Читать книгу Die Tränen der Rocky Mountain Eiche - Charles M. Shawin - Страница 13

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Orlando Bell

Eine merkwürdige Beobachtung änderte Daves Leben. Ohne es zu wollen, wurde er Zeuge einer Szene zwischen Orlando Bell und den beiden Kreolen. Sie standen vor Uptons Scheune und unterhielten sich so laut, dass es Dave, der im Inneren der Scheune arbeitete, zwangsläufig mitbekommen musste. Die Kreolen weigerten sich plötzlich, an der Fahrt teilzunehmen. Den Captain erzürnte nicht nur, dass sie ihren Rücktritt so kurzfristig bekanntgaben; vor allem geriet er in Zorn, weil er die beiden Männer sehr schätzte und ihre Erfahrung und ihr Wissen eine klaffende Lücke in der Mannschaft zurückließen. Auf die Schnelle gleichwertigen Ersatz zu finden, war so gut wie unmöglich.

„Ihr habt es mir versprochen!”, brüllte der Captain. Doch am Entschluss der Kreolen war nicht zu rütteln. Dave konnte ihre Gesichter nicht sehen, aber ihren Stimmen nach zu urteilen, war es ihnen sehr ernst. Sie hatten gestern eine Taube geschlachtet, um aus ihrem Blut ihr Schicksal zu deuten.

„Tot”, sagte der eine Kreole.

„Alle tot”, ergänzte der andere.

„Wer ist tot?”, fragte merklich erschrocken Orlando Bell, der riesenhafte Captain.

„Alle tot. Ganze Mannschaft.”

„Am Yellowstone lauert der Tod.”

Eine Weile blieb es draußen vor der Scheune still. Dann schien sich Bell gefasst zu haben.

„Aberglaube”, behauptete er mit sicherer Stimme. „Nichts als Firlefanz. Ihr könnt mich jetzt nicht im Stich lassen.”

Sie konnten. Die beiden Kreolen ließen sich auf keine weitere Debatte ein. Sie hatten gesagt, was sie vorausgesehen hatten, mehr sagten sie nicht mehr. Sie schwiegen einfach. Zwei Minuten später gingen sie weg.

Ungewollt war Dave Zeuge geworden. Er war nie abergläubisch gewesen, und dass vom Tod gesprochen worden war, verdrängte er schlichtweg. Vielleicht auch deshalb, weil sich etwas anderes in sein Bewusstsein drängte und ihn von Stunde zu Stunde mehr einnahm. Ohne die Kreolen fehlten dem Captain zwei Männer. Er würde

Ersatz suchen müssen. Mit einem Mal öffnete sich Dave unvermutet eine Tür. Jetzt war seine Chance gekommen. Er musste nur durch diese Tür gehen. Von diesem Zeitpunkt an konnte er an nichts anderes mehr denken. In Gedanken sah er sich schon als Mann der Wildnis, als freier, glücklicher, ungebundener Mann.

Nachdem Dave mit zunehmender Ungeduld die Arbeiten an der Scheune und dann auch an der Schmiede abgeschlossen hatte und nur noch der Stall zu richten war, bekam er Gesellschaft. Henry Long Reed und zwei andere Männer arbeiteten in der Schmiede, sie reparierten Fallen, die sie den Trappern bei ihrer nächsten Fahrt mitbringen wollten. Außerdem waren vier Männer zwei Tage lang beschäftigt, die Fellbündel auf einen Wagen zu laden, zum Hafen zu transportieren und auf das Schiff zu verfrachten. Als es den Tag darauf den Mississippi stromabwärts schipperte, war Granville Upton mit an Bord. Er würde die Felle in New Orleans verkaufen, würde mit den anderen Teilhabern der Louisiana Fur Company Geschäft-liches bereden und erst in drei Wochen wiederkehren.

Bevor er abreiste, sagte er zu Dave: „In New Orleans kenne ich eine Frau. Vielleicht hat sie Lust, mich nach St. Louis zu begleiten?”

