Читать книгу Die Tränen der Rocky Mountain Eiche - Charles M. Shawin - Страница 9
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Daves Verhältnis zu Mr Blackmore änderte sich nicht. Nach wie vor erkannte er in ihm den Mann, der seine Mutter als Einziger nicht im Stich gelassen hatte. Diese Dankbarkeit verpflichtete ihn. Und gerade jetzt benötigte ihn Mr Blackmore mehr denn je. Cuthbert zeigte noch immer wenig Interesse an der Zimmerei, und ihn selbst plagte seit einigen Monaten das Rheuma. Manchmal waren die Finger des alten Herrn so verkrampft, dass er nicht einmal mehr den Hammer halten konnte.
Auch Daves Verhältnis zur Kirche und zum christlichen Glauben änderte sich nicht, wenngleich sie Mrs Gardner neben ihrem Mann repräsentierte. Er besuchte regelmäßig den Gottesdienst, und Jesus war durch seine Mutter sowieso fest in ihm verwurzelt.
Nur die Gesellschaft, die in seinen Augen verlogen und feige war, mied er mehr als vorher.
Dave arbeitete hart und fleißig. Morgens war er der Erste auf der Baustelle und abends der Letzte, der sie verließ. Die Arbeit machte ihm noch immer Spaß. Er lernte begierig, und der Wunsch, selbst Zimmermann zu werden, festigte sich schon bald. Mr Blackmore meinte einmal, er besäße alle Voraussetzungen dafür. Er hatte ein gutes Auge, und seine Muskeln waren ausgeprägt und kräftig. Als Dave siebzehn war, konnte er selbständig alle Arbeiten erledigen, die für einen Zimmermann anfielen. Er sägte das schräge Hakenblatt oder den Scherzapfen so exakt, dass Mr Blackmore nur so staunte. Die meisten Bauherren lobten seinen Eifer und sein Geschick.
Dave nannte später einmal jene Zeit die Zeit der Entwicklung.
Seine Einstellung zur Gesellschaft entwickelte und festigte sich, seine handwerklichen Fertigkeiten entfalteten sich zur Perfektion, und seine Muskeln schwollen; sein Körper war ausgewachsen, er maß volle sechs Fuß. Und doch reifte etwas in seinem Körper heran, das er sich anfangs nicht erklären konnte, das fremd war und ihn
ängstigte. Dave entwickelte sich nun auch im biologischen Sinne vom Jugendlichen zum Mann.
Vierzig Meilen nördlich von St. Louis ließ sich in jenen Tagen eine Familie namens Beckworth nieder. Jack Beckworth übernahm hier eine Farm, dessen Vorbesitzer vor zwei Jahren an den Pocken gestorben waren. Leider hatte das Haus und die Scheune im letzten Winter ein Orkan arg in Mitleidenschaft gezogen. Beckworth, der Schiffs-
bauer in Philadelphia gewesen war, traute sich die Reparaturarbeiten durchaus zu; da ihn aber der Neuaufbau des Farmlandes sehr in Anspruch nahm, forderte er Hilfe bei Blackmore an, wollte und konnte sich aber nicht mehr als einen Mann leisten. Blackmore schickte Dave.
Um täglich hin und her zu pendeln, lag die Farm zu weit von St. Louis entfernt. Dave richtete sich deshalb im Pferdestall ein Lager aus Heu, zum Essen wurde er ins Haus geladen. Er saß dann zwischen Mrs Beckworth und deren Tochter Miriam, die schon neunzehn war. Mrs Beckworth hatte außer Miriam noch zwei weitere Töchter, vierzehn und zwölf Jahre alt, und einen Sohn, der gerade Laufen lernte. Die Zeit, die Dave auf der Farm verbrachte, war er ein gern gesehenes Mitglied der Familie.
Er arbeitete von Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang. Oft, wenn Beckworth und seine Frau auf den Feldern waren, war er sich allein überlassen. Dieses eigenverantwortliche Arbeiten gefiel ihm sehr gut und stärkte sein Selbstvertrauen.
