Читать книгу Die Fälle des Kommissar Morry - 10 legendäre Krimi Leihbücher in einem Band - Cedric Balmore - Страница 16
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ОглавлениеAlfred Glashill besaß einen Juwelierladen am Canal Grove in Hoxton. Die Straße, in der sich das Geschäft befand, wirkte düster und verwahrlost. Der Union Canal zog sich an den grauen Rüdefronten der Häuser hin. Man sah verrostete Balkone, windschiefe Fenster, verbeulte Badewannen und allerlei Gerümpel in den muffigen Höfen. Und immer hing irgendwo ausgebleichte Wäsche an langen Blechdrähten herum. Dazwischen hüpften schmutzige Kinder und struppige Straßenköter durcheinander. Ganz klar, daß auch der Laden Alfred Glashills entsprechend aussah. In den kleinen Schaufenstern suchte man vergebens nach prächtigem Schmuck und kostbarem Geschmeide. Dafür gab es billige Wecker, kitschigen Plunder und Altwaren jeder Art. Vom Blumenständer bis zur Wandampei war so ziemlich alles vertreten.
An diesem grauen Oktobermorgen lehnte Alfred Glashill in der Tür seines traurigen Ladens und schaute die aufgeweichte Straße hinunter. Er hatte die faltigen Hände über dem Bauch verschränkt und seine spindeldürre Gestalt in einen schlotternden Anzug gehüllt. Seine kleinen Rattenaugen tasteten lauernd die Torbögen und Hofeinfahrten ab. Zehn Minuten etwa mochte er so gestanden haben, und eisige Kälteschauer krochen bereits über seinen eingesunkenen Rücken, da entdeckte er plötzlich Frederick Lawes, der wie immer untätig vor seiner dürftigen Behausung herumlungerte und nach etwas Eßbarem Ausschau hielt. Er war der geborene Eckensteher. Kein Mensch hatte ihn jemals arbeiten sehen.
„Eh, Frederick!“, rief Alfred Glashill zu ihm hinüber. „Willst du dir eine warme Mahlzeit verdienen? Ich hätte eine kleine Arbeit für dich. Es dauert nicht lang. In einer halben Stunde kannst du fertig sein.“
Frederick Lawes schob träge mit seinem Buckel durch die Gegend und kam mürrisch näher. „Was soll's?“, fragte er mundfaul. „Viel wirst du mit mir nicht anfangen können. Habe momentan die Gicht in allen Gliedern.“
„Ich weiß, ich weiß“, hüstelte Alfred Glashill. „Du hast alle Leiden der Menschheit auf deinem Buckel zu tragen. Komm herein! Ich zahle dir einen Liter Bier und fünf Schilling. Einverstanden?“ „Erst mal sehen“, brummte Frederick Lawes. „Was muß ich tun?“
Alfred Glashill führte ihn in einen finsteren Winkel seines Treppenhauses. Unter der morschen Stiege befand sich ein gezacktes Loch in der Mauer. Ein gutes Dutzend Backsteine lag auf dem Boden herum. Daneben stand ein Mörteleimer und eine Maurerkelle nebst ein paar primitiven Werkzeugen.
„Du könntest das Loch zumachen“, brummte Alfred Glashill mit schiefen Blicken. „Ich selbst bin zu schwach für ein solches Geschäft. Was meinst du? Sind fünf Schillinge nicht eine Menge Geld für das bißchen Arbeit?“
„Leg noch eine Schachtel Zigaretten darauf“, maulte Frederick Lawes, „dann werde ich anfangen. Aber mit einer halben Stunde ist es nicht getan. Werde fast bis zum Mittag brauchen.“
Er bekam die Zigaretten. Er steckte sich einen Glimmstengel zwischen die Lippen und rührte dann in dem Mörtel herum. Er wollte schon den ersten Stein in die Luke fügen, da kam ihm plötzlich ein anderer Gedanke. Er knipste sein Feuerzeug an und leuchtete in den dunklen Hohlraum hinein. Als er außer Staub und Moder nichts entdecken konnte, fuhr er mit seinen Armen in die Öffnung und wühlte in dem abscheulichen Loch herum.