Dave mochte Upton, und irgendwie tat ihm der Mann leid. Clarissa war keine gute Frau gewesen, und so wünschte er ihm viel Erfolg. Upton hatte eine gute Frau verdient.

Das ungewöhnlich warme Wetter hielt an. Eine Woche nach Blackmores Beerdigung war der Schnee, der zuletzt nur noch Matsch gewesen war, vollkommen verschwunden. Es regnete viel. Die Stadt und die Prärie drumherum waren von blasser, farbloser Erscheinung. Sie wirkten hinter dem Regenschleier wie abgestorben. Nur die beiden Flüsse, die sich hier zu einem einzigen gewaltigen Strom vereinigten, schäumten von ungestümem Leben. Das Schmelz-

wasser ließ sie anschwellen, die schmutzig-braune Flut brach sich tosend ihren Weg in dem natürlich vorgegebenen Bett. Westlich von St. Louis stieg der Missouri über die Ufer und nahm eine riesige Fläche von mehreren hundert Quadratmeilen in seinen vorläufigen Besitz. Die Stadt selbst blieb Gott sei Dank verschont.

Henry Reed sagte, sobald der Fluss zurückginge, würde sich die Brigade einschiffen. Diese Nachricht war für Dave wie ein lang ersehntes Signal. In Gedanken war er längst einer dieser verwegenen Männer. Mit ihnen gen Westen zu reisen, bedeutete für ihn, ein neues Leben zu beginnen. Er würde Menschen zurücklassen, die ihn abseits gestellt hatten, die ihn verurteilt und ausgegrenzt hatten. Menschen, die ihm nicht das Geringste bedeuteten. Als realistisch

denkender Mann stellte er sich aber auch die Frage: Was erwartete ihn dort draußen in jener unbekannten Welt? Würde er endlich die Erfüllung finden, die ihm hier verwehrt war? Andererseits: Was konnte er bei einem Versuch verlieren?

Dave nahm Reed beiseite und sagte: „Wenn ihr noch immer einen Zimmermann sucht, so bin ich dabei.”

Reed freute sich ehrlich, doch räumte er ernst ein: „Ich hoffe, es ist nicht zu spät. Der Captain verpflichtet schon immer sehr frühzeitig seine Männer.” Er riet Dave aber, es trotzdem zu probieren. Dann hielt er Dave zurück. „Warte! Vielleicht ist es besser, ich komme mit.”

Er legte den schweren Schmiedehammer beiseite, zog die Lederschürze aus, dann liefen beide im Regen hinunter in die Stadt und dort in den Saloon.

Es war das erste Mal, dass Dave J. D. Hudsons Saloon betrat. Der Schankraum zog sich über die gesamte Länge des Hauses hin, war aber nur fünf Yards breit. Er wurde zusätzlich durch die Theke eingeengt, die sich in der Mitte in den Raum schob und fast ein Viertel der Gesamtfläche einnahm. Daneben stand das Piano, dessen hellen Klang Dave manchmal von außen gehört hatte, das jetzt aber stumm war. Die runden Tischchen vor der Theke waren nur leidlich besetzt. Arbeiter waren es oder Übernachtungsgäste, die hier ihr Essen einnahmen oder einfach nur gekommen waren, um einen Whiskey zu trinken, Karten zu spielen oder zu würfeln. Den Raum füllte beißender Rauch, der in Schwaden in der Luft schwebte, der Wände und Decke schwarz geräuchert und sich in einem bräunlichen Teerfilm auf die Fensterscheiben gelegt hatte. Durch die Fenster drang deshalb nur schwaches Licht, und die Petroleumlampen, die von der niedrigen Balkendecke hingen, erhellten den Raum nur wenig. Penetranter Schweißgeruch vermischte sich mit dem Rauch zu widerlichem Gestank.

