Читать книгу Wozu lesen? (Steidl Pocket) - Charles Dantzig - Страница 8
Der egoistische Leser
ОглавлениеIn der Bibliothek meiner Großmama mütterlicherseits standen limitierte Ausgaben in Hülle und Fülle, die sie grands papiers nannte, darunter auch einige handsignierte Werke berühmter Schriftsteller. Das fand ich vornehm, und es steigerte meine ohnehin schon unermessliche Liebe zu dieser Frau. Über Großmutter-Schriftsteller sollte mal jemand ein Buch schreiben. Es gibt Mutter-Schriftsteller wie Albert Cohen. Es gibt Schwester-Schriftsteller wie Flaubert. Es gibt Vater-Schriftsteller wie Stendhal oder Dickens. Es gibt Onkel-Schriftsteller wie Roger Nimier.
Die Göttergestalt unter den Großmutter-Schriftstellern ist wohl Marcel Proust. Selbst wenn er sein Gelächter hinter dem Ziegenlederhandschuh kaum mehr verstecken kann, während er Zoten zum Besten gibt, ist ihm der wohlwollende Blick einer alten, weißhaarigen Dame gewiss, die streng ist und gütig zugleich und für ihr Leben gern liest. Eben diese Großmutter, nämlich die des Erzählers in Auf der Suche nach der verlorenen Zeit, hat mir nahegebracht, wie reizvoll scheinbar ungewöhnliche Vergleiche sein können. Sie ist diejenige, die eine Ähnlichkeit zwischen Mme de Sévigné und Dostojewski zu erkennen glaubt. Meine brachte mir den Umgang mit wertvollen Büchern bei, deren Code und Verhaltenskodex. Wie die verschiedenen Prägungen auf den ersten Buchseiten zu deuten sind und wie man sie vorsichtig aufschlägt. Hingebungsvoll streichelte ich über das Japanpapier, das sich feiner anfühlte als poliertes Elfenbein. Zu den Schändlichkeiten der heutigen Zeit zählt neben den theokratischen Diktaturen und den Genoziden – wobei, nein, die hat es schon immer gegeben, und da die Gewalt ewig ist und außerordentlich tief im Menschen wohnt, finden die zarten, anrührenden Momente des Lebens gerade an der oft so argwöhnisch beäugten Oberfläche statt, die doch immerhin auch der Ort ist, an dem die Blumen gedeihen, und – ja, ja, ich höre ja schon auf, zu diesen Schändlichkeiten zählt also auch die Tatsache, dass heutzutage kein Japanpapier mehr hergestellt wird. Ich hoffe, dieser Verlust wird durch andere Preziosen aufgewogen.
Japanpapier war freilich nicht das, worauf ich mich stürzte, wenn ich allein war. Wer liest, muss nicht bibliophil sein, genauso wenig wie ein Bücherliebhaber lesen muss. Man schaue sich nur den Beliebtheitsgrad diverser Schriftsteller an: Georges Duhamel hat aufgrund seiner limitierten Auflagen gerade bei bibliophilen Antiquariaten noch einen hohen Stellenwert, nach dem Urteil der Leser taugt er hingegen nicht mehr viel. Tony Duvert steht bei den Ersten nicht hoch im Kurs, wird aber von Letzteren hochgeschätzt. Ich selbst wollte damals in erster Linie Gedrucktes, das man unterstreichen und dessen Ränder man mit Anmerkungen versehen konnte. Man hatte mir beigebracht, dies sei die beste Art zu lesen, und so ist es auch. Ein Leser ist kein Konsument, der Büchern den Garaus macht, indem er sie verspeist: Wenn man sagt, jemand verschlinge ein Buch, so halte ich dies für ein gewagtes Bild. Ein guter Leser schreibt, während er liest. Er umrandet, streicht durch, kritzelt Kommentare in alle Zwischenräume, die ihm der Buchdrucker gelassen hat. Jeder, dem ich meine Proust- Bände zeige, kann verstehen, warum ich mir regelmäßig neue Ausgaben kaufe. Nicht aus Fetischismus. Ich habe keine andere Wahl. Die Vorsatzblätter und Seitenränder sind gespickt mit meinen Notizen, die wie Regenwürmer in alle Richtungen kriechen und sich bis in die Bundstege hineinwinden; die Zeilen sind unterstrichen, umkringelt, vollgekritzelt. Nicht einmal die Proust’schen paperoles können quantitativ mit meinen Anmerkungen konkurrieren. Ein guter Leser setzt seine Brandzeichen auf die Bücher und nimmt sie damit wie eine Herde in Besitz.
Vergliche man die Anmerkungen zweier Leser zu ein und demselben Text, würde man erkennen, dass ein Buch keine Skulptur ist, die man sich anschauen kann und die – Katastrophen ausgenommen – ihre ersten Betrachter weit überlebt. Auch wenn ein Buch einen eigenen Sinn, den des Autors hat, nimmt jeder Leser diesen in anderer Weise auf. Dies veranlasste Paul Valéry zu der Bemerkung:
»Meine Verse haben den Sinn, den man ihnen gibt. Der, den ich ihnen gebe, passt nur für mich und kann vor niemandem geltend gemacht werden. Es ist ein Fehler, der dem Wesen der Poesie zuwiderläuft und sogar tödlich für sie wäre, zu behaupten, dass jedes Gedicht einen wahren, einzigen Sinn hat, der mit dem Denken des Autors identisch ist.«
Paul Valéry, Kommentar zu Charmes
Man liest, um die Welt zu verstehen, man liest, um sich selbst zu verstehen. Und wenn man über ein gewisses Maß an Großzügigkeit verfügt, kommt es auch vor, dass man liest, um den Autor zu verstehen. Ich glaube allerdings, dass nur die größten Leser dazu in der Lage sind, und auch sie erst dann, wenn sie die zwei dringendsten Bedürfnisse befriedigt haben: das Verständnis der Welt und der eigenen Person. Lesen bringt Mumien zum Singen, aber deshalb liest man nicht. Man liest nicht für das Buch, man liest für sich selbst. Es gibt nichts Egoistischeres als einen Leser.