Читать книгу Die Fälle des Kommissar Morry - 10 legendäre Krimi Leihbücher in einem Band - Cedric Balmore - Страница 14

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Auf diese Nacht folgte ein grauer Oktobermorgen. Die Sonne war nicht imstande, das düstere Gewölk zu durchdringen. Auf den Straßen schwammen große Wasserlachen. In den Dachrinnen gluk- kerte das abfließende Regenwasser. Dieses monotone Geräusch war es, das Ralph Condray aus dem Schlaf weckte. Zunächst wußte er überhaupt nicht, wo er sich befand. Verständnislos musterte er das breite Sofa, auf dem er lag. Seine Blicke irrten forschend durch das fremde Wohnzimmer.

„Verdammt!“, murmelte er und griff mit beiden Händen an den dröhnenden Schädel. „Mir tut jedes einzelne Haar weh. Was ist denn nur in dieser Nacht geschehen?“

Nach zwei, drei Minuten kannte er plötzlich wieder alle Zusammenhänge. Der pochende Schmerz in seinem Kopf wäre noch zu ertragen gewesen. Aber der Verlust, den ihm diese Nacht gebracht hatte, wog viel schwerer. Schlagartig überfiel ihn wieder die bittere Erkenntnis, daß er vor einem Nichts stand. Er hatte alles verloren, was er besaß. Er hatte keinen Beruf, keine Wohnung, keine Freunde, keine Beziehungen. Was sollte aus ihm werden? Wie sollte er jemals wieder festen Fuß in dieser großen Stadt fassen. Er wußte noch nicht einmal, wovon er in den nächsten Tagen leben würde.

„Guten Morgen“, rief da eine dunkle Stimme mitten in seine bedrückenden Gedanken. „Wie geht es, James? Hast du gut geschlafen?“

„Ich heiße Ralph Condray, verstanden?“

„Ja, ja. Ich weiß schon. Leider vergesse ich deinen neuen Namen immer wieder. Der alte war mir viel geläufiger.“

Maud Ruby setzte ein Tablett auf dem Tisch ab und schenkte aus einer Kanne goldbraunen Tee in eine altertümliche Tasse. Ihre Bewegungen wirkten anmutig und reizvoll. Ihr Gesicht war rassig und apart wie stets, obwohl sie nur wenig geschlafen hatte.

„Was willst du nun tun?“, fragte sie mit scheuen Blicken. „Wirst du den Einbruch der Polizei melden?“

„Leider kann ich das nicht tun“, murmelte Ralph Condray verbittert. „Ich habe die Diamanten nicht ganz legal eingeführt. Ich hätte sie verzollen müssen. Aber da man mein Gepäck gar nicht untersuchte, glaubte ich, mir diese Ausgabe ersparen zu können.“

„Laß doch diese Lügen“, sagte Maud Ruby angewidert. „Vielleicht würde dir die Polizei dieses Märchen glauben. Aber mich kannst du nicht täuschen. Ich weiß, woher diese Diamanten stammen.“

Sie hatte kaum ausgesprochen, da läutete es an der Wohnungstür. Schrill und gellend hallten die Glockentöne durch die Wohnung. Das Trommeln zweier Fäuste schloß sich an.

„Na, der hats aber eilig“, brummte Ralph Condray verwundert.

„Bekommst du öfter solch frühen Besuch?“

Maud Ruby fand keine Zeit zu einer Antwort. Sie hastete mit nervösen Schritten auf den Korridor hinaus. Ihre bebenden Hände lösten die Sperrkette. Stumm ließ sie ihren Besucher eintreten. Es war Wachtmeister Swan. Er kam unmittelbar hinter ihr in das Wohnzimmer. Scharf und mißtrauisch blickte er auf Ralph Condray. Verächtlich richteten sich seine Augen dann auf Maud Ruby.