Er und Miriam kamen sich nicht nur am Tisch nahe. Wenn sie das Haus und die kleineren Geschwister versorgt hatte, kam sie manchmal zu ihm, um ihm zu helfen oder um einfach nur dazusitzen. Sie erzählte dann von Philadelphia, vom Meer und von den großen Schiffen. Und sie beobachtete Dave sehr genau.
Dave bemerkte es wohl – und genoss es. Noch nie zuvor hatte ihm ein Mädchen so interessiert zugesehen. Ein seltsames Kribbeln, das aber keineswegs unangenehm war, durchströmte seinen Körper, wenn sie sich zufällig in die Augen sahen. Und wenn sich ihre Hände berührten, etwa, wenn Miriam ihm einen Nagel oder ein Brett reichte, war es wie ein Zucken, das ihm bis in die Knochen fuhr. Ein unbändiges Verlangen nach diesem Mädchen entstand, das er sich nicht erklären und dessen er sich nicht erwehren konnte – und auch nicht wollte. Schon bald führte er die Blickkontakte und die Berührungen der Hände bewusst herbei.
Auch Miriam empfand Ähnliches für Dave, vielleicht nicht so intensiv. In Philadelphia hatte sie einen Freund gehabt, und die erste sexuelle Erfahrung lag hinter ihr. Obwohl sie sich nach Daves Körper sehnte, hielt sie sich zurück. Immerhin war sie ein wohlerzogenes Mädchen, und sich einem Mann anzubieten, widerstrebte ihrem Stolz.
Dave brauchte nicht lange, um die geheimen Signale in ihm zu deuten. Die Natur verlangte ihr Recht. Und Miriam machte es ihm nicht unnötig schwer.
Es war an einem späten Nachmittag, als sie sich in die Scheune zurückzogen. Wie dann Miriam nackt vor ihm im Heu lag, schreckte er für eine Sekunde zurück. Der milchig-weiße Körper des Mädchens, die großen Wölbungen der Brüste, die breiten Hüften und die Schenkel erinnerten ihn plötzlich an Mrs Clara Gardner in jener heiklen Situation, die ihn damals so erschüttert hatte. Doch Miriams ermunterndes Lächeln wischte die Erinnerung und den Rest Angst weg.
Dave blieb noch zwei Wochen auf der Beckworth-Farm, dann war seine Arbeit beendet. Er und Miriam trafen sich in dieser Zeit, so oft sich die Möglichkeit dazu fand. Jedes Mal übertraf das vorherige an Intensivität und Lust. Für Dave war es wie ein Aufschrei, wie ein Ausbruch aus einer zu eng gewordenen Haut.
Der Abschied von Miriam fiel ihm schwer, doch er kehrte als neuer Mensch nach St. Louis zurück. Die kurze Zeit hatte ihn erwachsen gemacht. Zum ersten Mal spürte er so etwas wie Stolz in sich.
Er hatte sich vorgenommen, Miriam zu besuchen, doch es blieb bei dem Vorhaben. Die Zimmerei deckte ihn ein, und mit der Zeit schwanden die Gefühle für seine erste Liebe. Er sah Miriam nie wieder.
In diesem Jahr, dem Jahr 1829, war St. Louis auf fünfeinhalbtausend Einwohner angewachsen. Das bedeutete eine ständige Auftragsflut für Mr Blackmore. Doch dann geschah das, was er im Stillen immer befürchtet hatte: Die Stadt war zu groß für nur eine Zimmerei geworden.
Zu dieser Zeit beschäftigte er außer Dave vier Arbeiter: John Higgens, Geoffrey Swebb und die Brüder Albert und Roland Wiley. Alle vier waren gute Arbeiter. Die Brüder waren Mr Blackmore aber wegen ihrer langen Berufserfahrung am wertvollsten. Und gerade sie kündigten ihm. Rasch hatten sie erkannt, dass der beständige Menschenstrom auch eine zweite Zimmerei ernähren würde. Ihre Werkstatt bauten sie neben die Sägemühle, so ersparten sie sich lange Transportwege. Und als wäre das nicht genug, überredeten sie Geoffrey Swebb, für sie zu arbeiten, der kurz darauf Mr Blackmore verließ. Für den alternden Hastings Blackmore war das ein schwerer Schlag. Mit John Higgens und Dave allein – er selbst konnte
wegen seines fortschreitenden Rheumas kaum mehr Hand anlegen – schritten die Bauarbeiten natürlich langsamer voran. Das sprach sich schnell herum, und viele Aufträge gingen deshalb an die Brüder Wiley.
