Читать книгу Die Tränen der Rocky Mountain Eiche - Charles M. Shawin - Страница 11

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Clarissa

Auch am nächsten Morgen schien die Sonne. Über Nacht war es aber empfindlich kalt geworden.

Dave hatte kurz gefrühstückt und danach die Werkzeugkiste auf dem Wagen verstaut, als auch schon Cuthbert bereit zum Aufbruch war. Sein Gesicht war blass, es machte den Anschein, als zürne er mit aller Welt. Wortlos setzte er sich auf den Wagen.

Sanft setzte sich Bessie in Bewegung. Die beiden Männer schwiegen. Ihr Weg führte sie an der Kirche vorbei, die jetzt im ersten Frühreif kahl und trostlos wirkte, vorbei an Hawken‘s Büchsenmacherei und Braddows kleiner Goldschmiede; dann verließen sie die Stadt. Hier riss Cuthbert die Zügel an sich und brachte Bessie jäh zum Stehen.

„Wo ist das Geld?”, fragte er hart. Seine Augen waren zu Schlitzen geworden, hinter denen es drohend funkelte. Clarissa Upton musste ihm von der Geldübergabe erzählt haben.

„Ist es nicht egal, wer das Geld hat?”, antwortete Dave ruhig. „Hauptsache ist doch, wir haben es. Mr Upton versprach, im Voraus zu zahlen, und das tat er auch. Weil du nicht da warst, gab er es mir.”

„Ich unterschrieb den Vertrag!”, beharrte Cuthbert laut. „Ich bin für das Geschäftliche zuständig, du für die Arbeit. Komm mir ja nicht in die Quere, Dave!” Er ballte die Faust.

„Schöner Geschäftsmann”, sagte Dave und sah Cuthbert geringschätzig an. „Upton übergab mir siebenhundert Dollar – und nicht, wie du behauptet hast, vierhundert.”

Für einen Moment sah es aus, als wäre es Cuthbert peinlich, bei einer Lüge ertappt worden zu sein, doch er hatte sich schnell wieder in der Gewalt. Er packte Dave grob an der Jacke und rief: „Du verdammter Bastard! Das ändert nichts an der Tatsache, dass du unrechtmäßig unterschrieben und das Geld an dich genommen hast. Du hast es unterschlagen! Du bist nichts weiter als ein verdammter Dieb!”

„Überleg dir, was du sagst!”, entgegnete Dave mit fester Stimme. „Wie ich die Sache sehe, ist immer noch Mr Hastings Blackmore Eigentümer der Zimmerei. Ihm übergab ich das Geld.”

Damit musste sich nun auch Cuthbert zufrieden geben, ob er wollte oder nicht. Seine Stirn legte sich in Falten, ein Zeichen, dass sich dahinter böse Gedanken zusammenbrauten, aber er hatte nun nichts mehr, womit er Dave belangen konnte. Er knurrte nur etwas Unverständliches und schwieg ansonsten.

Als sie weiterfuhren, starrte Cuthbert finster vor sich hin. Krampfhaft vermied er es, Dave anzusehen. Auch wenn er sich jetzt ruhig gab, wusste Dave genau, dass die Angelegenheit noch nicht ausgestanden war.

Bennry wartete bereits. Dave nahm zuallererst seine und Bens Decke, brachte sie ins Haus und bedankte sich bei Mrs Upton. Sie nahm die Decken stumm entgegen, warf mit kalter Arroganz den Kopf in den Nacken, wandte sich um und ließ Dave stehen. Verständnislos sah er ihr nach, wie sie in einem der Zimmer verschwand. Diese ihm entgegengebrachte Kühle tat Dave weh.

Der letzte Pfosten war rasch in den Fluss gerammt. Der Pier nahm nun Gestalt an. Acht Pfosten waren eingeschlagen worden, vier davon im Wasser. Insgesamt bildeten sie eine Länge von beinahe acht Yards. Jeweils zwei verbanden sie nun mit Diagonalstreben und Querhölzern. Darauf sollten dicke Bohlen kommen.

Sie waren gerade im Begriff, die Bretter zu sägen, als sich mit lautem Holdrio die Trapper näherten.