„Sie wechseln Ihre Liebhaber anscheinend wie andere Menschen das Hemd“, sagte er schroff. „Dieser Mann ist Ihr neuer Freund, he? Ich sehe, daß er die Nacht hier geschlafen hat.“

„Was geht das Sie an?“, fragte Maud Ruby trotzig. „Was wollen Sie überhaupt schon wieder? Sie waren doch erst gestern Abend da.“

Wachtmeister Swan legte eine wirkungsvolle Kunstpause ein. Schnuppernd sog er den verlockenden Teeduft in die Nase. Seine Blicke gingen rasch hin und her.

„Was wird Mack Rupper sagen, wenn er Ihrem neuen Freund hier begegnet?“, meinte er spöttisch. „Glaube nicht, daß er sich freuen wird.“

„Mack ist nicht mehr in London“, sagte Maud Ruby kühl. „Jetzt können Sie es ruhig wissen. Er ist längst außer Landes. Er fuhr gestern mit dem Nachtexpreß nach Dover. Jetzt dürfte er schon in Belgien sein.“

„Täuschen Sie sich auch nicht?“, fragte Wachtmeister Swan mit ironischer Stimme. „Wir von der Polizei sind anderer Meinung. Ihr werter Freund hat sich nämlich in der vergangenen Nacht einen neuen Mord geleistet. Hier, sehen Sie sich diese Patrone an! Sie kennen doch diese Dinger, nicht wahr?“

Maud Ruby verfärbte sich im Bruchteil einer Sekunde. Stockend und gehetzt brach der Atem über ihre Lippen. Furchtsam schielte sie zu der blitzenden Patrone hin. Sie sah auf den ersten Blick, daß die Spitze abgefeilt war. Sie erkannte auch das Kaliber und die plumpe Form des Geschosses. Es gab keinen Zweifel — solche Patronen hatte Mack Rupper verwendet.

„Diesmal war sein Opfer ein Sergeant von Scotland Yard“, sagte Wachtmeister Swan mit schneidender Schärfe. „Auf Mord an einem Polizisten steht der Galgen, Miß Ruby. Wissen Sie das?“

„ Ja, ich weiß es“, sagte Maud Ruby schaudernd. „Na also. Dann wissen Sie auch, was Sie zu tun haben, wenn Mack Rupper hier erscheinen sollte. Ich hoffe nicht, daß Sie diesen Mörder auch jetzt noch decken werden.“

„Nein, das werde ich nicht tun“, sagte Maud Ruby dumpf.

„Heißt das, daß Sie uns von seinem Auftauchen sofort Kenntnis geben werden?“

„Ja.“

„Es freut mich, daß Sie endlich zur Vernunft kommen“, erwiderte Wachtmeister Swan rasch. „Ich lasse Ihnen die Telephonnummer des Sonderdezernats hier. Ein Anruf genügt, verstanden? Zehn Minuten später sind wir hier.“

Maud Ruby nickte geistesabwesend. Ihre Blicke wanderten ängstlich von der Tür zum Fenster.

„Sind Sie absolut sicher, daß es wirklich Mack Rupper war, der diesen Sergeanten tötete?“, fragte sie zögernd. „Es wäre doch auch möglich, daß ein anderer . . .“

„Nein, ganz ausgeschlossen“, fiel ihr der Wachtmeister ins Wort. „Wir kennen die hinterhältige Arbeitsweise Mack Ruppers gut genug. Der Haß gegen die Polizei liegt ihm im Blut. Er kämpft verbissen gegen jeden, der eine Uniform trägt. Überdies ist es gerade Sergeant Waldram gewesen, der Mack Rupper zuerst auf die Schliche kam. Er riß ihm als erster die Maske vom Gesicht. Sein Tod war also längst beschlossene Sache. Er mußte sterben, weil Mack Rupper keine Verfolger in seiner Nähe brauchen kann. Wäre er wirklich geflüchtet, dann hätte Sergeant WaJdram nicht zu sterben brauchen.“

Auf diese Worte wußte Maud Ruby nichts zu erwidern. Sie starrte schweigsam vor sich hin. Sie sah nicht, daß Wachtmeister Swan seine Aktenmappe vom Tisch nahm und seine Handschuhe überstreifte. Sie bemerkte auch nicht, daß er sich mit kurzem Gruß verabschiedete und das Zimmer verließ. Es dauerte lange Zeit, bis sie wieder zur Besinnung kam. Sie trat ans Fenster und spähte hinunter auf die Straße. Ihre Blicke hefteten sich furchtsam auf die belebten Gehsteige.