Vier, fünf Minuten lang bohrten sich seine Finger in den klebrigen Morast. Dann spürte er plötzlich ein rundes Etwas zwischen den Fingern. Es war ein Lederbeutel. Mit einem leisen Pfiff beförderte Frederick Lawes seinen Fund an das Tageslicht. Er löste die Schnur und griff hinein. Wenige Sekunden später tanzten ein paar runde Steine über seine Handfläche, die wie kleine Kiesel aussahen. Als er noch einmal in den Beutel griff, hielt er zwei kunstvoll geschliffene Diamanten in den Händen.
„Was machst du da?“, fragte in diesem Moment eine schrille Stimme hinter ihm. Es war eine Stimme, in der Angst und Argwohn zitterten.
Frederick Lawes fuhr herum wie ein ertappter Sünder. Er hielt noch immer seinen kostbaren Fund umkrampft. Die geschliffenen Diamanten warfen tausend schimmernde Funken durch den düsteren Treppenwinkel.
„Du willst mich bestehlen, wie?“, zeterte Alfred Glashill empört. „Während ich ahnungslos vorn im Laden stehe, spielst du hier einen dreckigen Dieb. Leg sofort den Beutel in das Versteck zurück. He, hast du gehört?“
Frederick Lawes war widerborstig wie ein Steinesel. Er machte keine Bewegung. „Seltsames Versteck für so kostbare Diamanten“, murmelte er mit einem lauernden Seitenblick. „Du hast doch einen mächtigen Tresor in deinem Laden stehen. Wäre doch viel einfacher, die Steine dorthin..."
„Was geht das dich an?“, kreischte Alfred Glashill in schäumendem Zorn. „Mein Gott, wie konnte ich dich zu dieser Arbeit holen. Es war die größte Dummheit meines Lebens.“
Frederick Lawes verzog sein dämliches Gesicht zu einem breiten Grinsen.
„Ist ziemlich heiße Ware, wie?“, fragte er raunend. „Stammt sicher aus einem Einbruch, he? Du hast Angst, die Cops könnten deinen Tresor kontrollieren.“
Alfred Glashill rang verzweifelt die Hände. Er wußte nicht, wie er den störrischen Burschen beschwichtigen konnte. Er versuchte es mit Drohungen, mit Flüchen und albernen Ausreden. Es nützte ihm alles nichts. Er redete seine Worte in den Wind.
„Na gut“, sagte er endlich mit keuchendem Atem. „Wenn du schon davon weißt, dann muß ich mir wohl oder übel dein Schweigen erkaufen. Hier, nimm das! Ich glaube, das reicht.“
Frederick Lawes bekam fünf, sechs glitzernde Steine in die Hand gedrückt, die er grinsend in seiner Tasche verschwinden ließ. Überdies konnte er noch drei blaue Lappen kassieren. Er hatte in knapp zehn Minuten mehr verdient, als mancher biedere Arbeiter in einem ganzen Jahr.
„So!“, schnaufte Alfred Glashill erschöpft. „Nun Schluß darnit! Mach das Loch zu. Ich werde hier stehen bleiben. Leute wie dich kann man keinen Augenblick allein lassen.“
Der braune Lederbeutel wanderte in das schutzige Versteck zurück. Steinbrocken, verstaubte Spinnweben und grauer Verputz fielen auf ihn nieder und deckten ihn zu.
Frederick Lawes machte sich seufzend an die Arbeit. Er war nicht ungeschickt. Fachmännisch mörtelte er die Steine ein. Ab und zu drehte er sich nach Alfred Glashill um.