Als sich Daves Augen an den Rauch gewöhnt hatten, erkannte er an der Theke am Boden sitzend eine verkommene Gestalt. Es war zweifellos ein Indianer, gegen ihn aber sahen die Caddos draußen vor der Stadt aus wie Fürsten. Seine Kleidung bestand nur noch aus Fetzen, die voller Kot und Schmutz waren und den ausgemergelten

Körper lose bedeckten. Die Hände und die nackten Füße waren grotesk verunstaltet. Das schlohweiße Haar hing in fettigen Strähnen in das dunkle, faltige Gesicht, aus dem leere Augen wie stumpfsinnig vor sich hinstarrten.

Dave erschrak, als er in dieser armseligen Kreatur den Medizinmann erkannte, zu dessen Hütte ihn Cuthbert einst geführt hatte. Nichts erinnerte mehr an die Erhabenheit und den Stolz, die der Indianer damals verkörpert hatte. Nun war er nur noch ein Wurm, der sich jämmerlich am Boden krümmte und die Spucknäpfe säuberte, um ein paar Cents für einen Whiskey zu verdienen.

Zu jener Zeit war Dave noch zu unerfahren und wusste nicht, was es für einen Indianer bedeutete, auf Weiße zu stoßen. Vor nicht allzu vielen Jahren gehörte dieses Land noch den Missouri-Indianern, die in vielen kleinen Dörfern lebten. Als dann der Zustrom der Weißen immer gewaltiger wurde, wagte es eines dieser Dörfer, dem Eroberer die Stirn zu bieten. Es kam zu kleinen Scharmützeln. Doch dann, wie aus heiterem Himmel, grassierten in dem Dorf die Pocken. Niemand wusste, woher die Seuche kam, die den Indianern unbekannt war und gegen die sie weder Abwehrkräfte noch eine wirksame Medizin besaßen. Von den fünfundneunzig Menschen überlebte nur einer: der Medizinmann Adlerwolke. Weil er das Land, das er über alles liebte und das die Seelen seiner Verwandten beherbergte, noch immer nicht verlassen wollte, lebte er fortan in jener einsamen Hütte außerhalb der Stadt. Wieder verstrichen Jahre. Adlerwolke versorgte sich mit Pfeil und Bogen und entbehrte nichts. Die fremden Menschen, die nicht weit entfernt in St. Louis lebten, störten ihn nicht, und er störte sie nicht. Nur manchmal besuchten ihn neugierige Jungen, um Schabernack mit ihm zu treiben, manche erschreckten sich auch vor ihm und flohen. Doch dann kamen eines Tages vier jugendliche Reiter. Aus Übermut oder Tollheit oder sonst einem unerklärlichen Grund packten sie den Alten, fesselten ihn am Boden und ritten mit ihren Pferden über ihn hinweg. Dabei wurden Hände und Füße des Medizinmannes zertrümmert. Von nun an war er unfähig, zur Jagd zu gehen. Der Hunger trieb ihn in die Stadt. Die meisten in St. Louis bedauerten sein Schicksal, doch helfen wollte ihm niemand. Viele sahen in ihm auch nur den Wilden, das bestialische Tier, in dem sich all die Toten spiegelten, die durch Indianer ihr Leben hatten lassen müssen. Hohn und Spott preisgegeben, war Adlerwolke nun auf das angewiesen, was ihm die Menschen hier in gutmütiger Laune vor die verkrüppelten Füße warfen.

Auch wenn Dave von all dem nichts ahnte, so empfand er doch tiefes Mitgefühl und bedauerte das Schicksal dieses langsam sterbenden Indianers.Weiter darüber nachzudenken, dazu kam er momentan nicht, denn Reed führte ihn zu Orlando Bell.

Der Captain saß in einer Nische mit sechs seiner Männer am Tisch. Seit Tagen waren sie damit beschäftigt, die Reise vorzubereiten, hatten die Boote überprüft und ausgebessert, hatten die Route geplant sowie Handelswaren, Blei und Proviant erstanden. Auch heute

waren sie von früh an unterwegs gewesen. Nun ließen sie bei Eiern mit Speck, zu dem sie dünnes Bier tranken, den Tag ausklingen.