„Was geschieht, wenn er wirklich wiederkommt?“, fragte sie beklommen. „Warum hat er dir denn diese ganze Komödie vorgespielt, wenn er noch immer in London ist. Er hat dich doch auf der Waterloo Station getroffen. Er hat dir die Schlüssel für meine Wohnung gegeben. Er ist gleich darauf durch die Sperre gegangen. Stimmt das?“

„Ja, das stimmt.“

„Aber der Wachtmeister behauptete doch eben das Gegenteil“, rief Maud Ruby erregt. „Nach seinen Worten muß Mack Rupper ganz in der Nähe sein. Vielleicht lauert er irgendwo drunten auf der Straße. Vielleicht meint er, daß ich ihn verraten hätte. Er wird sich an mir rächen wollen.“

„Unsinn!“, sagte Ralph Condray kopfschüttelnd. „Er wird sich hüten, diese Gegend wieder aufzusuchen. Er wird einen weiten Bogen um dieses Haus machen.“

Ihr Gespräch verstummte für eine Weile. Ralph Condray setzte sich an den Tisch und nahm sein Frühstück ein. Maud Ruby hatte nichts vergessen. Es gab Honig und gekochte Eier, Butter, Toast und Schinken.

„Woher hast du das alles?“, fragte Ralph Condray stirnrunzelnd. „Ich meine, wer bezahlt diese Dinge? Du verdienst doch nichts. Wie ich sehe, gehst du keiner Arbeit nach.“

„Ich weiß, was du denkst“, sagte Maud Ruby müde. „Aber sei beruhigt: das Geld stammt nicht von Mack Rupper. Ich habe es mir selbst verdient. Wie, das ist eine andere Sache. Du wirst dich hoffentlich hier nicht als Richter aufspielen wollen.“ Nach dem Frühstück ging Ralph Condray daran, seinen Koffer auszupacken. Die Anzüge, die Hemden, Krawatten und Schuhe waren unversehrt. Die Diebe hatten nur den Lederbeutel mitgenommen. Alles andere lag tadellos an seinem Platz.

„Ich komme nicht los von dem Verdacht, daß du die Diebe kennst“, sagte er nach einer Weile. „Mack Rupper hatte sicher einige Freunde, die ihn bei seinen Verbrechen unterstützten und ihm zur Flucht verhalfen, vorausgesetzt, daß er wirklich getürmt ist. Seine Freunde waren natürlicherweise auch deine Freunde. Vielleicht sind sie es auch heute noch. Wo sind diese Burschen anzutreffen und wie heißen sie?“

„Stell dich doch nicht so dumm“, zischte Maud Ruby aufgebracht.

„Du hast sie doch besser gekannt als ich. Früher hast du ganze Nächte mit ihnen zusammengesessen.“

„Ich habe es vergessen“, murmelte Ralph Condray mit gutgespielter Gleichgültigkeit. „Ich erinnere mich an keinen Namen mehr. Ich weiß auch nicht mehr, wo wir uns früher immer trafen.“

„In der Blauen Taverne“, sagte Maud Ruby zögernd. „Erinnerst du dich jetzt? Hope Bolton, Alban Volk und Bill Webster sitzen noch immer dort herum, obwohl seither sieben Jahre vergangen sind. Sie halten sich zäh am Leben. Sie haben immer Geld in der Tasche und waren bis zuletzt mit Mack Rupper befreundet.“

„Welche Geschäfte betreiben sie jetzt?“

Maud Ruby zuckte mit den Achseln. „Früher waren sie Zuhälter, das weißt du doch. Was sie jetzt machen, ist mir unbekannt. Frag sie doch selbst!“

„Das werde ich tun“, knurrte Ralph Condray ergrimmt. „Darauf kannst du dich verlassen. Ich ahne jetzt schon, daß sie sich von Diebstählen und Einbrüchen ernähren. Auf meine Diamanten scheinen sie nur gewartet zu haben. Es war sicher die fetteste Beute, die sie jemals in ihre Klauen bekamen.“