„Du machst mich nervös“, knurrte er. „Ich kann das nicht haben, wenn mir dauernd jemand über die Schulter schaut.“
„Die Steine stammen nicht aus einem Einbruch“, murmelte Alfred Glashill nervös. „Hoffentlich erzählst du niemand diesen Unsinn. Du wirst die Klappe halten, verstanden?“
Frederick Lawes zuckte spöttisch mit den Ach- . sein. „Du kannst erzählen, was du willst. Ich weiß es besser. Du hast die Sore von ein paar Geldschrankknackern eingeschachert. Stimmt doch, wie? Hehlerei nennt man das. Ich werde . . .“
Wieder rang Alfred Glashill beschwörend die Hände. Er mußte wohl oder übel Farbe bekennen, um diesen Dummkopf zur Vernunft zu bringen.
„Diese Steine“, ächzte er, „sind mein rechtmäßiger Besitz. Ich holte sie bei Mack Rupper ab, weil er mir ein paar Tausender schuldete. Hätte ich nicht so rasch gehandelt, so wäre ich zu spät gekommen. Kein Mensch weiß zur Zeit, wohin Mack Rupper verschwunden ist.“
„Lügen“, brummte Frederick Lawes verächtlich. „Lauter Lügen. Du willst mir doch nicht weismachen, daß du allein zu Mack Rupper gegangen bist.“ „Ich war ja auch nicht allein“, jammerte Alfred Glashill verzweifelt. „Ich kaufte mir ein paar stramme Burschen aus Kentish Town, die mich begleiten sollten. Wir gingen zum Lofting Oval in Islington. Dort wohnt die Braut Mack Ruppers. Sie heißt Maud Ruby . . .“
Frederick Lawes ließ aufgeregt seine Mörtelkelle sinken. Er stand da und sperrte Mund und Ohren auf. „Weiter!“, raunte er. „Erzähl' doch weiter!“ „Ich wollte mir mein Geld holen“, murmelte Alfred Glashill halblaut. „Ich wollte meine Schulden eintreiben, verstehst du? Wir drangen in die Wohnung dieses Mörderliebchens ein und statteten Mack Rupper einen Besuch ab. Er lag im Wohnzimmer auf dem Sofa. Er hatte schon alles zu seiner Flucht vorbereitet. Ein gepackter Koffer stand neben der Tür . . .“
„War es wirklich Mack Rupper?“, fragte Frederick Lawes mit hervorquellenden Augen. „Was tat er, als er euch bemerkte? Man sagt doch, daß er auch nachts seine Pistole griffbereit unter dem Kopfkissen hielt . . .“
„Er hatte keine Zeit, seine Waffe hervorzuholen“, raunte Alfred Glashill mit bleichem Gesicht. „Die Boys machten ihn fertig. Während sie ihn mit ein paar guten Hieben massierten, machte ich mich über den Koffer her. Ich fand diesen Beutel und nahm ihn mit. Die Boys haben nichts davon gemerkt.“
„Wer waren deine Helfer?“, wollte Frederick Lawes wissen.
„Das geht dich nichts an. Ich habe sie bezahlt, und sie werden schweigen. Das gleiche erwarte ich auch von dir. Solltest du die Klappe aufmachen, so schneidest du dich ins eigene Fleisch. Los, mach weiter! Das alles dauert mir schon viel zu lange.“
Frederick Lawes griff rasch nach seiner Kelle und machte sich wieder über das Mauerloch her. In einer Stunde war die Arbeit getan. Die Wand wirkte wieder sauber und ordentlich. Niemand konnte ahnen, welche Schätze sich dahinter befanden.
„Geh jetzt!“, fauchte Alfred Glashill ungeduldig. „Und laß dich nicht so rasch wieder bei mir blicken, hörst du? Ich habe genug von deiner dämlichen Visage.“
Frederick Lawes grinste und ging. Vergnügt fummelte er an den knisternden Scheinen in seiner Tasche herum. Ein wohliges Gefühl durchrieselte ihn, so oft seine Fingerspitzen die kostbaren Steine berührten.
Ich werde mir ein paar tolle Tage machen, dachte er berauscht. Bisher haben sich die Miezen in Moncktons Kellerbar immer an meinem Buckel gestört. Heute' werden sie das sicher nicht tun. Wenn sie Geld sehen, macht ihnen ein Höcker nichts aus.