Mr Blackmore reagierte auf die veränderte Lage zu spät. Als er versuchte, neue Arbeiter einzustellen, fand sich niemand. Die Konkurrenz hatte innerhalb weniger Monate Fuß gefasst und zahlte mehr Lohn, als es sich Mr Blackmore jetzt leisten konnte.
Mit dem Reichtum war es vorbei, das musste auch Ashley Blackmore bitter spüren. Von nun an halfen kein teurer Dill, keine Krabben aus der Chesapeake-Bucht oder erlesene Weine aus Frankreich, das Mahl bereichern, und auch keine Seidenkleider würde es mehr geben. Zum ersten Mal in ihrem Leben stand sie deshalb auf der
Seite ihres Mannes, als dieser Cuthbert gehörig die Leviten las, um ihn zum Familienunterhalt zu zwingen. Ob nun das Machtwort des Vaters wirkte oder die Einsicht, endlich für die Familie und die Zimmerei einzustehen, blieb dahingestellt. Jedenfalls fand Cuthbert sich am nächsten Morgen pünktlich auf der Baustelle ein, ließ sich aber von seinem Vater zusichern, dass er von niemandem Befehle an-
nehmen würde.
Cuthbert war vier Jahre älter als Dave, was aber den Arbeitseifer und das Geschick betraf, konnte er dem Jüngeren bei weitem nicht das Wasser reichen. Er wusste weder die Bundaxt vom Breitbeil zu unterscheiden, noch konnte er die Gehrungsschmiege richtig gebrauchen. Ob er wollte oder nicht, er musste von Dave lernen. Und das ärgerte ihn über alle Maßen.
Diese Unterlegenheit machte er dadurch wett, als er sich selbst zum Organisator erhob. Und – niemand wollte es vorher glauben – er bewies erstaunliches Talent. Schnell hatte er die Grundkenntnisse der Zimmerei erlernt, wusste, wie die Außen- und Innenwände zu erstellen waren, konnte gutes von schlechtem Holz unterscheiden, kannte die verschiedenen Dachformen und die notwendigen Verstrebungen. Aufgrund dieses Wissens teilte er die Arbeit ein, bestellte das nötige Holz in der Sägemühle, holte es mit dem Fuhrwerk ab und sorgte für einen genügenden Vorrat an Nägeln, Dollen, Klammern und Bolzen. Schließlich vertraute ihm der alte Blackmore so sehr, dass es Cuthbert leicht fiel, ihm die Unterschriftsvollmacht abzuschwatzen, und fortan nahm er Aufträge selbständig entgegen.
Tatsächlich schien es, als fände er Gefallen an der täglichen Arbeit. Er schaffte es auch, den Brüdern Wiley Aufträge abzuluchsen, indem er direkt an die Neuankömmlinge herantrat, um ihnen seine Dienste anzubieten und nicht erst zu warten, bis sie zu ihm kamen. Schließlich hatte er so viel erwirtschaftet, um einen neuen Mann einstellen zu können: Ben Bennry.
Bennry war aus Boston zugezogen und lebte erst seit wenigen Wochen in St. Louis, wo er bei seiner Tante untergekommen war. Trotz seiner erst vierundzwanzig Jahre erwies er sich als sehr geschickt und durfte schon bald neben John Higgens die Hauptarbeit leisten, während Dave kurzerhand dazu degradiert wurde, Balken zu schleppen oder Bretter anzunageln.
Mr Hastings Blackmore zog sich fast vollständig zurück. Das Rheuma, das ihm oft unerträgliche Schmerzen aufbürdete, machte die schwere Arbeit unmöglich. Er beschränkte sich deshalb auf das Berechnen des nötigen Holzes.