Sie kamen in zwei Kielbooten. Die Mitte der Boote nahm die so genannte Frachtbox ein, dies waren einfache, an ihren Enden offene Verschläge; in ihnen lagerten die Felle. Insgesamt waren es achtzehn Männer, unter ihnen zwei Kreolen und ein Métis, ein Halbindianer, die jetzt nach sechs Monaten in der Wildnis endlich wieder in die Zivilisation heimkehrten. Entsprechend groß war die Freude, die sie überschwänglich kundtaten.

Am Bug des ersten Bootes stand aufrecht eine imposante Erscheinung. Dave schätzte, dass der Mann mindestens sieben Fuß groß war. Seine dunklen Haare hingen in filzigen Zotteln von dem gewaltigen Kopf, den ein ebenso wilder Bart umgab. Seine Haut war von rötlichem Braun, die Augen schmal und verwegen. Die Schultern des Mannes waren breit und kräftig; sein Hemd, die Hose und die Schuhe waren vollständig aus Leder. Es schien, als habe er sie selbst gefertigt und als seien es die einzigen Exemplare, die er seit Jahren trage. Schon von weitem rief der Mann: „Seid ihr Uptons Angestellte?”

„Das sind wir!”, rief Cuthbert zurück und rannte den Booten entgegen. „Ihr werdet schon erwartet.”

„Das merke ich”, rief der Mann auf dem Bug belustigt. „Noch vor einem halben Jahr sah ein Pier anders aus. Wie sich doch die Dinge so schnell ändern. Ist Upton nicht da?”

„Der ist für ein paar Tage weg“, antwortete Cuthbert. Er schlug vor, die Boote einstweilen am Ufer festzumachen. In zwei Stunden sei der Pier fertig, versicherte er eifrig. Dann könnten die Boote dort anlegen und die Felle in die Scheune transportiert werden.

Der Lärm am Fluss lockte nun auch Mrs Upton nach draußen. Sie kannte die Ankommenden fast alle beim Namen und begrüßte sie herzlich. Den Mann am Bug redete sie mit „Captain” an. Er also war Orlando Bell, den schon Mr Upton erwähnt hatte. Clarissa lud alle zu einem Becher Whiskey ein, was sofort fröhlichen Anklang fand. Nachdem die Boote festgebunden waren, liefen die Männer wie eine Herde Schafe hinter Clarissa Upton her zum Haus.

Am Fluss wurde es wieder ruhig. Dave fragte sich, was diese wilden Männer jetzt wohl empfinden mochten. Ein halbes Jahr hatten sie in den Wäldern gelebt, hatten gutes Essen und ein sauberes Bad vermissen müssen, hatten dem Wetter und Gefahren getrotzt, und jetzt kehrten sie in den geborgenen Schoß der Zivilisation zurück. Trotz ihrer Entbehrungen, trotz ihrer Einsamkeit, die ein Leben in der Wildnis zwangsläufig mit sich brachte, beneidete er sie.

Ein unbestimmtes Gefühl war in Dave in dem Moment aufgeflammt, als er die Männer den Missouri herunterschippern sah. Fasziniert haftete sein Blick an den zerschundenen Gesichtern. In den Augen dieser Männer spiegelten sich Freiheit, Offenheit, unendliche Ruhe und Frieden und gleichzeitig wilde Verwegenheit. Hatten sie gefunden, wonach er schon ein Leben lang suchte? Lag dort draußen, irgendwo zwischen den zerklüfteten Bergen und den reißenden Flüssen, jenes Glück, das ihm bisher verwehrt war und von dem nur diese Trapper wussten?

Cuthbert riss ihn jäh aus seinen Gedanken. Er hatte es plötzlich eilig, den Pier fertigzustellen und legte selbst fleißig mit Hand an. Doch als die Bretter angenagelt waren und es sich sicher darauf herumlaufen ließ, war er – wie sollte es anders sein – plötzlich wieder verschwunden. Er zog die Gesellschaft der Whiskey trinkenden Männer vor. Insbesondere aber suchte er die Nähe von Clarissa Upton.

Dave und Ben Bennry machten sich wohl oder übel allein daran, ein Geländer an den Laufsteg zu bauen. Anschließend gingen sie noch in die Scheune, warfen das Heu von der Empore und fegten sie sauber. Am frühen Nachmittag waren auch sie fertig mit ihrer Arbeit.