Den ganzen Nachmittag trieb er sich in den verschiedensten Kneipen herum. Abends gegen neun Uhr fuhr er mit dem Bus nach Stepney hinüber. Am Mardon Place stieg er aus. Er kam an dem Saalbau vorbei, in dem auch heute wieder der Polizeiverein London Ost tagte. Die berüchtigte Kellerbar war nur hundert Yard entfernt.
Frederick Lawes schlich sich gebeugt an das graue Haus heran. Schüchtern und linkisch stieg er die Stufen hinunter. Das Kellergewölbe tat sich vor ihm auf. Die nackten Steine waren mit buntem Flitter und billiger Seide verkleidet. Überall schwebten Luftballons herum. Ein Musikautomat winselte in den hellsten Tönen.
„Hey, der Bucklige“, rief eine schrille Mädchenstimme. „Was willst du hier, Frederick? Bei uns gibt es nichts zu schnorren. Wir sind selbst schwach bei Kasse.“
Frederick Lawes blickte mit wässrigen Augen durch das schummerige Lokal. An allen Tischen saßen billige Mädchen mit schmachtenden Blicken. Sie hatten lackierte Lippen und getuschte Wimpern. Die wenigsten machten sich die Mühe, Frederick Lawes überhaupt einen Blick zu schenken. Sie behielten weiterhin den Eingang im Auge, um nach zahlungskräftigen Freiern Ausschau zu halten.
In der hintersten Ecke der dunkelroten Polsternischen saß Lissy Black und rührte mit einem Strohhalm in ihrem Cocktail herum. Sie trug wieder die helle Seidenbluse, an der aus kalter Berechnung die zwei obersten Knöpfe fehlten. Ihre üppigen Formen zogen Frederick Lawes in magischen Bann. Er kam mit schüchternem Grinsen an ihren Tisch heran. „Ist es gestattet?“, fragte er lüstern.
Lissy Black sagte weder ja noch nein. Sie rückte lediglich ein Stückchen zur Seite. Das war alles. Frederick Lawes ließ sich zögernd neben ihr nieder. „Ich bin lange nicht mehr dagewesen“, hüstelte er verlegen. „In der letzten Zeit fehlte mir das Geld. Aber heute . . .“
Er legte zwei Scheine auf den Tisch und winkte den Kellner herbei. „Was willst du?“, fragte er seine hübsche Nachbarin. „Es soll mir auf ein paar Schilling nicht ankommen.“
Lissy Black machte große Augen. Sie fuhr mit der Zungenspitze über die trockenen Lippen. Das tat sie immer, wenn sie ein lohnendes Geschäft witterte. Anscheinend hatte sie seit Tagen gefastet. Denn sie ließ Koteletts und Salate auffahren, daß Frederick Lawes die Augen übergingen. Sie verzehrte das knusprige Fleisch mit wahrem Heißhunger. Ihre Wangen röteten sich. Ihre Augen bekamen den alten Glanz.
„So“, sagte sie, als sie endlich fertig war. „Jetzt kannst du mit mir reden. Du suchst ein Nachtquartier, wie?“
Frederick Lawes murmelte ein paar unverständliche Worte vor sich hin. Er hätte sich überhaupt jede Silbe sparen können. Seine Blicke redeten deutlich genug. Er faßte unbeholfen nach ihren weichen Armen und versuchte, sie zu sich herüberzuziehen. Aber Lissy Black wehrte ab. „Nicht hier“, sagte sie unwillig. „Die Cops haben in letzter Zeit ein scharfes Auge auf Moncktons Kellerbar. Wir können zu mir gehen, wenn du willst. Ich wohne gleich nebenan.“
„Gut“, sagte Frederick Lawes mit hungrigen Augen. „Gehen wir! Ich werde dir später noch etwas schenken. Du wirst verdammt überrascht sein.“
Sie brachen schon nach wenigen Minuten auf. Von spöttischen Blicken verfolgt, gingen sie aus dem Lokal. Eng nebeneinander wanderten sie auf das Haus Lissy Blacks zu.