Doch Cuthberts Eifer währte nicht lange. So, wie er aufgeflammt war, so verlosch er wieder. Immer seltener erschien Cuthbert auf der Baustelle. Dave musste sich dann um fehlende Bretter oder Nägel kümmern. Während Cuthbert die Arbeit und das damit verdiente Geld scheinbar gleichgültig wurden, waren sie Dave ganz und gar nicht egal. Er bekam inzwischen einen geringen Lohn – Mr Blackmore bestand darauf, obwohl Dave noch immer bei ihnen aß –, und sicher hätte er auch woanders Arbeit und sein Auskommen gefunden. Für Mr und Mrs Blackmore aber bildete die Zimmerei die einzig mögliche Einkommensquelle. Ohne sie konnten sie nicht leben. Ihnen zuliebe versuchte er, so viel und so gut wie möglich zu arbeiten, und wenn Cuthbert weg war, um unten am Pier oder im Saloon herumzuhängen und zu saufen, übernahm er dessen Aufgaben.
Am 10. August 1830 starb unerwartet und plötzlich Mrs Ashley Blackmore an Herzversagen. Hastings Blackmore weinte, weil er ihr wegen seiner rheumatischen Finger nicht einmal ein Kreuz in den Ahornsarg schnitzen konnte. In den letzten Monaten hatte Ashley ihr Unrecht eingesehen, als sie Cuthbert dauernd verteidigt hatte, und Hastings hatte seine Frau von ihrer liebenswerten Seite kennengelernt. Vielleicht schenkte er ihr deshalb ein letztes Mal den Luxus, mit dem sie sich ein Leben lang so gern umgeben hatte. Er ließ ihr ihr schönstes Kleid anziehen, die goldene Haarnadel in den Dutt stecken, wobei ihm Mrs Clara Gardner behilflich war, und bezahlte einen horrenden Preis für die Samtauslegung des Sargs.
Als dann seine Frau in die trockene Erde gelassen wurde, weinte dieser Berg von einem Mann.
Cuthbert weinte nicht, aber sein Gesicht war aschfahl und seine Hände zitterten. Dave hatte ihn die letzten zwei Tage nicht gesehen. Nun stand er angetrunken am offenen Grab, stank nach Whiskey und Rauch und schwankte so sehr, dass die neben ihm Stehenden befürchteten, er stürze in die offene Grube. Sein Vater warf ihm deshalb hasserfüllte Blicke zu.
„Weißt du, mein Junge”, sagte Hastings Blackmore am Abend nach der Beerdigung zu Dave, „im Grunde war Ashley eine gute Frau. Vielleicht war sie nur so zänkisch, weil sie sich Sorgen machte. Ich glaube auch, dass sie eifersüchtig auf deine Mum war, wenn auch grundlos. Na ja, und ich war auch nicht immer anständig zu ihr. Manchmal bin ich einfach fort und tat Sachen, die ihr bestimmt nicht gefallen hätten.”
„Ich weiß”, sagte Dave.
Mr Blackmore sah ihn erstaunt an, aber er fragte nicht. Er wollte nicht wissen, wie es Dave erfahren hatte, er war ihm aber sehr dankbar, weil er Ashley gegenüber nie etwas erwähnt hatte.
Er sagte nur: „Manchmal macht man Sachen, die einem später leid tun. Ich wünschte, Ashley könnte mir noch verzeihen. Jetzt ist es zu spät. Ist es nicht seltsam, dass man einen Menschen erst richtig liebt, wenn er fort ist?” Er weinte wieder.
Dave tat es im Herzen weh, einen Mann wie Hastings Blackmore, der ihm zum Vater geworden war, weinen zu sehen.
„Aber Sie haben doch noch Cuthbert”, versuchte er Mr Blackmore zu trösten.
Der alte Zimmermann hob müde den Kopf und sah ihn mit Augen an, die jeden Glanz verloren hatten, die leer und ausdruckslos waren.
„Ich hab nur noch dich, Dave”, sagte er.
Die bittere Wahrheit, die dahinter steckte, erahnte Dave nur.
