm, und Stephen Grimbo war wieder in seinem Hotelzimmer.

Thomas musste lachen. Er konnte nicht anders. Jemand hatte all die kleinen, schmutzigen Szenen aus dem Film herausgeschnitten. Waren alle Filme zensiert? Hatte Mr. M oder die niedliche Mrs. M auch die Gewaltszenen aus den Thrillern und Actionfilmen entfernt? Hatten sie ihre Schere bei der Szene in »Ein Juwel für Kali« verwendet, in der ein Priester der Göttin Kali junge Männer auf dem Scheiterhaufen verbrannte? Er musste es wissen. Thomas sprang aus dem Bett und steckte die Kassette in das Gerät. Als er die Stelle fand war er erstaunt festzustellen, dass sie noch im Film war. ›Gab es da nicht auch eine Szene, in der der Hohepriester beinahe von einer blonden Sexbombe verführt wird?‹, fragte er sich. Er spulte vor, bis er sie fand. Tom brüllte vor Lachen, als die beiden sich küssten, in den Raum stolperten und dann hinter dem vertrauten Blitz verschwanden.

›Was zum Teufel ist denn mit denen los?‹ Er konnte es kaum glauben. Es kam nicht mal zum Sex in dem Film, trotzdem hatte jemand, wahrscheinlich Mr. M, mindestens fünf Minuten weggeschnitten, um auf Nummer sicher zu gehen. Absolut verrückt.

Plötzliche Schritte vor seiner Zimmertür ließen ihn erschrocken zusammenfahren. Thomas schaltet blitzschnell den Fernseher und den Videorekorder aus, schlüpfte zurück ins Bett, und griff nach seinem Comic. Die Tür öffnete sich und Mrs. M stand auf der Schwelle. Sie lächelte.

»Was ist denn so komisch?« Sie trug ein Tablett mit einem Teller voller Waffeln mit Ahornsirup und einem Glas Orangensaft.

»Oh, nur etwas in dem Comic hier«, erwiderte er mit einem nervösen Grinsen. Thomas hoffte, dass sie das jetzt nicht überprüfen würde. In dem Heft hatte ein brutal aussehender Gangster gerade ein Wohnhaus in die Luft gesprengt.

»Ach, ihr Jungs seid alle gleich. Comics, Comics, Comics, den ganzen Tag«, schmunzelte Mrs. M. und zwinkerte ihm zu. Thomas grinste schuldbewusst. Und er fühlte sich wirklich schuldig. Das alte Mädchen hatte sich wieder einmal überschlagen, um ihm ein herrliches Frühstück zu zaubern, und er schnüffelte im Zimmer ihres Enkels herum. Wen interessierte es schon, dass sie Sex so abstoßend fanden, dass sie die ganzen Schmuddelszenen aus Petes Kassetten schnitten? Es war ihre Sache, nicht seine. Vielleicht hatte das etwas mit ihrem Glauben zu tun. Das musste man als Gast natürlich respektieren.

»Danke, Mrs. M. Das sieht toll aus.« Ein Strahlen glitt über ihre Züge.

»Genießen Sie Ihr Frühstück.« Und das tat er auch.

Nachdem er fertig war, zog Thomas sich den Bademantel wieder an und brachte das Frühstückstablett nach unten. Er hatte vor, nach seiner Kleidung zu fragen. Falls sie trocken sein sollte, würde er Mrs. M und ihrem komischen Kauz von Gatten danken und verschwinden. Die Polizei war höchstwahrscheinlich auf der Suche nach ihm, und er wollte das nette alte Ehepaar nicht in Schwierigkeiten bringen. Und ganz sicher wollte er nicht den traurigen, entsetzten und enttäuschten Ausdruck in Mrs. M`s Gesicht sehen müssen, wenn die Polizei ihr erzählte, was er getan hatte. So lieb und nett wie sie war, vermutete er, trat sie für Recht und Ordnung ein und würde nicht mal ein Stück Brot klauen, wenn sie am Verhungern war.