Wieder riß ihre Unterhaltung ab. Sie hatten sich im Moment nicht mehr zu sagen. Einer mißtraute dem ändern. Sie gingen sich scheu aus dem Wege. Während der nächsten Stunden verrichtete Maud Ruby gedrückt ihre Hausarbeit. Sie kramte in allen Zimmern herum. Sie kochte und wusch und bügelte. Sie stellte die ganze Bude auf den Kopf. Erst in der Abenddämmerung erschien sie wieder auf der Bildfläche. Sie hatte sich umgezogen und ihre Frisur geordnet. Ein buntes Seidenkleid legte sich straff um ihren biegsamen Leib. Den gebräunten Hals schmückte eine goldene Kette mit zierlichem Anhänger. Die Lippen waren sorgfältig nachgezogen.

„Was hast du vor?“, fragte Ralph Condray erstaunt. „Willst du noch nachträglich deinen Abschied von Mack Rupper feiern?“

„Ich dachte, du wolltest in die Blaue Taverne gehen?“, sagte Maud Ruby herb. „Du hast doch Sehnsucht nach den Freunden Mack Ruppers, nicht wahr? Sieh sie dir ruhig an! Sie werden dir sagen, daß ich seit Monaten nicht mehr mit ihnen zusammenkam. Folglich konnte ich ihnen auch kein Wort von den Diamanten erzählen.“

„Schon gut“, schnitt Ralph Condray alle weiteren Erklärungen ab. „Gedulde dich fünf Minuten. Ich bin gleich fertig.“

Er zog sich in aller Eile um und steckte sein letztes Bargeld in die Tasche. Pünktlich um sieben Uhr verließ er neben Maud Ruby das rote Backsteinhaus.

„Fahren wir mit dem Bus?“, fragte er, als sie auf der Straße standen.

„Du weißt auch wirklich gar nichts mehr“, sagte Maud Ruby ärgerlich. „Die Blaue Taverne liegt doch ganz in der Nähe. Wir haben keine halbe Meile zu gehen.“

Es war wirklich nicht weit. Schon nach wenigen Minuten erreichten sie den flachen Bau, der einen so stolzen Namen führte. Gelbe Vorhänge schmückten die vielen Fenster. Gedämpftes Licht fiel auf den Gehsteig heraus. Ein kunstvoll geschmiedetes Wirtshausschild klirrte leise im Nachtwind.

Als Ralph Condray wenig später die Gaststube betrat, war er ziemlich verblüfft. Er hatte eine armselige Kneipe zu sehen erwartet, ein dumpfes Bierloch, in dem sich die Ausgestoßenen und die vorbestraften Gesetzesbrecher seit jeher verkriechen. Stattdessen sah er nun eine gutbürgerliche Wirtschaft vor sich. Die Tische waren mit sauberen Decken versehen und trugen sogar teilweise Blumen. Die Biertheke glänzte in Nickel und Chrom. Von der Küche strömten verlockende Gerüche herein. Zwei hübsche Bedienungen eilten flink hin und her und trugen lukullische Speisen auf.

Ralph Condray warf einen unsicheren Blick auf Maud Ruby.

„Täuschst du dich auch nicht?“, fragte er flüsternd. „Werden wir hier wirklich die Freunde Mack Ruppers treffen? Ich kann mir nicht vorstellen, daß sie in einem so feinen Lokal . . .“

„Früher war es eine Sumpfkneipe“, gab Maud Ruby leise zurück.

„Erst seit Ruth Bonfield diesen Laden übernahm, wurde es anders. Sie räumte auf unter den Strolchen und Tagedieben. Ein Wunder, daß sie ausgerechnet die Freunde Mack Ruppers vergessen hat. Dort drüben sitzen sie. Du kannst nachher zu ihnen hingehen. Ich will nichts mit ihnen zu tun haben.“

Sie wählten einen kleinen Ecktisch in der Nähe der Tür und bestellten zwei Cock mit Schuß. Schon nach einiger Zeit sahen sie, daß Hope Bolton, Alban Vock und Bill Webster an ihrem Tisch unruhig wurden. Sie schielten dauernd herüber. Sie reckten die Hälse und machten große Augen.