Welch große Lücke Mrs Blackmore hinterließ, bekamen beide schon bald zu spüren. Mr Blackmore wurde mürrisch und an manchen Tagen richtig unausstehlich. Einen Teil trug wohl auch das Rheuma bei, das ihn mit fortschreitendem Stadium mehr quälte. Weil er fast nichts mehr anfassen konnte, ohne dass es zu Bruch ging, oblag es Dave, den Haushalt zu versorgen, das Essen zuzubereiten – falls welches zur Verfügung stand –, die Tiere zu versorgen und die Wäsche zu waschen. Doch es schien, als fände Gott Gefallen an ihrem Leid, und wie ein böser Fluch zog ein Unglück das andere nach sich.
Den Sommer über brachte Cuthbert nur wenige Aufträge. Dave verstand es deshalb, dass auch John Higgens ging, um bei den Wileys ein neues Einkommen zu finden. Nun waren er und Ben Bennry allein. Bennrys Bruder war aus Boston nachgekommen und hatte in der Nähe Farmland erworben. Von den Erträgen gab er Ben ab, er brauchte sich also um den Winter nicht zu sorgen. Aber Mr Blackmore sah der Zeit, in der ein Zimmermann nicht arbeiten konnte, mit Angst entgegen. Seine Ersparnisse waren fast aufgebraucht, und er fürchtete schon, sein Haus verkaufen zu müssen. Auch Dave besaß nichts mehr, womit er beide hätte durchbringen können.
Manchmal, wenn er bei Mr Blackmore in der Küche saß, nahm Dave die Kentucky-Büchse vom Haken. Dann fuhr er mit der flachen Hand verträumt über den geschliffenen Lauf, besah den polierten Ahornschaft und die feinen Schrammen, die der jahrelange Gebrauch hinterlassen hatte, und erinnerte sich mit Wehmut an längst vergangene glückliche Tage.
Doch dann erschien Cuthbert an einem Sonntagmorgen im November überraschend in Daves Hütte. „Komm mit!”, rief er nicht unfreundlich zur Tür herein.
„Was willst du?”, fragte Dave barsch. All die Jahre hatte er sich herumkommandieren und demütigen lassen. Vom Sohn des Chefs hatte er ja noch Befehle akzeptiert, jetzt aber war Cuthbert nichts weiter als ein trinkender Taugenichts.
„Wirst es erfahren”, meinte Cuthbert nur. Seine Augen, die gerötet vom Alkohol waren, leuchteten vor stolzer Freude.
Ein letztes Mal, dachte Dave. Er zog sich seine Schafwolljacke über und folgte Cuthbert.
Die Luft draußen war unangenehm kühl, und über der Stadt hingen graue Wolken, die aussahen wie eine riesige, schmutzige Daunendecke. Dünner Graupel sank schwer zu Boden. Der November nahm den Häusern den Glanz, sie wirkten farblos und traurig; die
Menschen, so weit sie sich bei diesem Wetter ins Freie wagten, waren in schwere Mäntel gehüllt und zogen ihre Hüte tief ins Gesicht.
Dave stampfte Cuthbert hinterher, die Hauptstraße hinauf, die jetzt ein einziges Matschfeld war, dann hinunter zum Missouri. Sie verließen die Stadt und folgten dem Fluss westwärts. Nach gut fünf
Minuten erreichten sie Phil Stufords Hufschmiede.
Das Ufer erhob sich hier sechs Fuß hoch, fiel aber flach zum Fluss hin ab. Etwa hundert Yards vom Fluss entfernt stand das steinerne Wohnhaus, daneben der Stall, die Scheune und die Schmiede. Zu dem Anwesen gehörte etwas Land, das Stuford als Weide für seine zwei Milchkühe und ein Dutzend Schafe genutzt hatte. Die Tiere waren jetzt verschwunden, der Stall und die Scheune leer, das Feuer der Esse verloschen. Vor vier Monaten war der Hufschmied an Typhus gestorben. Seine Frau hatte zwei Wochen danach das Vieh, das Land und die Gebäude verkauft und war mit ihren zwei Kindern nach
Mobile, ihrem Geburtsort, gezogen.
Schmieriger Graupel hatte in einer dünnen Schicht den Boden und die Gebäude bedeckt. Das dämmrige Licht und die düsteren Wolken im Hintergrund verliehen allem eine gespenstische Atmosphäre. Vor dem einstöckigen Wohnhaus stand ein angespannter Tilbury, auf dessen Ledersitzen der Graupel herunterlief und sich zu Wasserpfützen sammelte.