Thomas betrat die Küche und lächelte nervös, als er sah, dass nicht Mrs. sondern Mr. M sich dort aufhielt. Er saß am Tisch und las Zeitung. Stirnrunzelnd sah er davon auf. Thomas musste hart schlucken, als er in Mr. M`s grimmiges Gesicht sah. Auf einmal schien Mr. M aufzugehen, dass sein Gast vor ihm stand, und nicht ein Streuner, der auf seinen Persischen Teppich gemacht hatte. Er hob mühsam seine Mundwinkel.

›Meine Güte, versucht er wieder zu lächeln?‹, fragte sich Thomas. Er sah Mr. M in die Augen, die ihren kalten Ausdruck beibehalten hatten.

»Tut mit leid, Sie zu stören, Sir«, stammelte er. »Ich wollte nur das Tablett wieder zurückbringen.«

»Nur zu«, grunzte Mr. M. »Meine Frau ist im Garten, Sie können ihr beim Jäten helfen, sobald Sie das Geschirr abgewaschen haben.« Er wandte sich wieder seiner Zeitung zu. Thomas nickte. Das war das Mindeste, was er für die niedliche, fürsorgliche Mrs. M tun konnte. Er hatte allerdings nicht viel übrig für die Art und Weise, in der Mr. M ihn herumkommandierte. Hatte er noch nie von dem schönen Wort »bitte« gehört? Thomas wandte dem groben alten Sack den Rücken zu und machte den Abwasch. Dabei drehte er wie unter Zwang immer wieder den Kopf und sah in die rechte Ecke der Küche. Ein enormer Kühlschrank stand dort, er hatte noch nie so etwas wie diesen Kühlschrank gesehen. Sah wie eine Spezialanfertigung aus.

›Warum brauchen zwei alte Leute so einen riesigen Kühlschrank? Für Pete? Ist er bei den anonymen Essgestörten oder so was?‹

Er spülte die Pfannen und trocknete sie ab. Eine Viertelstunde später ging er in den Garten und sah Mrs. M dort in einem wunderschönen Blumenbeet knien. Er schlenderte zu ihr und wunderte sich, warum das Blumenbeet in einer so weit entfernten Ecke des kleinen Gartens prangte. Und warum sie so ein schönes Blumenbeet hatten, während das Gras so braun und vertrocknet war. Der Rasen war seit mindestens drei Wochen nicht mehr gemäht worden, und es war auch nirgendwo ein Rasensprenger zu sehen. Die M`s benutzen ihren Garten scheinbar nicht. Bestimmt waren sie zu alt für die harte Arbeit. Aber warum pflanzten sie dann überhaupt Blumen?

»Kann ich Ihnen helfen, Mrs. M?«, rief er fröhlich zu ihr hinüber. Sie wandte sich kichernd zu ihm um.

»Sie könnten die Blumen gießen, mehr nicht.« Tom drehte sich um und entdeckte eine alte Gießkanne. Er füllte sie und schleppte sie zu den blühenden Blumen hinüber. Er pfiff anerkennend durch die Zähne, als er sah, dass sie blau und weiß und in der Form einer Spirale gepflanzt worden waren.

»Das ist wirklich sehr hübsch«, lächelte er. Mrs. M senkte den Kopf. Sie sah auf einmal sehr traurig aus.

»Ja … na ja, bitte gießen Sie sie schnell, und dann sehen wir mal nach, ob wir nicht etwas zum Anziehen für Sie finden. Sie können nicht den ganzen Tag in diesem Bademantel herumlaufen, schon gar nicht hier im Garten. Sie werden sich erkälten, und was sollen die Nachbarn denken? Die sind sowieso viel zu neugierig.« Sie stand auf und streckte sich. Thomas blinzelte.