Seit der Ankunft der Trapper waren mehrere Stunden vergangen. Mrs Upton hatte in der Zwischenzeit nicht mit Whiskey gespart, und als Dave den Männern erklärte, der Pier stehe nun, fanden sich nur Captain Orlando Bell und sechs weitere, die bereit und auch nüchtern genug waren, um die Pelze in die Scheune zu transportieren.

Als Bell das erste Boot an den Pier manövrierte und hart an die Pfosten stieß, diese aber keinen Zoll nachgaben, und als dann die Männer mit hundert Pfund schweren Bündeln die Treppe emporstiegen und auch diese fest in ihrer Verankerung lag, erst dann war Dave mit seinem Werk vollauf zufrieden.

Eigentlich hätte er sich jetzt Ruhe verdient. Der erste Teil des Auftrags, den Pier innerhalb von drei Tagen fertig zu stellen, war erfüllt. Weil er aber noch nicht müde war, half er den Trappern.

Einer der Männer war Henry Reed. Er war so lang wie Bell, aber nicht so muskulös, fast schon dürr. Alle nannten ihn nur „Long”. Von ihm erfuhr Dave etwas über die Trapper und ihre Organisation.

„Eigentlich sind wir keine Trapper”, sagte Long, während sie die Bündel mit der Seilwinde auf die Empore hievten. „Wir schaffen nur die Felle, die uns die Fallensteller liefern, in den Osten.” Er erzählte von der schweren Arbeit, die Fallen im Herbst in den kalten Gewässern anzubringen, von den Indianern und den grässlichen Wintern in den Bergen, die schon manchen das Leben gekostet hatten. Nicht minder gefährlich aber sei die Reise auf dem Missouri, meinte er ernst. Treibholz und Sandbänke seien tückische Fallen. Und an den zahlreichen Stromschnellen sei es unumgänglich, die Boote zu entladen und die Fracht meilenweit durch unwegsame Wildnis zu schleppen, um danach das Boot selbst mit vereinter Kraft über das Hindernis hinweg zu ziehen. Trotz der Mühsal, die eine solche Fahrt mit sich brachte, erzählte Henry Long Reed mit Stolz davon. „Im März, wenn die Flüsse eisfrei sind, fahren wir wieder los”, sagte er. „Wir wollen dann oben am Yellowstone einen Zwischenposten errichten.”

Dave hatte mit Interesse und Faszination zugehört. Long schien das zu bemerken, denn er sagte: „Warum kommen Sie nicht mit? Ein guter Zimmermann ist uns immer willkommen.”

Das Angebot kam überraschend. Im ersten Moment hätte Dave beinahe begeistert zugesagt. Doch dann fiel ihm Mr Blackmore ein. Ohne Dave wäre der väterliche Freund verloren. Er konnte wegen seines Rheumas seinen Unterhalt nicht bestreiten, geschweige denn sich eine ordentliche Mahlzeit zubereiten. Und auf Cuthbert war kein Verlass. Nein, er durfte Mr Blackmore nicht im Stich lassen.

Dave schüttelte traurig den Kopf. „Es geht leider nicht.” Aber der Gedanke, mit diesen Männern in den fernen Westen zu ziehen, ließ ihn lange nicht los.

Reed sah ihn verständnislos an. „Vielleicht überlegen Sie es sich noch”, sagte er.

Innerhalb einer Stunde war es dunkel geworden. Die Fenster des Hauses waren von sanftem Licht erhellt. Jemand begann, auf der Fidel zu spielen. Eine helle, wohlklingende Stimme setzte ein und schwebte durch die klare Nacht zu ihnen in die Scheune herüber. Clarissa Upton sang ‚Beautiful Dark Light‘. Die Harmonie ihres kräftigen Soprans erstaunte Dave. Noch mehr aber war er erstaunt, als ihm jetzt unaufgefordert Henry Reed von Mrs Upton erzählte.

Ihr Vater sei ein deutscher Baron gewesen, sagte er, der in Amerika aber nie hatte Fuß fassen können. Eine Zeit lang versuchte er sich als Exporteur von Tabak, besaß sogar ein eigenes Schiff, aber die Konkurrenz war zu gewieft und der Baron ein zu schlechter Geschäftsmann. Das Vermögen war rasch verbraucht. Um seine Familie durchzubringen, arbeitete er als Farmer, dann als Dockarbeiter. Im Alter von nur vierundfünfzig Jahren starb er völlig verarmt. Clarissa, die im Luxus aufgewachsen war, konnte es nie verwinden, mittellos zu sein. Schon früh verließ sie das Elternhaus. Sie schlug sich als Küchenhilfe und später als Sängerin durch. Unter anderem trat sie zwei Jahre im ‚Nightlight‘ in New York auf. Zu Reichtum brachte sie es aber nie. Granville Upton lernte sie in Baton Rouge kennen. Sie war ziemlich heruntergekommen und arbeitete als Barmädchen in einer miesen Spelunke.