„Was willst du mir denn schenken?“, fragte das Mädchen neugierig. „Das ist ein seltener Fall, daß ein Freier mehr zahlt, als man verlangt.“
„Später“, murmelte Frederick Lawes. „Erst müssen wir in deiner Bude sein. Ich rede nicht gern auf einer Straße, wo tausend Ohren horchen.“
Lissy Black schloß die Haustür auf. Sie traten ein und gingen die schmale Stiege empor. Im zweiten Stock hielten sie an. Gleich die erste Tür führte in das separate Zimmer, das Lissy Black seit Jahren bewohnte.
„Du mußt allerhand Geld verdienen“, brummte Frederick Lawes beeindruckt, als er den Fernsehschrank, die Musiktruhe und die grünen Polstermöbel erblickte. „Hier ist es verdammt gemütlich. Wir werden noch ein wenig feiern.“
„Leider habe ich nichts zu trinken da“, sagte Lissy Black achselzuckend. „Die letzte Flasche habe ich gestern nacht selbst geleert. Hatte mächtigen Ärger mit einem Sergeanten. Wäre dieser Dummkopf mit mir gekommen, so hätte er nicht zu sterben brauchen.“
„Davon will ich nichts hören“, brummte Frederick Lawes. „Was gehen mich deine anderen Liebhaber an. Heute bin ich hier, verstanden?“
Er sah, daß sich Lissy Black kichernd auf das Sofa fallen ließ. Ihr Rock rutschte über die Knie; ihre halboffene Bluse gewährte tiefe Einblicke. Lachend streckte sie ihm die Arme entgegen. „Na komm schon. Warum denn so langweilig? Ich weiß doch, warum du gekommen bist.“
„Moment“, brummte Frederick Lawes mit glänzenden Augen. „Ich bin gleich wieder da. Hole nur rasch eine Flasche Schnaps aus Moncktons Kellerbar. Es dauert keine fünf Minuten.“
Er lief aus dem Zimmer und rannte hastig die Treppe hinunter. Auf seinem dummen Gesicht lag die Vorfreude auf die kommenden Stunden. Die Ungeduld trieb ihn vorwärts. Eine Minute brauchte er, bis er die Kellerbar erreichte. Eine weitere, bis er den Schnaps in den Händen hielt. Und eine dritte, bis er umständlich seine Rechnung bezahlt hatte. Als er wieder vor der Haustür am Ausgang des Mardon Place ankam, waren genau vier Minuten vergangen. Eine lächerlich kurze Zeitspanne. Und doch hatte sich innerhalb dieser winzigen Frist sehr viel verändert.
Das merkte Frederick Lawes sofort, als er in den Hausflur trat. Die Wohnungstüren im Erdgeschoß standen offen. Heller Lichtschein fiel in das Treppenhaus heraus. Am Fuß der Stiege standen ein paar keifende Frauen zusammen.
„Wohin wollen Sie?“, fragten sie zeternd. „Hier kann doch nicht einfach jeder kommen und gehen wie er will. Was haben Sie hier zu suchen?“
„Ich möchte zu Lissy Black“, stotterte Frederick Lawes unbeholfen. „Sie wartet schon auf mich. Ich mußte rasch etwas für sie besorgen.“
„Dieses Frauenzimmer gehört aus dem Haus gejagt“, keiften die alten Weiber. „Sie treibt es jede Nacht toller. Was ist denn bei ihr oben los? Hat sie etwa noch mehr von Ihrer Sorte im Zimmer? Das ist ein Geschrei, daß man kein Auge zu tun kann. Überdies scheinen sie oben nach Zielscheiben zu schießen. Wenns so weitergeht, fällt eines Tages die ganze Bude ein.“
Frederick Lawes ging mit hängendem Kopf die Treppe hinauf. Eine bange Ahnung beschlich ihn. Was war denn in der Zwischenzeit geschehen? Als er weggegangen war, hatte Lissy Black doch noch friedlich auf dem Sofa gesessen. Warum sollte sie geschrien haben? Und was hatten diese törichten Worte von einer Schießerei zu bedeuten? Im zweiten Stock hielt Frederick Lawes schnaufend an. Mit zögernden Schritten ging er auf die Tür zu, die in das separate Zimmer führte. Er hörte nichts. Es war alles ruhig. Kein Laut drang durch die geschlossene Tür. Frederick Lawes legte zaudernd die Hand auf die Klinke und drückte sie nieder. Im nächsten Moment stand er im Zimmer. Es war dunkel. Irgendjemand hatte das Licht gelöscht.