»Neue Klamotten? Aber … was ist denn mit denen passiert, die ich gestern anhatte?«

»Die sind an einigen Stellen völlig zerrissen, hatten Sie das nicht bemerkt? Und nass sind sie auch immer noch. Aber machen Sie sich keine Sorgen, ich bin mir sicher, dass da noch irgendwo ein Jogginganzug in Petes Schrank ist. Den können Sie tragen, bis ich Ihre Jeans wieder in Ordnung gebracht habe.«

»Das ist sehr nett von Ihnen, Mrs. M«, sagte Thomas nervös, »aber ich wollte eigentlich in etwa einer Stunde aufbrechen.« Er wischte sich den Schweiß von der Stirn der sich zu bilden begann, als Mrs. M ihn grimmig ansah. Ihr strahlendes Lächeln war verschwunden.

»Tja, wenn Sie unsere Gastfreundschaft nicht mögen, können Sie natürlich jederzeit gehen«, erwiderte sie steif und wandte sich ab. »Wir hatten gehofft, dass Sie noch ein paar Tage bleiben würden. George hat noch so viele Dinge im Schuppen zu tun, bei denen er Hilfe brauchen könnte. Und ich habe gerade angefangen, Bohnen zu backen. Wir sind alte, einsame Leute, wir brauchen nicht mehr so viel Essen. Aber ich kann sie ja auch die Toilette hinunterspülen, also machen Sie sich bloß keine Gedanken.«

»Oh, Moment, warten Sie«, stotterte Thomas erschrocken. »Ich wollte Sie nicht beleidigen, ich finde Ihre Gastfreundschaft ganz toll, bitte Mrs. M, seien Sie nicht böse auf mich!« Sie zögerte, drehte sich aber nicht zu ihm um. Alarmiert sah er, dass ihre Schultern bebten. Sie weinte mit gesenktem Kopf still vor sich hin.

»Mrs. M, bitte, ich bin nur irgendein Anhalter, ich hatte nicht erwartet, dass Sie so nett zu mir sind. Die meisten Leute nehmen einen nur ein Stück mit und setzen einen irgendwo ab. Niemand ist in meinem ganzen Leben so nett zu mir gewesen! Bitte weinen Sie doch nicht!« Er streichelte ungeschickt ihre Schultern und fühlte sich wie ein komplettes Arschloch.

Mrs. M. hörte auf zu weinen, hob ihren Kopf und sah ihn an. Die Tränen strömten noch immer über ihre Wangen, und ihre Mundwinkel zitterten. Er umarmte sie, er konnte einfach nicht anders. Sie war so lieb und sah so traurig aus, und er brachte diese niedliche, kleine Eule zum Weinen. Sein Herz brannte vor Scham. Der verletzte und enttäuschte Ausdruck in ihren Augen war fast derselbe, den er in Kellys Augen gesehen hatte.

»Es tut mir so leid«, murmelte Thomas bedrückt. Er weinte beinahe selbst.

»Schon gut«, flüsterte sie, »lassen Sie uns hineingehen und eine große Schale Eiscreme essen.« Er stimmte sofort zu. Er hätte allem zugestimmt, damit sie mit dem fürchterlichen Weinen aufhörte.

»Natürlich bleibe ich. Und ich werde auch Ihrem Mann helfen.« Der Gedanke daran ließ Thomas erschaudern. Als er ihr in die Küche folgte, fragte er sich, wie das alles so schnell gehen konnte. Er war doch nur ein Anhalter, und plötzlich war er ihr Gast? Ein paar Tage bleiben?

Wie würde er aus der Sache wieder rauskommen? Er fing an, sich große Sorgen zu machen. Sie waren einsam, hatte die alte Dame gesagt. Was wollten die denn tun, ihn behalten? Etwa, bis Pete aus dem College zurückkam? Oder war er vielleicht in der Armee? Thomas wollte kein Lückenbüßer sein. Er konnte das Loch im Herzen der M`s nicht ausfüllen, das Pete hinterlassen hatte – und wollte es auch nicht.

Im Zentrum der Spirale

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