„Woher wissen Sie das alles?“ fragte Dave.

„Bevor Granville sie kennen lernte, war ich mit ihr zusammen”, antwortete Reed ohne Bedauern.

Gedankenverloren sah er hinüber zu den erleuchteten Fenstern, hinter denen die Fidel Clarissas Gesang begleitete. Dann murmelte er: „Um zu überleben, war sie gezwungen, jedes sittliche und moralische Empfinden abzulegen. Ohne Skrupel nimmt sie sich das, wovon sie sich erhofft, ein besseres Leben führen zu können. Selbst wenn es ein anderer Mann ist. Der, der sie verurteilt, hat nie die Härte des Lebens gespürt. Im Grunde tut sie mir Leid. Sie sucht nicht Reichtum, sondern Geborgenheit. Und die wird sie auch bei Granville nicht finden.”

Er schüttelte den Kopf, so, als müsse er sich gewaltsam aus seinen Gedanken reißen.

„Die Felle sind verstaut”, sagte er plötzlich und packte Dave am Arm. „Wir haben uns einen Schluck Whiskey verdient.” Dave war einverstanden, und beide schlenderten hinüber ins Haus.

Als dann Dave inmitten der ausgelassenen Männer der Wildnis saß, musste er an Mr Blackmore denken, der einmal gesagt hatte, Trapper seien allesamt Raufbolde und man lasse sich besser nicht mit ihnen ein. Er stellte fest, dass es tatsächlich wilde Burschen waren, die sich einen Dreck um Manieren scherten, doch es waren auf keinen Fall Raufbolde. Zumindest jetzt nicht. Manche waren dermaßen besoffen, dass sie sich kaum noch auf den Stühlen halten konnten, sie wurden deswegen aber weder ausfällig, noch suchten sie ihre Behauptungen mit der Faust durchzusetzen. Der eine war für den anderen wie ein Bruder. Dave verglich sie mit einer großen Familie. Sie waren wie eine verschworene, feste Einheit. Er selbst hatte nie das Gefühl genießen können, in einer richtigen Familie zu leben.

Clarissa war in Daves Augen seit dem Gespräch mit Reed eine andere geworden. Nicht mehr die Arroganz, die sie selbstherrlich zur Schau trug, markierte ihr Wesen; Dave sah nun durch diese Hülle hindurch und erkannte einen Menschen, der wie er Anerkennung und Freiheit suchte.

Während der zwei Stunden, die er im Haus verbrachte, sprach Clarissa kein einziges Wort mit ihm. Vielleicht, weil sie zu beschäftigt war. Stets war sie unterwegs, um die Becher zu füllen, hin und wieder setzte sie sich auch zu einem der Männer, um etwas über die Jagdausbeute oder die schwierige Flussfahrt zu erfahren. Und zwischendurch sang sie. Sie stellte sich hierzu auf einen freien Platz im Raum und bewegte sich dabei voller Anmut und Eleganz zur Fidel. Ihr Tanz war perfekt, und die Bewegungen ihrer Arme, Beine und Hüften, sowie das kokettierende Augenzwinkern, wenn sie den Kopf frech zur Seite legte, musste auf die angetrunkenen Männer zwangsläufig aufmunternd wirken. Doch ließ sie nie den geringsten Zweifel aufkommen, zu wem sie gehörte. Sie war die Frau des Admirals, und als diese mussten sie die Männer akzeptieren.

Dave bemerkte wohl, dass sie ihn manchmal heimlich beobachtete. Clarissa sah dann schnell weg, doch einmal blickte er direkt in ihre Augen. Erschrocken erkannte er, dass es glanzlose, leere Augen waren. Augen ohne Hoffnung, ohne Wärme, ohne Zukunft. Dieser Blick stach ihm schmerzhaft in die Brust.

Als er später im Bett lag, konnte er lange nicht einschlafen. Fortwährend sah ihn Clarissa an – diese Frau, die voller Zauber und Geheimnisse war.

