Читать книгу Wozu lesen? (Steidl Pocket) - Charles Dantzig - Страница 25
Lücken lesen
ОглавлениеEiner der ersten Erwachsenenromane, die ich las, war das Satyricon von Petronius (Leser: zweite Hälfte 20. Jahrhundert; Autor: Mitte 1. Jahrhundert), und ich habe mich sehr gefreut, als ich erfuhr, dass dieser Text als erster abendländischer Roman gilt. Es ist ein munterer Roman. Spitzzüngig. Und fragmentarisch. Man erklärte mir, von antiken Büchern seien nur Abschriften erhalten, die in mittelalterlichen Klöstern angefertigt worden seien. Den Mönchen ist es hoch anzurechnen, dass sie mit ihrer naiven Liebe zu allem Geistigen ein Leben lang Bücher abschrieben, deren Religion ihrem Glauben widersprach, Bücher, die manchmal äußerst gewagte Dinge enthielten. Schlug vielleicht schon die Stunde zum Vespergottesdienst, weshalb der Bruder, der sich um Petronius kümmerte, mit geraffter Soutane, die Abschrift unter dem Arm, zum Refektorium eilte? Sind ihm dann in seiner Hast einige Blätter entglitten, die vom Wind ergriffen und auf einen Haufen Papier getragen wurden, der für die Verpackung von Likörflaschen bereitlag? Oder wurden die alten Papierbogen von Insektenflügeln entführt? Jedenfalls liegt uns das Satyricon nur unvollständig vor. Die Lektüre seiner Lücken hat etwas Faszinierendes. Weniger als das, was geblieben ist, und nur existent aufgrund dessen, was geblieben ist. Was hat diese Lücke einst gefüllt?, fragt man sich jedes Mal und wird noch mehr zum Sherlock Holmes, als man es ohnehin bei jeder Lektüre ist. Angeblich ist das Satyricon erst im Laufe seiner Reise durch die Zeit zum Lückentext geworden. Nun gut. Wenn ich nun aber behaupte, es liege nicht an der Zeit, sondern an Petronius’ Genie? Dass er seine Lücken selbst entworfen hat? Die Herablassung, mit der die Gegenwart der Vergangenheit begegnet, ist manchmal geradezu lachhaft. Schon mal gehört, dass es auch früher intelligente Leute gab? Also habe ich mir gesagt: Schreiben wir einen Lücken-Roman. Gesagt, getan: Nos vies hâtives hat sich zugegebenermaßen nicht gerade blendend verkauft.
Der Leser schafft sich wohl seine eigenen Lücken, indem er Seiten überspringt.