Reed und Dave setzten sich zu den Männern an den Tisch. Der Lange begann sofort, dem Captain von Daves Wunsch zu erzählen, und vergaß auch nicht, Daves handwerkliches Geschick zu erwähnen.

„Hm”, machte der Captain und musterte Dave mit strengem Blick. Dann sagte er: „Tatsächlich fehlen uns zwei Männer, seit die beiden Kreolen auf Nimmerwiedersehen verschwundensind. Hast du Erfahrung auf dem Fluss?”

„Nein”, musste Dave kleinlaut zugeben. An Bells Gesichtsausdruck erkannte er, dass er soeben seine Chance vertan hatte. Um zu retten, was noch zu retten war, sagte Dave schnell: „Aber ich werde es lernen. Es macht mir auch nichts aus, harte Arbeit zu verrichten oder Arbeiten, die sonst niemand gern macht.”

Bell schmunzelte, was Dave als Pluspunkt wertete. Ihr Gespräch wurde jetzt von dem greisen Indianer unterbrochen, der torkelnd herangetreten war und wie ehrfurchtsvoll vor den Männern auf die Knie fiel. Er stank erbärmlich nach rauchigem Whiskey und Urin. Seine verkrüppelten Hände zitterten, die er ihnen bettelnd entgegenstreckte. Dave fuhr unmerklich zusammen, als er nun in die Augen des Medizinmannes blickte. Diese Augen waren seltsam; weder Traurigkeit noch Verbitterung lagen in ihnen, auch kein Zorn, den er doch unweigerlich gegen die weiße Rasse empfinden musste. Nichts spiegelte sich in ihnen, sie waren leer, abgestorben, gespenstisch. Dave war, als starrten ihn die Augen eines Toten an.

Die zerfurchten Lippen des Indianers formten sich mühsam zu einem Lächeln. Mit schwerer Zunge brachte er lallend undeutliche Worte hervor und schob dabei seine zitternden Hände auf den Tisch. Auch wenn seine Worte nicht zu verstehen waren, so ahnte Dave doch, um was der Indianer bat. Er kramte in seiner Tasche, holte zehn Cent hervor und überreichte sie mit den Worten: „Kauf dir was zu essen.”

„Ich glaube, unser Freund ist eher an flüssiger Nahrung interessiert”, höhnte der Captain. Er gab ihm einen Vierteldollar.

Adlerwolke sah die Männer dankbar an. Wieder lächelte nur sein Mund, während die Augen kalt und scheinbar leblos blieben.

Die Männer sahen ihm nach, wie er auf den verkrümmten Füßen unbeholfen zur Theke schwankte. Er wirkte wie ein dürrer, vom Wind gebrochener Baum. Lallend bestellte er sich Whiskey.

Für einen Moment glaubte Dave so etwas wie Mitleid bei Bell zu entdecken, als der den Indianer an der Theke eine Weile betrachtete. Doch dann verzerrte sich sein bärtiges, rotbraunes Gesicht zu einem bösen Grinsen. „Du Narr!”, knurrte er. Es klang wie eine Ent-

täuschung.

Bell riss sich von der jämmerlichen Gestalt los und wandte sich wieder Dave zu.

„Nun, mein Junge, deine Einstellung freut mich. Aber was wird nach einer Woche sein oder nach einem Monat? Wenn dir plötzlich einfällt, das Leben in der Wildnis sei doch nicht so, wie du es dir jetzt vorstellst.”

„Ich kann einiges einstecken”, behauptete Dave überzeugt. „Es

haben so viele vor mir überstanden, ich werde es auch schaffen.”

Bell sah ihn musternd an. „Du hast recht: Weshalb solltest du es nicht auch schaffen? Aber sag mir noch eines: Weshalb willst du eigentlich mit uns?”

Ohne zu überlegen antwortete Dave: „Weil ich sonst in der Enge dieser Stadt zugrunde gehe.”