Den ganzen Weg über hatte Cuthbert geschwiegen, Dave nur immer grinsend von der Seite angesehen. Dave fragte sich, ob sich der Weg hier raus wirklich lohnte oder ob Cuthbert wieder seinen Schabernack mit ihm trieb, wie damals, als er ihm die Hütte des Medizinmannes gezeigt hatte.
Wortlos gingen sie ins Haus, schüttelten sich den Matsch von der Kleidung und den Haaren und traten dann in die Wohnküche. Im Herd brannte Feuer; es war angenehm warm. Auf der Bank am Fenster saß eine hübsche Lady, daneben stand ein eleganter Mann, der sie ungeduldig erwartete.
Die Frau war Mitte dreißig. Ihr blondes, zu einem Chignon gebundenes Haar war von einer weißen Schute bedeckt, die ihr Gesicht noch blasser wirken ließ. Der blau und weiß gefächerte Reifrock betonte ihre schlanke Figur, um den weißen Hals schlang sich eine Stola aus feinstem Zobel, und die zierlichen Hände, die offenbar nie harte Arbeit verrichtet hatten, steckten in gelben Seidenhandschuhen.
Sie lächelte matt, nachdem ihr Blick über Daves nasse Klamotten gehuscht war, und sah wieder zum Fenster hinaus. Doch mit einer unmerklichen Bewegung ihrer Augen blickte sie wieder hinüber zu ihm, ihn diesmal genauer musternd.
Der Mann gab sich höflicher, trat Dave entgegen und schüttelte ihm mit kräftigem Druck die Hand. Aber auch er lächelte nur kurz und hüllte sich ansonsten in vornehme Arroganz. Er trug eine dunkelblaue Stoffhose, schwarze Lackschuhe, ein gestärktes Hemd und darüber eine Maroquinjacke. Seine Haut war wettergegerbt, und seine Muskeln zeichneten sich hart unter der Jacke ab. Das kantige Gesicht umrahmte ein geschnittener Backenbart, der so schwarz war wie das in der Mitte gescheitelte Haupthaar. Der Mann mochte etwa fünfundvierzig Jahre alt sein.
„Das ist Davy Hofer”, stellte Cuthbert Dave kurz vor. Die Verniedlichung Davy verwendete Cuthbert, wenn er ihn necken wollte. Dass er es jetzt tat, ärgerte Dave.
Die Dame kicherte. Der vornehme Mann stellte sich als Granville Addison Upton vor, seine Frau hieß Clarissa und war eine geborene von Kaltenberg. Upton war Pelzhändler und Mitinhaber der Louisiana Fur Company. Vor zehn Jahren war er selbst noch in die Wälder gezogen, gründete dann aber mit zwei weiteren Gentlemen besagte Firma. Der Rang, den er innehatte, wurde allgemein als Bourgeois bezeichnet, da er die französische Sprache aber grundsätzlich ablehnte, zog er den Titel Admiral vor.
„Was auch meine Stellung besser umschreibt”, erklärte er mit tiefer, ausgeprägter Stimme. „Da die einzelnen Trapperbrigaden von Captains geführt werden und ich mehrere Brigaden delegiere, ist der
Titel, in Anlehnung an das Marinewesen, wohl angebracht.”
Dave erfuhr weiter, dass die Company Stufords Anwesen aufgekauft hatte, um hier Pelze zu lagern, die dann nach New Orleans und von dort in die ganze Welt verschifft werden sollten. Der Platz hier sei günstig, weil er direkt am Missouri, der Hauptverkehrsader der Trapper, liege.
Das ganze Jahr über würden dann hier Pelze eintreffen. Der Wert dieser Pelze sei enorm, meinte er. Den genauen Betrag verschwieg der Admiral, betonte aber das Wort enorm.
„Gentlemen”, meinte Upton und baute sich vor Dave und Cuthbert auf. „Sie werden sich fragen, weshalb ich Ihnen das alles erzähle. Aber es ist sehr wichtig, dass Sie begreifen, dass es sich hier nicht um bloße Tierhäute handelt. Unsere Pelze erwirtschaften in Europa ein Vermögen, und als solches – als Vermögen – sollten Sie die Pelze betrachten.