„Sie haben dich erkannt“, raunte Maud Ruby gedämpft. „Stell dich vor bei ihnen. Sonst glauben sie am Ende noch, du hättest ein schlechtes Gewissen.“

Ralph Condray straffte seine Brust mit einem tiefen Atemzug und erhob sich. Mit ausgreifenden Schritten ging er durch die Gaststube. Furchtlos näherte er sich den drei Dunkelmännern.

„Da bin ich“, sagte er mit einem kleinen Lächeln. „Lange nicht mehr gesehen, wie? Sieben Jahre sind eine verdammt lange Zeit.“

Die Freunde Mack Ruppers rückten grinsend zusammen und machten ihm einen Platz frei. Sie sahen beileibe nicht so aus, wie man sich schmierige Ganoven vorstellt. Sie trugen saubere Oberhemden, modische Krawatten und tadellose Anzüge. Sie hatten noch nicht einmal schwarze Fingernägel. Auch gröhlten sie nicht herum, sondern verhielten sich ruhig und reserviert.

„Sieh mal an“, brummte Hope Bolton respektvoll. „James Green ist wieder im Lande. Hast dich tadellos herausgemacht, alter Junge. Siehst blendend aus. Hätten dich kaum noch erkannt. Wo hast du denn die ganzen Jahre gesteckt?“

„In Südamerika“, sagte Ralph Condray widerwillig.

„Ah, in Südamerika. Alle Achtung! Und was hast du dort getrieben?“

„Ich besaß eine Mine mit dreihundert Arbeitern.

Es war eine ergiebige Erzgrube, die sehr gut florierte . . .“

„Er lügt noch genauso wie früher“, prustete Hope Bolton. „Er ist immer noch der alte Angeber.“

Alban Vock und Bill Webster stimmten in das Gelächter mit ein. Für zwei, drei Minuten vergaßen sie, daß sie hier feine Leute spielen wollten. Sie lachten und wieherten und schlugen sich vor Vergnügen auf die Schenkel.

„Was habt ihr denn?“, fragte Ralph Condray ärgerlich.

Hope Bolton hielt sich den Bauch. Sein Gesicht war krebsrot vor lauter Lachen.

„Man freut sich“, ächzte er schnaufend, „wenn es einer von uns zu etwas gebracht hat. Du bist also jetzt ein reicher Mann, wie? Sicher wohnst du im Hotel Cumberland?“

„No, bei Maud Ruby“, sagte Ralph Condray einsilbig.

„Eh?“

Die drei machten ungläubige Gesichter und stierten ihn überrascht an.

„Bei Maud Ruby? Wie sollen wir das verstehen? Wie bist du ausgerechnet auf ihre Adresse gekommen?“

„Mack Rupper gab mir ihre Schlüssel. Er war gerade auf der Flucht, als ich in der Waterloo Station ankam.“

„Und seither wohnst du bei Maud?“

Nun endlich verlor Ralph Condray die Geduld. Sein Gesicht wurde weiß vor Zorn. „Ihr seid die größten Heuchler, die ich je gesehen habe“, zischte er erbost. „Ihr habt mir schon in der ersten Nacht aufgelauert, als ich das rote Backsteinhaus am Lofting Oval betrat. Ein paar Stunden später habt ihr mich dann hinterhältig überfallen und den Lederbeutel mit den Diamanten geklaut. War ein fetter Fisch, nicht wahr? Vier oder fünf Jahre könnt ihr sicher davon leben.“

Er brach unvermittelt ab. Er blickte in drei versteinerte Gesichter, in drei weit aufgerissene Augenpaare.

„Was sollen wir geklaut haben?“, fragte Hope Bolton mit drohendem Ton und gerunzelter Stirn.

Ralph Condray sah ihn flüchtig an. So konnte sich niemand verstellen. Die Burschen spielten kein Theater. Sie waren wirklich ehrlich überrascht.