Wieder verzog der Captain das Gesicht. Diesmal wusste Dave die Mimik nicht zu deuten. Bell richtete noch etliche Fragen an ihn. So interessierte ihn zum Beispiel, ob er imstande sei, allein eine Hütte zu bauen, ob er mit dem Gewehr umgehen könne und ob er sich aufs Kochen verstünde. Bei der Frage mit dem Gewehr schummelte Dave etwas. Er hatte zwar Mr Blackmore immer zugesehen, selbst hatte er aber noch nie ein Gewehr geladen oder damit geschossen. Im Grunde aber waren all diese Fragen überflüssig gewesen. Henry Reed

sagte Dave später einmal, die Sache sei schon da entschieden gewesen, als Dave die Flucht aus der Stadt als Motiv für sein Fernweh angab. Bells Mutter war eine Fox-Indianerin, weshalb man ihm in Richmond, wo er aufgewachsen war, das Leben zur Hölle gemacht hatte. Seitdem war ihm jeder sympathisch, der wie er die bornierte Voreingenommenheit der Weißen hasste. Nicht die Weißen selbst hasste er, nur deren Einstellung andersfarbigen Menschen gegenüber.

Reed sagte später auch, dass es nützlich für Daves Zwecke gewesen sei, dass er dem bettelnden Indianer Geld geschenkt hatte. Das Halbblut Bell lobte jeden Weißen, der Indianer nicht wie ein Stück Vieh behandelte.

Nach insgesamt nur zwanzig Minuten reichte der Captain Dave die Hand und sagte: „Du bist unser Mann.”

Während sie ihr Abkommen mit Whiskey begossen, erläuterte Bell, was Dave nun als Angestellter der Louisiana Fur Company zustand und welche Pflichten er wahrnehmen musste. So stellte ihm die Company jährlich zwei Baumwollhemden und eine Decke. Des Weiteren hatte er Anspruch auf täglich zwei Unzen Nierenfett, ein Quart Mais sowie Salz, Mehl und Kaffee. Doch damit noch nicht genug. Dave war angenehm überrascht, als er erfuhr, dass er neben diesen Vergütungen zusätzlich Lohn erhielt. Es war zwar nicht viel, überschritt aber den Betrag, den er in der Zimmerei verdient hatte, um einiges. Ganze zweihundertfünfzig Dollar sollte er jährlich bekommen. Das Geld würde er allerdings erst nach dem ersten Jahr erhalten.

Dave staunte, als er nun im Stillen nachrechnete. Wenn man die Anzahl der jetzt siebzehn Angestellten plus der Trapper, die das ganze Jahr in der Wildnis lebten, mit diesem oder einem höheren Jahreslohn multiplizierte und dann noch die Ausgaben für die Reise dazu addierte, kam eine hübsche Summe zusammen. Alles in allem musste der Pelzhandel tatsächlich einen enormen Gewinn abwerfen, wie schon Granville Upton richtig gesagt hatte.

In dieser Nacht schlief Dave zum ersten Mal seit langer Zeit wieder glücklich in seiner kleinen Hütte ein. Sein Leben hatte plötzlich eine vollkommen neue Perspektive erhalten. Mit Erwartung fieberte er der Abreise entgegen. Doch am Tag vor dem ersehnten Aufbruch riss ihn eine Mitteilung Reeds herb aus seinen Träumen.

Der Stall war inzwischen fertig. Dave verwendete nun die verbleibende Zeit, um Blackmores Haus und seine Hütte in Ordnung zu bringen. So wie sie jetzt waren, wollte er sie nicht zurücklassen. Er nagelte die Bretter fest, derentwegen Mr Blackmore ums Leben gekommen war, wischte die Zimmer aus und räumte auf. Einen Abend nahm er sich frei und lief hinauf zum Friedhof. In Gedanken sprach er mit seiner Mutter. Das Grab im Stich zu lassen, behagte ihm anfangs gar nicht. Doch er wusste, seine Mum lag nicht mehr in dieser Gruft; längst war sie in eine andere Welt gewandert. Dort war sie in der Nähe ihres Schöpfers. Und sie war stets auch in seiner Nähe, weil die irdische und die jenseitige Welt durch ein unsichtbares Tor verbunden waren. Ein Tor, das nur im Herzen existierte. Auch dort draußen in der Wildnis würde seine Mum deshalb immer bei ihm sein.