Diese Gebäude hier sind in einem ganz passablen Zustand, auch die Scheune wird ausreichen. So bald wie möglich werden wir aber einen Umbau vornehmen müssen.“ – Er sagte tatsächlich „wir“. – „Die Scheune muss absolut undurchlässig für jegliche Feuchtigkeit, also auch Nebel, und sicher vor Diebstahl sein. Die Außenwände werden dementsprechend dick ausfallen müssen. Des Weiteren muss unbedingt dieses Haus renoviert werden. Für einen Hufschmied mag es genügt haben, meine Frau und ich stellen aber andere Ansprüche. So möchten wir es aufstocken und mit einer Eichentreppe verbinden. Es wird aber unmöglich sein, noch vor dem Winter damit zu beginnen; deshalb ist es wohl ratsam, bis zum Frühjahr zu warten. Ist dir das recht, Clarissa?”
Die Angeredete hatte die ganze Zeit gelangweilt zum Fenster hinausgeschaut und war über dem gleichmäßigen Sinken des Graupels fast eingenickt. Sie hatte eine lange Reise hinter sich und war müde. Jetzt fuhr sie herum und sah die drei Herren erstaunt an. Aber trotz ihrer geistigen Abwesenheit hatte sie verstanden, wonach sie gefragt worden war, und antwortete: „Es ist mir recht, Liebster.” Und dabei sah sie Dave mit einem seltsamen Blick an, der sich in seinen Augen festfraß und sich in sein Gehirn bohrte.
„Nun, Gentlemen”, fuhr Upton fort, „über das Haus können wir später noch reden. Priorität hat jetzt vor allem der Pier. In zwei oder drei Tagen erwarte ich meinen Unterhändler Captain Orlando Bell mit zwei Booten zurück, dann muss unten am Fluss ein Pier sein.”
„Das ist unmöglich”, wehrte Dave ab.
Der Admiral hob erstaunt die Augenbrauen. Er wandte sich an Cuthbert.
„Mr Blackmore, Sie sind bereits zehn Minuten nach unserer Ankunft an mich herangetreten und haben mir übereifrig ihre Dienste angepriesen. Sich selbst bezeichneten sich als den Kopf Ihrer Firma und Ihren Kameraden als denjenigen, der sich aufs Handwerk versteht. Sie eilten los, um ihn zu holen; nun ist er da und sagt mir, es sei unmöglich, die geforderte Arbeit zu erledigen. Wie erklären Sie das, Mr Blackmore?”
„In drei Tagen steht der Pier”, versicherte Cuthbert schnell.
Dave schüttelte den Kopf. „Ich allein kann das nicht schaffen, und Bennry ist auf der Farm seines Bruders.”
„Ich werde ihn holen. Und wenn er da ist, werde auch ich mit anpacken. Wir werden es schaffen, Dave.”
Dave zweifelte daran, dass Cuthbert Hand anlegen würde, wenn aber Bennry spätestens übermorgen zur Verfügung stünde, könnten sie es tatsächlich schaffen.
„Gut”, meinte er schließlich, konnte seine Zweifel aber nicht ganz ablegen.
Jetzt, da Upton die Zusicherung hatte, legte sich sein barscher Ton. Fast freundlich, aber dennoch unmissverständlich sagte er: „Über die Bezahlung sind wir uns einig, Mr Blackmore. Um keine Unklarheiten aufkommen zu lassen, möchte ich nur noch einmal betonen, dass Sie bei Nichterfüllung des Kontraktes eine Vertragsstrafe in gleicher Höhe zu entrichten haben.”
Da auch das geklärt war, schüttelten sie sich bekräftigend die Hände. Daraufhin verließen die Männer das Haus. Clarissa Upton sah ihnen durchs Fenster nach, wie ihre Schuhe breite Spuren im Matsch hinterließen und wie sie in der Scheune verschwanden.
