Читать книгу Wozu lesen? (Steidl Pocket) - Charles Dantzig - Страница 9
Lesen verändert uns nicht
ОглавлениеEs ist eine beruhigende und zugleich traurige Erfahrung, bei Werken, die man ein zweites Mal liest, die Randbemerkungen der ersten Lektüre mit den aktuellen Anmerkungen zu vergleichen. Ich habe es getan, anfangs eher beiläufig – denn ich bin weder ein so großer Freund noch ein so erbitterter Feind meiner selbst, dass ich beim erneuten Aufschlagen eines Buches sofort prüfe, was ich früher hineingekritzelt habe –, später dann aus Neugier.
Ich stellte fest, dass ich auch nach Jahren noch annähernd dieselben Passagen unterstreiche. Leider bleiben wir uns selbst immer gleich. Das Lesen verändert uns kaum. Vielleicht veredelt es uns ein bisschen, aber ein Drecksack ist und bleibt ein Drecksack, auch wenn er Racine gelesen hat. Aus einem ungebildeten Drecksack ist dann allenfalls ein aufpolierter Drecksack geworden. Umgekehrt wird ein guter Mensch durch die Lektüre eines bösen Buches nicht zu einem schlechten. Dass Bücher einen schlechten Einfluss haben könnten, ist eine ebenso dumme Mär wie die von ihrem guten Einfluss. Die Vorstellung, Literatur sei moralisch (oder unmoralisch, was aufs Gleiche hinausläuft), ist vielleicht notwendig für deren Überleben in einer Welt, die seit Menschengedenken nur das Nützliche liebt.
Was glücklicherweise auch bleibt, ist die Frische des Talents, die uns immer wieder Jubelrufe entlockt, selbst wenn wir ein Buch noch so oft gelesen haben.