Читать книгу Wozu lesen? (Steidl Pocket) - Charles Dantzig - Страница 10
Lesen, um sich selbst zu finden
(ohne sich gesucht zu haben)
ОглавлениеEin Buch ist nicht für die Leser gemacht, es ist nicht einmal für den Autor gemacht, es ist für niemanden gemacht. Es ist dafür gemacht, zu existieren. Ein für die Leser gemachtes Buch betrachtet seine Leserschaft als Publikum. Folglich wurde es in einer bestimmten Absicht geschrieben, um zu gefallen oder zu überzeugen, herablassend ist beides. Zum einen gegenüber dem instrumentalisierten und somit weniger guten Werk, weil der Autor seinen Gegenstand aus den Augen verloren hat; zum anderen gegenüber den Lesern, die es kränkt, wenn sie merken, dass man ihnen ihre Urteilskraft abspricht. Welch unverfrorene Demagogie! Man will uns mit Sentimentalitäten ködern? Wir schmuggeln uns lieber heimlich in den Kopf des Autors hinein und holen uns selbst das, was wir wollen. Wenn wir uns in einem Buch wiedererkennen, umso besser, aber darum lesen wir es nicht. Egoistisch heißt nicht narzisstisch. Die Freude ist dann umso größer, wenn uns etwas plötzlich rührt. Man muss immer ein wenig diebisch sein, sonst ist das Lesen zu tugendhaft.
Als ich im Flugzeug diese Zeilen schrieb, machte ich eine Pause, um Thomas Bernhard zu lesen: Der Untergeher, 1983. Übersetzung ins Französische 1986. 1986! Ich hätte sie gleich bei Erscheinen lesen können. Stattdessen tat ich es vierundzwanzig Jahre später, vierundzwanzig Jahre. Vierundzwanzig! Wenn ich an all die grandiosen Dinge denke, die ich im Augenblick meines Todes verpasst haben werde! Was ist die Lektüre doch für ein kapriziöses Geschäft, kapriziös und grausam für die Autoren! So viele übersehene Talente wegen mangelnder Lektüre! Gute Leser müsste man einsperren, damit sie lesen! Man würde ihnen ein Gehalt zahlen, und sie täten nichts anderes als lesend Literatur retten! Vierundzwanzig Jahre! Nun gut, genug Dramatik. Als ich mich nun nochmals mit diesem Schriftsteller befasste, den ich seit langem nicht mehr gelesen hatte, war ich verblüfft über die Vielzahl von Sätzen, die in völlig unveränderter Form mein »Selbstporträt, gezeichnet durch Thomas Bernhard« ergeben würden.
»Im Grunde hasse ich die Natur, sagte er immer wieder. (…)
Die Natur ist gegen mich, sagte Glenn (…)«
»Wir können aber aus diesem Geburtsort weggehen, wenn er uns zu erdrücken droht, von dem Wegund Fortgehen, das uns umbringt, wenn wir den Augenblick des Wegund Fortgehens übersehen. Ich habe das Glück gehabt und bin …«
… aber ich bin es ja gar nicht. Es geht hier nicht um mich, um uns. Es hat etwas Selbstgefälliges, wenn wir in Büchern zu sehr nach dem suchen, was uns gleicht. In Bernhards Beton von 1982 findet man auch folgende Passage:
»Wenn ich ein Buch in der Hand hatte, verfolgte sie mich solange, bis ich das Buch weglegte, sie hatte ihren Triumph, wenn ich es ihr voller Wut ins Gesicht schleuderte.«
Und so etwas habe ich – der Gott der Lektüre kann es bezeugen – niemals selbst erlebt. Jeder Mensch ist einzigartig, das lernt man, wenn man lange genug liest und dabei immer wieder nur Fragmente seiner selbst entdeckt. Es ist nicht unser Abbild, das uns von einem Buch einnimmt, sondern das Talent. Nicht den Figuren oder Gedanken möchte man gleichen. Man möchte dem Talent gleichen.