Hastings Blackmore hatte die Scheune selbst vor einigen Jahren errichtet. Sie war stabil und aus trockenem, festem Holz erbaut. Aber mit den Jahren waren dünne Fugen zwischen den Brettern entstanden. Ein Umstand, den die Witterung mit sich brachte und den selbst der beste Zimmermann nicht verhindern konnte. Die Außenwände würde Dave deshalb sicherheitshalber mit einer zusätzlichen Schicht Bretter beschlagen und obendrein mit verdünntem Braunkohlenteer bestreichen. Er wollte nicht mehr Dave Hofer heißen, wenn dann auch nur noch ein einziger Tropfen Wasser durchdränge. Und das Dach war sowieso dicht, dessen war er sich ganz sicher. Mr Hastings Blackmore legte besonders aufs Dach großen Wert. Nur der Boden war momentan für die Pelzlagerung ungeeignet: er bestand aus blanker Erde. Ein Bretterboden war unbedingt notwendig.
Die Scheune verfügte noch über eine zweite Etage, eine Art Empore, die sich über die halbe Grundfläche erstreckte. Eine steile, schmale Treppe führte hinauf. Mit einer Seilwinde war das Heu nach oben geschafft worden, das noch immer dort lagerte. Dieser Platz würde, wenn man das Heu wegschaffte, fürs Erste als Depot dienen, bis der Boden fertig war.
Alles in allem sah Dave wegen der Scheune keine Schwierigkeiten, zumal hier keine Frist gesetzt war. Auch die Planung des Hauses würde sich später finden. Und den Stall sowie die Schmiede wollte Upton sowieso ihren Zwecken entsprechend nutzen. Sie waren lediglich etwas zu verschönern. Nur wegen des Piers runzelte Dave nach wie vor die Stirn und blickte skeptisch hinauf zu den tief hängenden Wolken. „Vielleicht haben wir Glück”, murmelte er.
Upton freuten die reibungslose Verständigung und Daves Sachverstand. „Wir werden uns gut verstehen”, sagte er und klopfte Dave anerkennend auf die Schulter.
Er zog den gefalteten Vertrag unter seiner Jacke hervor und reichte ihn Cuthbert, der ihn sofort unterschrieb. Danach verabschiedeten sich die drei. Morgen wollte man mit der Arbeit beginnen.
Als Cuthbert und Dave dann in die Stadt zurückliefen, fragte Dave: „Wie viel bezahlt Upton uns?”
Cuthbert grinste überlegen.„Vierhundert Dollar”, rief er mit sichtlichem Stolz. „Hab ich endlich mal einen großen Fisch an Land gezogen, was, Dave?”
Dave pfiff anerkennend durch die Zähne. Selbst wenn Cuthbert einen Teil verschwieg, um ihn für sich einzuheimsen, waren vierhundert Dollar noch eine Menge Geld. Abzüglich Bennrys Lohn blieb noch genügend übrig, um den Winter zu sichern. Die großzügige Vergütung sagte Dave aber auch, dass der Pelzhandel ein sehr lukratives Geschäft war.
Doch Cuthbert setzte noch eins obendrauf. „Weißt du, was das Beste ist? Upton zahlt im Voraus. Sobald die Arbeit in Angriff genommen ist, überreicht er mir das Geld.” Er grinste wieder. „Je reicher die Leute werden, desto verrückter werden sie.” Mit leuchtenden Augen fügte er hinzu: „Aber eine hübsche Frau hat er. Verdammt hübsch!”
In der Stadt trennten sie sich. Cuthbert wollte gleich zur Sägemühle, um das notwendige Holz zu bestellen, und anschließend zu Bennrys Farm reiten. Sie lag einen Tagesritt nördlich von St. Louis. ‚Wenn er Geld riecht, ist er ein ganz passabler Geschäftsmann‘, dachte Dave.
Hastings Blackmore atmete erleichtert auf, als er von dem Auftrag und den in Aussicht stehenden vierhundert Dollar erfuhr.
„Ich hab ihn weiß Gott oft verteufelt”, sagte er in einem Anflug von Reue. „Vielleicht hab ich ihm Unrecht getan, und Cuthbert ist doch nicht so schlecht.”
Dave hoffte, dass der alte Blackmore Recht behalten sollte.