Dave stellte sich auch an Mr Blackmores Grab und verweilte in Gedanken bei jenem Mann, dem er so viel zu verdanken hatte und der so plötzlich gegangen war. Schließlich widmete er auch Mrs Blackmore ein stilles Gebet.

Den folgenden Tag verbrachte Dave damit, die Tiere wegzugeben. Die Hühner und die vier Gänse schenkte er dem Medizinmann. Dave kannte nicht einmal seinen Namen. Der Indianer nahm die Tiere dankbar entgegen, und diesmal lächelte nicht nur sein Mund. Dave erkannte in seinen Augen ein kurzes Leuchten, eine Sekunde des Glücks. Wie eine Flamme, die aufflackert und im nächsten

Moment erstirbt. Ob der Indianer das Geflügel selbst aß, oder ob er es in Whiskey umwandelte, war allerdings fraglich. Der Alkohol hatte sich über die Jahre zu sehr in ihn hineingefressen, als dass er ihn jetzt auf einmal hätte beiseite schieben können.

Dave wollte schon wieder gehen, als ihm etwas einfiel. „Du kannst in meiner Hütte schlafen”, sagte er. Weil ihn der Indianer nur stumm angaffte, führte er ihn zu der Hütte und deutete ihm mit den Händen an, er könne nun für immer hierbleiben.

Adlerwolke starrte Dave nur an. Kein Funke in seinen Augen und kein Zucken seiner Lippen verriet seine Gefühle.

„Mach, was du willst”, brummte Dave. „Ich brauche sie nicht mehr, du kannst bleiben oder gehen. Jedenfalls ist es jetzt deine Hütte.”

Wie weit ihn der Indianer begriff, wusste Dave nicht. Als er aber am Abend heimkehrte, waren die Hühner und drei der Gänse wieder im Gehege und der Medizinmann lag im Bett und schlief.

Bessie, die treue Stute, wegzugeben, fiel Dave besonders schwer. Er gab sie Marcell, bei ihm war sie gut aufgehoben. Die Stute sollte er als Anzahlung betrachten. Marcell nahm die Gelegenheit wahr und kam auf ein Thema zu sprechen, das ihn schon lange gequält hatte. Blackmores Haus stand leer, Cuthbert war weg und nun würde auch Dave gehen, wie er erfahren hatte. Er wollte deshalb das Haus verkaufen, um damit die Schulden zu tilgen. Den Rest würde er den Armen geben, wie er treuherzig versicherte. Da Marcell ein gewisses Anrecht darauf hatte, fand Dave den Vorschlag ganz vernünftig. Allerdings bat er darum, mindestens ein Jahr zu warten. Sollte Cuthbert bis dahin nicht zurück sein, stand dem Hausverkauf nichts mehr im Wege. Weshalb sich Dave um Cuthbert sorgte, konnte er sich selbst nicht erklären. Vielleicht war es, weil sie in all den Jahren trotz allem zusammengewachsen waren. Im Grunde waren sie ja wie Brüder. Und obendrein stand Cuthbert das Haus rechtmäßig zu. Er war alleiniger Erbe.

Marcell nörgelte zwar etwas, doch schließlich war auch er einverstanden.

Nun war alles Nötige erledigt. Dave würde diese Stadt, an der nie sein Herz gehangen hatte, mit gutem Gewissen verlassen können. Und er würde es ohne Wehmut tun.

Am Tag vor der Abreise ging er noch mal hinaus zu Uptons

Anwesen. Er wollte die Holzabfälle und die Sägespäne, die er in einem großen Korb gesammelt hatte, am Fluss verbrennen. Dies

würde seine letzte Arbeit hier sein.

