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Lesen lernen

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Warum lese ich? Ich lese wohl so, wie ich auch gehe. Übrigens lese ich tatsächlich beim Gehen. Wenn Sie wüssten, wie viele Begegnungen mir dies schon beschert hat! So manche Pariser Parkuhr hat schon gerührt gehört wie ich mich mit »Pardon, Monsieur!« bei ihr entschuldige, nachdem ich sie lesend angerempelt habe. Doch bloß weil man eine Sache so spontan tut wie gehen oder lesen, ist es keineswegs überflüssig, darüber nachzudenken. Spontaneität rechtfertigt nicht alles. Auch Morde werden spontan verübt.

»Spontan« – zuerst wollte ich »natürlich« schreiben. Aber Lesen ist selbstverständlich nicht so natürlich wie Gehen. Nein, es ist eine durch und durch erworbene Fähigkeit. Was manchen schwerfällt. Nicht jeder lernt leicht lesen. Dem nachzugehen, wäre interessant. Sind Vielleser möglicherweise Menschen, die ohne Mühe lesen gelernt haben? Bei mir persönlich war es leicht und klappte fast auf Anhieb. Ein paar Tage lang ließ man mich das Abc üben, und plötzlich ging alles wie von selbst – ich las. Vielleicht lag es daran, dass ich vergleichsweise spät damit anfing, in der ersten Klasse, ich war fünf. Seit einem Jahr lebte ich in einem Zustand der Empörung, denn die meisten meiner Freunde hatten bereits in der Vorschule lesen gelernt. »Und was ist mit mir? Warum bringt man mir nichts bei?«, lag ich meinen entnervten Eltern pausenlos in den Ohren. »Dein Kindergarten sieht das nicht vor. Du musst bis zur Grundschule warten«, war die einzige Antwort, die sie mir geben konnten. Und so zeigte ich weiter auf alles, was mir an Geschriebenem unterkam, Plakate, Schilder, Magazincover, und fragte: »Was steht da?« Ich hatte das Gefühl, dass mir großes Unrecht geschah. Dass man mir bis auf Weiteres den Zugang zum Verständnis der Welt verwehrte.

Im Alter von fünf Jahren sind Kinder sehr intelligent. Und naiv. Über die Schrift, so dachte ich, würde ich begreifen, was sich um mich herum ereignete. Denn auch was sich vor meinen Augen ereignete, blieb mir unverständlich. Was war, wenn nicht der Ursprung von allem, so doch sein Zusammenhang? Wie war das alles miteinander verbunden? Ich vertraute voll und ganz darauf, dass die Schrift es mir verraten würde. Dem gesprochenen Wort dagegen misstraute ich. Vor allem dem Wort meiner Eltern. Bevor ich eingestand, wie geistreich es war, spürte ich seine Macht, der ich mich sogleich widersetzte. Autorität war immer ein Problem für mich. Noch heute gibt es nichts, was mich so sehr in Rage bringt wie das, was man Machtworte nennt. Sie stellen sich dem wunderbaren Räsonnement entgegen – wunderbar deshalb, weil es auf Vertrauen beruht. Machtworte hingegen beruhen auf Verachtung. Meinem Argwohn gegenüber Autoritäten entsprach ein fast magisches Vertrauen in die Schrift. Dem kleinen Banausen, der ich damals war, schien jeder Satz ein Schlüssel zu sein. Hatten Sätze etwa keine frappierende Ähnlichkeit mit Schlüsseln? Schwarz, lang, dazu die Ober- und Unterlängen, die aus dem Zylinder zu ragen schienen wie die Räute – so nennt man den Griff des Schlüssels, glaube ich. Hier liegt nebenbei bemerkt ein Nutzen von Wörtern: Kurz und präzise ersparen sie einem ganze Sätze. Dieses Schlüsselbund jedenfalls, das die Bibliothek meiner Familie für mich darstellte, würde mir die Türen zur Schatzkammer öffnen. Das Geschriebene war in meinen Augen etwas Abstraktes und Selbstloses, das mit seinen Wörtern nichts erreichen wollte.

Ich frage mich, ob ich damals nicht unbewusst das Wesen der Literatur erahnt habe. Eine mögliche Definition lautet, Literatur sei die wohl einzige Textform, die keinen unmittelbaren Zweck erfülle. Literatur steht im Kern meiner Frage: Wozu lesen? – Wozu Literatur lesen?

