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Lesen, um die Leichen nicht ruhen zu lassen

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Der Leser ist keineswegs so passiv, wie er glaubt. Dem Anschein nach ein Monolog, ist die Lektüre eine Form der Konversation. Im Übrigen ist das, was man gemeinhin als Konversation bezeichnet, in aller Regel nur ein brillantes Selbstgespräch, dem ein begeistertes oder geduldiges Publikum Gehör schenkt. Beim Lesen wird ein lethargisches Denken wachgerüttelt durch ein scheinbar passives. Dabei wirken zwei Stimulanzien: die Sensibilität und die Erinnerung. Diese entscheiden darüber, welche Passagen uns berühren und wo wir die empfindsame Seite der Literatur finden. Sie und die Lektüre, ihre magere Kusine, haben das Beben gemeinsam. Ein geschriebener und gelesener literarischer Satz unterscheidet sich von denen anderer Textformen durch eben dieses Beben, das wiederum in der Unreinheit der Literatur ihren Ursprung hat.

Ich neige ein wenig dazu, Wörter in ihrem ursprünglichen Sinn zu verwenden, ohne Rücksicht auf die Konnotationen, die ihnen der Sprachgebrauch verliehen hat, und das ist ein Fehler. Der Sprachgebrauch schiebt einen bunten Filter vor die meisten Wörter. Wenn ich nicht darauf hinweise, dass ich Wörter ohne diesen Filter verwende, werden sie aller Welt in Farbe erscheinen und keinem so wie mir. Dabei möchte ich behaupten, dass die Verwendung von Wörtern in der Bedeutung, die ihrer Entstehung am nächsten ist, Sätze erzeugt, die den Leser stutzen lassen und seine Neugier wecken; wenn er ihren Sinn begriffen hat, wird er Geschmack daran finden, mehr zu verstehen als andere. Auf diese Weise ließe sich ein Club der Connaisseure gründen. Manchmal, etwa im Fall von Proust, werden solch elitäre Zirkel zu Massenveranstaltungen.

Zu wissen, dass man am Anfang nur eine Gruppe von Tausend war, reicht für das Selbstverständnis aus. Was für eine versnobte und naive Idee. Nun ja, sagen wir, sie hat etwas Japanisches: Wir sind die kleine Schar derer, die gewillt sind, eine Sache zu bewahren, die fragil und wertvoll und größer ist als wir selbst.

Wie dem auch sei, das Wort »Unreinheit« habe ich soeben im Sinne von »gemischt« verwendet, so wie auch eine Flüssigkeit unrein sein kann. Die Unreinheit der Literatur rührt nun daher, dass sie dem Denken lachhafte Emotion beimischt. Von daher ihre besondere Form. Ich verallgemeinere: Die Literatur ist etwas Geschriebenes, in das sich Emotionen mischen. Ich glaube nicht an den »Stil« als eine eigene, unverwechselbare Ausdrucksweise jedes guten Schriftstellers. Egos halten sich oft für einmalig. Dabei gehören sie einem Typus an. Die menschliche Person ist heilig, aber die Persönlichkeit gehört einer Gruppe an. Natürlich gibt es Nuancen, was jeden einzigartig und unersetzbar macht (übrigens das stärkste Argument gegen den Mord), aber sie reichen nicht aus, um zu behaupten, man könne an einem einzigen Satz den Schriftsteller erkennen. Man kann den Typ erkennen (den Enthusiasten, den Nörgler, den Rächer …), was natürlich ein Anhaltspunkt ist, aber um die Person zu erkennen, braucht man auch die Gedanken. Uff, ein guter Schriftsteller ist also ein Schriftsteller, der denkt. Das ist auch der Grund, warum besonders gehaltvolle Autoren wie Proust unendlich viele Kommentare nach sich ziehen. Extrem unterschiedliche Leser kommen bei ihm auf ihre Kosten. Jeder Kommentar zieht weitere Kommentare nach sich, und so heiligt sich die kreative Lektüre in der Exegese.

Hier droht ein Buch zur Bibel zu werden. Doch man liest nicht als Gläubiger, und ein Schriftsteller ist kein Gott. Man kann ihn lieben und verletzen, und ich denke, man hat sogar die Pflicht dazu. Ich bin nicht dafür, die Leichen in Frieden ruhen zu lassen. Eine Leiche, die man in Frieden ruhen lässt, ist endgültig tot.

Bombardiert die Friedhöfe!, betteln die Skelette, wenn sie nachts die Gräber verlassen, und strecken flehend ihre Fingerknochen den Flugzeugbäuchen entgegen, die blinkend in andere Gefilde verschwinden.

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