„Hallo?“, rief Frederick Lawes mit schwerer Zunge. „Wo steckst du, Lissy? Was soll der Unsinn?“
Als er keine Antwort bekam, tappte er suchend nach dem Lichtschalter. Er fand ihn unmittelbar neben der Tür. Es wurde hell. Der Schein der sechsflammigen Lampe verscheuchte alle Schatten. Frederick Lawes hatte kaum den ersten Blick auf das Sofa geworfen, da schrie er auch schon dumpf und keuchend auf. Laut hallte das Echo dieses Schreies von den Wänden zurück. Es pflanzte sich im Treppenhaus fort. Irgendwo wurden Türen zugeschlagen. Dann kamen Schritte die Treppe herauf.
Frederick Lawes stand noch immer an der gleichen Stelle und wußte keinen Rat. Seine Augen waren blind vor Entsetzen. Fassungslos stierte er auf Lissy Black, die mit ausgebreiteten Armen auf dem Sofa lag. Ihre helle Bluse war schrecklich anzusehen. Hellrotes Blut besudelte den weichen Stoff. Darunter wurde eine klaffende Brustwunde sichtbar. In dem wachsgelben Gesicht war eine entsetzliche Todesangst eingeprägt. Der blutleere Mund, der eben noch gellende Angstschreie ausgestoßen hatte, war nun stumm. In den gebrochenen Augen wohnte das Grauen.
„Bei Gott und allen Heiligen“, murmelte Frederick Lawes verstört. „Hätte ich das geahnt, so wäre ich nie in dieses Zimmer gekommen. In meinem ganzen Leben habe ich so etwas noch nicht gesehen.“
Sein Selbstgespräch wurde jäh unterbrochen. Unter lautem Lärmen öffnete sich die Tür. Drei, vier Hausbewohner drangen ins Zimmer ein. Sie schrien laut durcheinander, als sie die Tote auf dem Sofa erblickten.
„Das hat sie nun von ihrem tollen Lebenswandel“, sagte ein bärtiger Alter. „Dieses Ende hätte ich ihr schon vor Jahren prophezeien können. Wird ein eifersüchtiger Liebhaber gewesen sein, der diesen gemeinen Schlußstrich zog.“
Frederick Lawes schielte mit schrägen Blicken zur Tür. Er versuchte, sich langsam an den aufgeregten Leuten vorbeizudrücken. Er hatte auch schon fast die Schwelle erreicht, da hielt ihn jemand am Kragen fest.
„Sie bleiben hier“, plärrte eine laute Stimme. „Sie werden warten, bis die Polizei erscheint. Der Hausmeister hat die Cops wegen Ruhestörung alarmiert. Sie werden gleich da sein.“
Frederick Lawes fiel von einem Entsetzen in das andere. Scheu verkroch er sich in den Winkel zwischen Schrank und Tür. Sein Gesicht war weiß wie ein Handtuch.
„Das kann ja gut werden“, stammelte er. „Ich weiß doch überhaupt nicht, was hier passiert ist. Ich habe mit dem Mord nichts zu tun. Ich wollte doch nur mit dem Mädchen . . .“
„Klappe halten!“, schrie jemand im Hintergrund. „Die Cops kommen!“
Frederick Lawes wäre am liebsten im Erdboden versunken. Sein fallles Gesicht wurde grün vor Aufregung. Mit unruhigen Blicken sah er den Uniformierten entgegen, die mit raschen Schritten über die Schwelle traten.