„Sag das noch einmal“, knurrte nun auch Alban Vock. „He, sag das noch einmal! Hast du diese Mätzchen in Südamerika gelernt?“

Ralph Condray zuckte mit den Achseln. „Dachte eben, ihr wärt es gewesen. Nehmt es mir nicht übel. Die Täter kannten sich genau in der Wohnung Maud Rubys aus. Sie schlugen mich nieder und durchwühlten meinen Koffer. Als ich wieder zu mir kam, fehlte der Lederbeutel mit den Diamanten.“

Stille am Tisch. Die drei Burschen stierten schweigsam vor sich hin. Man hörte nur ihre pfeifenden Atemzüge.

„Du hast also“, sagte Hope Bolton nach einer Weile, „das ganze Moos verloren, das du drüben gemacht hast?“

„Hm. So ist es.“

„Und was willst du jetzt anfangen?“

„Ich weiß noch nicht. Könnt ihr mir einen Tip geben? Treibt ihr irgendein Geschäft?“

„Wir machen gar nichts“, mischte sich Alban Yock mit vergnügtem Grinsen ein. „Es läßt sich auch so leben. Man muß nur die richtige Masche kennen.“

„Stop!“, knurrte Hope Bolton. „Von unserem Job braucht er nichts zu wissen. Wir können nicht auch noch einen vierten Mann durchschleppen. Aber vielleicht wüßten wir etwas anderes für dich. Was hast du drüben wirklich gemacht?“

Ralph Condray stützte den Kopf auf die Fäuste. „Bevor ich die Mine erwerben konnte“, sagte er leise, „war ich eine zeitlang Tellerwäscher, Schuhputzer, Zeitungsverkäufer und Kellner . . .“

„Moment mal“, unterbrach ihn Hope Bolton lärmend. „Ruth Bonfield sucht einen Kellner. Du würdest hier in der Blauen Taverne genau die richtige Figur machen. Für uns ist dieser Job nichts. Wir sind zu dämlich dazu.“

Ralph Condray spielte versonnen an seinem Bierdeckel herum. Die Gedanken liefen eilig hinter seiner Stirn auf und ab.

„Der Vorschlag wäre nicht schlecht“, meinte er schließlich.

„Es ist mir ohnehin klar, daß ich wieder ganz unten anfangen muß. Es fragt sich nur, ob mich diese Ruth Bonfield auch haben will.“

„Ich werde mit ihr reden“, sagte Hope Bolton großspurig. „Wir sind alte Stammgäste. Wenn wir jemand empfehlen, dann wird er auch engagiert. Darauf kannst du Gift nehmen.“

Er verschwand schon in der nächsten Minute hinter dem Büfett und ging zur Küche hinaus. Als er wieder zurückkehrte, ging die Wirtin der Blauen Taverne an seiner Seite. Ralph Condray war überrascht, wie jung sie noch war. Sie wirkte hübsch und sauber. In einem rosigen Gesicht strahlten zwei freundliche Augen. Die blonden Haare waren kunstvoll frisiert.

„Ich bin Ruth Bonfield“, sagte sie lächelnd. „Mr. Bolton sagte mir eben, daß ich hier einen guten Kellner finden könnte. Stimmt das? Es sollte mir nur recht sein. Ich bin momentan in ziemlicher Verlegenheit.“

„Wenn Sie es mit mir versuchen wollen“, sagte Ralph Condray, „so werde ich mir alle Mühe geben, Sie nie zu enttäuschen. Ich wäre wirklich glücklich, wenn ich wieder festen Boden unter den Füßen hätte.“

„Sie können morgen schon anfangen“, sagte die Wirtin erfreut.

„Bleibt es dabei?“

„Ich danke Ihnen“, sagte Ralph Condray mit einem erleichterten Atemzug.

Als er sich umdrehte, begegnete er den Blicken Maud Rubys. Sie saß noch immer still und regungslos auf ihrem Platz. Ihr Gesicht war wie eingefroren. In ihren schwarzen Augen schimmerten unergründliche Lichter.


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