Upton war noch nicht zurück. Für Dave spielte das aber keine große Rolle. Sein Auftrag war erfüllt, und er konnte getrost mit Bell und seinen Männern aufbrechen. Er hätte sich nur gern von Upton verabschiedet.

Auch Reed hatte seine Arbeit beendet. Die Fallen für die Trapper waren repariert und verschiedene Defekte an Messern, Pfannen und Äxten ausgebessert. An diesem Vormittag stand er zufrieden

neben Dave und sah zu, wie das Feuer die Holzabfälle ergriff und sich dunkler Rauch entwickelte, der in einer dichten Säule empor zum Himmel schwebte. Dort hingen noch immer tiefe Wolken, aber es hatte seit Tagen nicht mehr geregnet. Auch der Missouri war abgeschwollen und zwei Kielbooten nun nicht mehr gefährlich. Die Boote lagen ruhig am Pier. Ein Teil der Ladung war bereits in den beiden Frachtboxen verstaut.

„Morgen geht es los”, sagte Reed. Für ihn würde es die vierte Fahrt werden. Und diesmal wollten sie länger bleiben, um oben am

Yellowstone ein Zwischenlager zu errichten. Jede Reise entlockte ihm neue Begeisterung. In dieser Beziehung war er wie alle Trapper oder Mountain Men oder Voyageure oder wie sie noch genannt wurden, diese Männer der Wildnis. Wen die unendlichen Prärien, die Wälder und die Berge erst einmal gepackt hatten, den ließen sie nicht mehr los. Wie eine Sucht waren sie, die einen so lange quälte, bis man wieder hinauszog. Und jedesmal taten es diese Männer mit größerer Freude und stärkerer Begierde.

„Morgen”, wiederholte Dave strahlend, als ginge es in das Gelobte Land. „Ich kann es kaum erwarten. Und ich kann es immer noch nicht fassen, dass Bell so schnell mit mir einverstanden war. Ein Neuling muss ihm doch nur eine Last sein.”

Der Lange grinste zustimmend. „Ehrlich gesagt war auch ich überrascht. Manchmal braucht es Tage, um ihn von einem Neuen zu überzeugen. Das Schicksal war eben auf deiner Seite.”

Sie unterhielten sich noch eine Weile. Als dann das Feuer verlosch, verabschiedeten sie sich. Man treffe sich morgen bei Sonnenaufgang hier am Pier, sagte Reed noch. „Vergiss dein Gewehr nicht.”

„Mein Gewehr?” Dave erschrak.

„Ach ja”, meinte Reed. „Der Captain hat es dir nicht gesagt, weil er es für selbstverständlich hält. Proviant und Kleidung ist für alle eingekauft, aber das Gewehr sollte jeder selbst mitbringen. Dies ist die einzige Bedingung. Da kommt keiner dran vorbei.”

An ein Gewehr hatte Dave nicht gedacht. Der Grund dafür leuchtete ihm ein. Bei einer Schießerei mit räuberischen Indianern war jede Waffe wichtig. Der Einzelne half so mit, das Leben der ganzen Gruppe zu sichern.

Als Dave nun heimwärts lief, überlegte er krampfhaft, woher er auf die Schnelle ein Gewehr nehmen sollte. Mr Blackmore hatte eine Büchse besessen, sie hing noch immer in der Küche am Haken. Aber es war nicht Daves Büchse. Wenn er sie einfach nahm, war das schlichtweg Diebstahl.

Dave besaß noch elf Dollar und fünfzehn Cent. Das Geld war in seiner Hütte in einem Topf über dem Herd verwahrt. Er holte es und ging damit zu Hawken‘s Laden, an dessen Scheiben er sich als Kind die Nase platt gedrückt hatte. Jake Hawken arbeitete jetzt mit seinem Bruder Samuel zusammen. Sie fertigten die besten Gewehre weit und breit. Ihre Kunden nahmen oft Tausende von Meilen in Kauf, um sich bei den Brüdern ein Gewehr zu bestellen. Ihr Geschäft blühte. Doch als Dave die elf Dollar auf den Ladentisch zählte, hob Jake Hawken nur mitleidig die Schulter. „Sie bekommen dafür

etwas Blei und zwei Pfund Pulver, aber keine Büchse.”