„Was ist hier los?“, fragte ein stämmiger Sergeant. „Von wem wird hier die Ruhe gestört? Hat sich nicht jemand über den Lärm bei Lissy Black beklagt?“
„Sie ist tot“, murmelte Frederick Lawes heiser. „Eine Tote macht keinen Lärm mehr. Und wenn sie vorhin geschrien hat, so ist es nur die Angst gewesen . . . die panische Todesangst vor einem Mörder.“
Frederick Lawes hätte lieber still sein sollen. Dann hätte er sich vielleicht immer noch in einem günstigen Moment davonschleichen können. Doch nun stand er plötzlich im Mittelpunkt des Interesses.
„Wer sind Sie?“, wollte der Sergeant wissen.
„Frederick Lawes.“
„Hm. Der Name sagt mir nicht viel. Wie kommen Sie hierher? Sie wohnen doch gar nicht in diesem Haus.“
„Nein, äh . . . ich wollte nur diese eine Nacht . . . ich wurde in Moncktons Kellerbar von Lissy Black eingeladen, mit ihr in dieses Zimmer . . .“
„Verstehe“, brummte der Sergeant abfällig. „Sie haben ein paar Scheine zuviel in der Tasche, wie? Die wollten Sie nun unbedingt bei Lissy Black loswerden. Aber der Tod war schneller als die Liebe. Wie kam es zu dem Mord? Reden Sie!"
Frederick Lawes erzählte stotternd, daß er noch einmal kurz weggegangen sei, um Schnaps einzukaufen. Die Flasche, die er noch immer in den verkrampften Händen hielt, war der beste Beweis für die Wahrheit seiner Worte. „In der Zwischenzeit ist es passiert“, murmelte er dumpf. „Als ich zurückkam, war alles schon vorüber. Ich fand Lissy Black so, wie sie jetzt vor Ihnen liegt.“
Als etwas später die Mordkommission eintraf, konnte der Polizeiarzt ohne viel Mühe feststellen, daß Lissy Black nicht viel anders gestorben war als Sergeant Waldram. Auch jetzt konnte man eine Patrone ans Tageslicht befördern, deren Spitze abgefeilt war. Das Kaliber war 9 mm, die Form des Geschosses plump und bauchig.
„Mack Rupper“, stammelte der Polizeiarzt gepreßt. „Mack Rupper scheint wieder in der Nähe zu sein, meine Herren! Es sind seine Patronen. Es ist genau seine Art zu morden. So schurkisch geht kein anderer zu Werk.“
„Mack Rupper“, sagte der leitende Beamte der Mordkommission, „wurde seit Tagen nicht mehr in London gesehen. Weder seine Braut noch seine Freunde wissen, wo er sich zur Zeit aufhält. Wenn er sich in irgendeinem Versteck verkrochen hat, dann ist es doch höchst merkwürdig, daß er mit immer neuen Morden alle Aufmerksamkeit auf sich lenkt. Irgend etwas paßt da nicht zusammen.“
„Darf ich jetzt gehen?“, fragte eine klägliche Stimme aus der Schrankecke. Es war Frederick Lawes. Er sah aus, als hätte er seit einigen Wochen keine Nacht mehr geschlafen.
„Kann ich jetzt gehen? Ich habe alles gesagt, was ich weiß.“
„No, Sie bleiben!“, herrschte ihn der Chef der Kommission an.
„Sie werden uns später in den Yard begleiten. Wir müssen Ihre Aussagen noch einmal genau überprüfen.“
Was nützte Frederick Lawes alles Sträuben und Zetern. Was half es ihm, daß er laut auf das tückische Schicksal fluchte? Gegen diese Übermacht kam er nicht an.
Zwei Konstabler nahmen ihn in die Mitte und schafften ihn in eine blaue Polizeilimousine. So endete die Nacht, von der sich Frederick Lawes die tollsten Erlebnisse versprochen hatte.