Man kann historische Abhandlungen lesen, politische Programme, Astronomie-Lehrbücher, Anleitungen zum Bridge- Spielen, doch das alles dient nur dazu, sich Wissen anzueignen. Aber Wissen ist keine große Sache. Jeder weiß etwas. Heerscharen von Dummköpfen und Einfaltspinseln sind vollgestopft mit Wissen. Wichtiger ist, was man als Analogie bezeichnen könnte. Literatur, insbesondere Belletristik, ist eine Form von Analogie. Oder genauer gesagt, eine der Formen des Verstehens mittels Analogie. Oder noch genauer gesagt, eine der Formen des Verstehens mittels Analogie, die nicht nur die Intelligenz, sondern auch die Emotionen bemüht. Analogie, Emotion. Genau darin liegt der Unterschied zur Philosophie, die sich ganz auf die Analyse und den Intellekt stützt.

Natürlich macht eben dieser emotionale Aspekt der Literatur ihren Reiz aus. Und ihre Gefahr. Mit ihren Bildern vermag sie uns zu manipulieren wie Kinder. Aber sie lässt uns Zusammenhänge schneller verstehen, andere Zusammenhänge als Philosophie oder Psychologie. Und dieses Buchwissen … Buchwissen. Ich habe die negative Konnotation dieses Wortes nie ganz begriffen. Es ist dieselbe negative Bedeutung, welche die Gesellschaft allen geistigen Dingen zuschreibt, eine Gesellschaft, die roh geblieben ist unter dem Mäntelchen dessen, was man Zivilisation nennt und was kaum mehr ist als ein paar Tischmanieren. Man nehme das Argumentieren. Ich bezweifle, dass man es wirklich wertschätzt. Fordert ein Kind die Eltern mit seiner Argumentierfreude heraus, schimpfen sie es einen Besserwisser. Und dann die vielseitigen Beschimpfungen aus dem Feld der Literatur. Wer sich gern mit Geschriebenem beschäftigt, ist eine Leseratte oder ein Bücherwurm, wer sich nicht kurzzufassen versteht, erzählt Romane, und wer zur Hysterie neigt, macht Theater. Man stelle sich den Skandal vor, wenn ich es wagte, mit derselben Verachtung »Was für eine Fleischerei!« zu sagen. Die Fleischerinnung würde mir den Prozess machen, es gäbe eine Fernsehdebatte, man würde mich drängen, als reuiger Sünder aufzutreten. Und man hätte ja Recht. Keine Gruppe ist per se hassenswert. Leute, die das Lesen und die Literatur verunglimpfen, sollten sich selbst anklagen und zugeben, wie viel Gutes im »Buchwissen« steckt. Für mich jedenfalls gilt, dass fast alle guten Dinge, die ich gelernt habe, aus Büchern stammen. Und mein Verständnis der Welt oder das bisschen Verständnis, das ich von ihr habe, hat sich erst in dem Moment zu trüben begonnen, als ich dem Buchwissen meine persönliche Erfahrung hinzufügte.

Meine ganze Kindheit hindurch hieß es: »Nun spiel doch mal im Garten!« Zwar hielt man das Lesen nicht für schädlich, so vulgär ist meine Familie nicht, aber man beklagte die fehlende Abwechslung. Denn ich kannte nur einen einzigen Zeitvertreib: lesen. Um meinen Eltern eine Freude zu machen, spielte ich hin und wieder. Unter den verzückten Blicken meiner Mutter schob ich ein kleines Auto über eine mit Kreide gezeichnete Straße und langweilte mich dabei gehörig. Ich glaube, als Kind verabscheute ich Pflichten, besonders die eine: zu spielen. Beim Lesen hatte ich sehr viel mehr Spaß als beim Spielen oder gar beim Sport. Ich beschäftigte mich mit meinen Spielzeugautos, und wenn das elterliche Bedürfnis nach kindischen Dingen befriedigt war, wandte ich mich wieder meinem größten Glück zu: dem Lesen, das so viel interessanter ist als jede Form der Zerstreuung.

Wozu lesen? (Steidl Pocket)

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