Am nächsten Tag fuhr Dave nicht hinaus zu Uptons Haus. Der Pier war fertig, das war die Hauptsache. Mit der Scheune konnte er sich Zeit lassen. Er besuchte das Grab seiner Mutter, schnitt die Rosen, die Mrs Blackmore gesetzt hatte, hackte später für sich und Mr Blackmore Feuerholz, versorgte Bessie, räumte die Werkstatt auf und holte all die Arbeit nach, die liegen geblieben war.

Als beide am Abend in der Küche beim Essen saßen – Cuthbert war schon früh weggeritten, wohin, hatte er nicht verraten –, sagte Mr Blackmore auf einmal: „Er ist dennoch mein Sohn. Auch wenn Cuthbert uns hintergehen wollte, er ist noch immer mein Sohn. Ich werde ihm das Geld nicht geben, aber ich werde ihm auch nicht mehr zürnen.”

Dave hatte wegen des Streits nichts erwähnt, und er verschwieg ihn auch jetzt. Er nickte stumm.

Auch den folgenden Tag verbrachte Dave zu Hause. Er sammelte das Laub im Garten zusammen, erntete endlich die Zaunrüben, deren Wurzeln Mr Blackmore verwendete, um sein Rheuma zu lindern, und reparierte schließlich die Tür an seiner Hütte, die seit Wochen knarrte. Unbewusst schob er die Arbeit an Uptons Scheune vor sich her. Manchmal drängte sich Clarissa in seine Gedanken, doch er versuchte jedesmal, sie aus seinem Kopf fernzuhalten, was ihm aber nicht immer gelang.

Am dritten Tag konnte er sich Uptons Auftrag nicht länger entziehen. Er schirrte Bessie vor den Wagen, holte bei der Sägemühle das restliche Holz ab und fuhr zu Uptons Haus.

Die Trapper waren inzwischen alle fort, sie hatten in der Stadt Unterkünfte gefunden. Aber auch Ben Bennry war fort, und das wunderte Dave. Dafür stand Cuthberts Pferd vor dem Haus.

Dave fuhr den Wagen zur Scheune, weil er dort mit dem Verlegen des Bodens beginnen wollte. Am Tor hatte man in der Zwischenzeit wegen der Felle ein Schloss angebracht. Er lief deshalb zum Haus, um den Schlüssel zu holen. Auf sein Klopfen antwortete niemand. Da die Tür unverschlossen war, trat er ein.

„Mrs Upton!”, rief er, und wieder, diesmal etwas lauter: „Mrs Upton!”

Aus einem der hinteren Räume drangen jetzt Geräusche. Hektische, polternde Geräusche, als ob jemand herumrenne, dazwischen nervöses Geflüster, dann ein schleifendes Knarren, wie es entsteht, wenn man ein Fenster hochschiebt. Mit einem Mal war alles still. Kurz

darauf erschien Mrs Upton. Sie kam aus dem Schlafzimmer und wirkte verlegen. Ihr Kleid war unordentlich und ihr Haar offen. „Ich habe noch geschlafen”, entschuldigte sie sich.

Dave wusste sofort, dass sie log. Zum zweiten Mal war er ungewollt Zeuge einer peinlichen Situation geworden. Das erste Mal hatte er den Vater erwischt, jetzt den Sohn. Denn dass Cuthbert im Haus gewesen war, bewies sein Pferd draußen vor der Tür. Es ging Dave nichts an, was Mrs Upton trieb, während ihr Mann geschäftlich unterwegs war, und doch berührte es ihn tief. Er empfand Enttäuschung, Hass und Schmerz zugleich.

Er nickte. „Ich brauche den Schlüssel für die Scheune”, sagte er und erschrak über das Zittern in seiner Stimme.

Clarissa ging, um ihn zu holen. Als sie Dave den Schlüssel in die Hand drückte, sah sie ihm lange in die Augen. „Es ist nicht, wie Sie denken”, hauchte sie heiser.

Wieder nickte Dave. Er umklammerte den Schlüssel fest, wandte sich dann schnell um und verließ das Haus. Im Hinausgehen stieß er mit Cuthbert zusammen, der eintreten wollte. Dave sah ihn verächtlich an, ließ ihn aber stehen und lief hinüber zur Scheune.