„Es muss keine neue sein”, versuchte es Dave.

„Tut mir leid”, meinte der Büchsenmacher ehrlich. „Gebrauchte Waffen habe ich momentan nicht im Laden. Vielleicht nächste Woche.”

Dave seufzte, als er die Tür hinter sich schloss. Mit einem Mal sah er seinen Traum entschweben. Diesen Traum, der ihm das Leben bedeutet hatte und der nur wegen eines simplen Gewehrs im Nichts verschwand.

Und doch war sein Traum greifbar nah. Er hing an einem Haken in Blackmores Wohnküche. Dave nahm das Gewehr herunter und sah es traurig an. Der Lauf war unverziert, und der jahrelange Gebrauch hatte feine Schrammen auf dem Ahornschaft hinterlassen. Es war ein sechziger Kaliber mit hoher Präzision, nicht besonders elegant, aber es war für ihn momentan das einzige Gewehr der Welt.

Ein hölzernes Kistchen hinter der Eckbank bewahrte die passenden Kugeln auf, etwa zwei Pfund Blei in Masse, zwei Pfund Pulver,

Feuersteine und eine Kugelzange. Der Inhalt dieses Kistchens und das Gewehr waren für Dave ein Schatz, der an diesem Tag wertvoller war als aller Reichtum. Und doch war er unerreichbar. Diese Sachen hatten Mr Blackmore gehört. Wenn sie jetzt jemandem gehörten, dann Cuthbert, dem einzigen Erben. Und selbst wenn Cuthbert nie zurückkäme, diese Sachen würden niemals Dave gehören.

Die Ausweglosigkeit ließ ihn verzweifeln. Die Stunden rannen dahin, während er in der Küche saß, die Büchse anstarrte und hoffte, es würde sich eine Lösung zeigen. Aber es fand sich keine Lösung.

Die einbrechende Nacht und der Zwang zum Handeln verleiteten ihn zu einem Weg, den er sonst nicht gewählt hätte. Er brauchte das Gewehr nur zu nehmen. Cuthbert hatte sich nie dafür interessiert, und einem anderen, zum Beispiel Marcell, würde der leere Haken nicht weiter auffallen. Zum ersten Mal verstand Dave, warum

Menschen aus Verzweiflung raubten oder betrogen.

Vermutlich würde niemand den Diebstahl bemerken, vermutlich würde Dave nie dafür zur Rechenschaft gezogen werden. Und dennoch zögerte er. Er musste sein Tun vor sich selbst und dereinst vor seinem Schöpfer verantworten. Das belastete ihn schwer. Erst als der Morgen dämmerte, rang er sich durch. Er schlüpfte in seine Schafwolljacke, zog sich die Mütze tief über die Ohren, schulterte dann das Gewehr, nahm das Kistchen unter den Arm und verließ das Haus. Er schloss es ab und legte den Schlüssel vor Marcells Tür. Dave verabschiedete sich nicht, denn es gab niemanden, der ihn vermissen würde. Nur einmal schaute er kurz zurück. Im Halbdunkel erkannte er eine Gestalt. Es war der alte Medizinmann, der die verkrüppelte Hand zitternd zum Abschied und wohl auch zum stillen Dank erhob. Niemand sonst bemerkte Dave, der an diesem kühlen Samstagmorgen des 2. April 1831 die Stadt hinter sich ließ. Wie ein Dieb schlich er sich davon.

Nur die Erinnerung an ungeliebte Zeiten trug er mit sich – und die Hoffnung auf ein besseres, ein erfüllteres und toleranteres Leben.

Die Tränen der Rocky Mountain Eiche

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