Er öffnete das Tor und fuhr den Wagen ins Innere. Mit starrem Blick und starren Bewegungen fing er an, das Holz abzuladen. Damals, als er Mr Hastings Blackmore beobachtet hatte, war er ebenfalls starr gewesen. Damals war er aber noch ein Kind gewesen, auf das das Gesehene wie ein Schock gewirkt hatte. Inzwischen hatte er erfahren müssen, dass Sitte und Moral wie ein Blatt im Wind waren, das es mal hierhin, mal dorthin trieb. Man verlangte nach Zucht und Ordnung und Gesetzen und legte sie doch so aus, wie es im Moment am bequemsten passte. Längst hatte er sich mit dieser Doppelmoral abgefunden, dieser verlogenen Heuchelei. Und gerade deswegen wunderte es ihn, dass er heute so bestürzt war. Sollte ihm tatsächlich mehr an Clarissa Upton liegen, als er sich eingestand?

Fünf Minuten später kam Cuthbert zu ihm in die Scheune. „Ich rate dir, es für dich zu behalten!”, sagte er unverblümt.

Dave wollte keinen Streit, und er wollte erst recht nicht von dieser Sache reden. „Bennry ist nicht hier”, sagte er. Erleichtert stellte er fest, dass seine Stimme nicht mehr zitterte.

„Ich habe ihn heimgeschickt. Wir brauchen ihn nicht mehr.“

„Du brauchst ihn nicht mehr?” Er sah Cuthbert schroff an. „Hast du ihn wenigstens anständig bezahlt?”

„Wie soll ich ihn bezahlen, wo du Vater das Geld gegeben hast?”, schimpfte Cuthbert. „Ich werde ihm seinen Anteil geben, wenn er im Frühjahr wiederkommt.”

„Und was wirst du Upton geben, wenn er wiederkommt?” Unwillkürlich kam Dave nun doch auf das Thema.

„Wir werden hier weiter arbeiten, wie zuvor auch.” Für Cuthbert war damit alles in schönster Ordnung. „Er ist selbst schuld, wenn er seine Frau allein lässt.”

„Wenn man es so sieht. Aber ohne Uptons Auftrag wüssten wir nicht, wie wir den Winter überstehen sollen.”

„Spiel dich ja nicht als Moralapostel auf”, fuhr ihn Cuthbert zornig an. „Nicht du. Hast selbst genug Dreck am Stecken. Unterschlägst Geld. Und vor allem: Deine Mutter war nicht anders als das, was du mir jetzt vorwirfst.”

„Lass meine Mutter aus dem Spiel!”

„So, auf einmal. Hörst es nicht gern, was! Wie kommt es dann, dass sie ein Kind und gleichzeitig noch ihren Mädchennamen hatte?”

„Das weißt du ganz genau.”

„Natürlich weiß ich das, Davy. Weil sie es mit jedem getrieben hat, deshalb.”

Es war mehr ein Reflex als ein gewollter Schlag. Plötzlich schoss Daves Faust hervor und traf hart gegen Cuthberts Kinn. Einen Moment taumelte Cuthbert. Mit funkelnden Augen starrte er Dave an. Jäh schlug er ihm in den Magen, dann mit dem Knie gegen den Kopf. Dave stürzte zu Boden. Seine Lippe blutete. Wie eine Katze war er wieder auf den Beinen, und als er jetzt auf Cuthbert einschlug, tat er es wie ein wildes Tier, und all der unterdrückte Zorn, der sich die ganzen Jahre über in ihm angestaut hatte, brach wie ein Vulkan aus ihm hervor.

Gott sei Dank unterbrach Clarissa den Kampf, sonst wäre Dave noch zum Mörder geworden. Die immer lauter werdenden Worte hatten sie beunruhigt. Sie kam zur Scheune gelaufen, stürzte sich schützend über Cuthbert und schrie Dave an: „Hör auf! Mach dich nicht unglücklich!”

Benommen stierte Dave auf seine Hände, die rot von Cuthberts Blut waren. Vor ihm lag Cuthbert am Boden, das Gesicht aufgeschlagen, sein Atem ging keuchend. Clarissa war über ihn gebeugt, mit aufgerissenen Augen starrte sie Dave fassungslos an.

Mit einem Mal begriff er, was er getan hatte. Schwankend vor Schwäche taumelte er zum Tor hinaus.

Die Tränen der Rocky Mountain Eiche

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