Читать книгу Die Tränen der Rocky Mountain Eiche - Charles M. Shawin - Страница 8
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Mary Hofer hielt die Schmerzen nicht mehr aus. Auf den Knien schleppte sie sich zur Tür und schrie nach Hastings Blackmore. Aber nur Mrs Blackmore kam, ihr Mann war auf einer Baustelle. Ashley half Mary wieder ins Bett und wollte dann weg, um den Arzt zu holen. Doch Mary hielt sie am Arm fest.
„Holen Sie bitte Reverend Gardner”, bat sie.
Ashley starrte die Todkranke eine Zeit lang an. All die Jahre hatte sie Mary gehasst, weil Hastings ihr die Aufmerksamkeit geschenkt hatte, die sie von ihm so sehr vermisste. Wie oft hatte sie der hübschen Nachbarin den Tod gewünscht. Sollte sich ihr Fluch jetzt tatsächlich erfüllen? Mit einem Mal hatte sie Mitleid mit dieser Frau, und es tat ihr im Herzen weh, sie sterben zu sehen.
Ashley nickte stumm, dann eilte sie weg. Sie verständigte den Reverend, der versprach, sofort zu kommen, und rannte dann weiter zur Baustelle ihres Mannes. Mr Blackmore war sehr betroffen. Er warf seine Axt in die Ecke und eilte mit seiner Frau zurück zu Mary.
Dave ahnte nicht, wie es zu diesem Zeitpunkt um seine Mutter stand. Der geheimnisvolle Indianer spukte ihm noch im Kopf herum, als er bei der Hütte ankam. Überrascht sah er, dass Mr und Mrs Blackmore vor der Tür warteten. Mr Blackmore saß am Boden, das Gesicht in die riesigen Hände gelegt.
„Du kannst jetzt nicht rein”, sagte Mrs Blackmore mit ungewohnt weicher Stimme. „Der Reverend ist bei deiner Mum.”
Dave verstand nicht, weshalb der Reverend bei seine Mum war. Sie war heute doch erst in der Kirche gewesen.
„Was ist mit Mum?”
Ein plötzlicher Gedanke schoss ihm in den Kopf. Er erinnerte sich, dass man den Reverend vor zwei Wochen zu der alten Frau Landers, zwei Häuser weiter, geholt hatte, und kurz darauf war sie gestorben. Mit großen, entsetzten Augen starrte er Mrs Blackmore an.
Ashley war froh, nicht antworten zu müssen, denn die Tür öffnete sich und Reverend Gardner trat ins Freie. Gardner war in viele Häuser gekommen und hatte im Laufe seiner Priesterarbeit das Elend und den Tod kennengelernt, die ihn mit der Zeit dickfellig hatten werden lassen. Als er aber den Jungen vor der Tür stehen sah, der artig eine Verbeugung machte – die Mutter hatte großen Wert darauf gelegt, Gottesdienern die ihnen zustehende Ehre zu erweisen – und der brav „gelobt sei Jesus Christus” murmelte, da ergriff selbst den Reverend die Wehmut. Etwas unbeholfen legte er seine Hand auf Daves Kopf. Auf die fragenden Blicke des Ehepaars Blackmore antwortete er kurz: „Mary Hofer ist heimgegangen.”
Mr Blackmore war der Erste, der in die Hütte stürzte, seine Frau folgte ihm. Kurz darauf kam sie wieder heraus, um sich um Dave zu kümmern, aber der Junge war verschwunden.
Dave rannte so weit und schnell er konnte; die Stadt hinaus, irgendwohin. Kraftlos ließ er sich zu Boden fallen. Alles drehte sich um ihn: die Bäume, die welligen Hügel, der Himmel, die Wolken. Sein Kopf war wie leer, so, als schwebe er zwischen den Welten.
Als er wieder zu denken fähig war, erinnerte er sich an die Predigt, die er erst heute morgen in der Kirche gehört hatte. Und jetzt wusste er, dass seine Mum aufgebrochen war in eine andere Welt.
Am 15. April 1823 wurde Mary Hofer beerdigt. Hastings Blackmore hatte die schönsten Bretter einer Linde aus seinem Lager gesucht und einen Sarg gezimmert. Als er das Kreuz in das Holz schnitzte, zitterten seine Hände.
Ashley hatte ihr blaues Sonntagskleid umgenäht, das sie der Toten anzog. Dave dachte, seine Mum sähe darin aus wie eine vornehme Dame. Im Grunde war sie das auch gewesen. Vornehm in ihrer
Gesinnung, ihrer Großherzigkeit, ihrer unerschöpflichen Liebe und ihrem Glauben.
Der Elfjährige begriff bei weitem nicht, weshalb seine Mutter hatte sterben müssen. Er hatte gehört, wie Mr Blackmore am Tage vor der Beerdigung gesagt hatte, sie sei an seelischem Leid gestorben, was immer auch das bedeuten sollte.
Alle, die Mary Hofer gekannt hatten, begleiteten sie auf ihrem letzten Weg zum Gottesacker. Auch Clara Gardner, die Mary am meisten verurteilt hatte, war unter ihnen.
Unbewusst empfand Dave Hass. Er wusste nicht, woher dieser Hass kam, vielleicht war es die plötzliche Anteilnahme, die seiner Mum vorher immer verwehrt gewesen war. Immer hatte sie sich danach gesehnt, und jetzt weinten einige der Frauen sogar um sie. Eines aber wusste er sehr genau: Diese Menschen waren verlogener und schlechter, als es seine Mum, der sie die Sünde vorgeworfen hatten, je gewesen war. An diesem Tag wünschte Dave, mit seiner Mum aufbrechen zu dürfen in eine andere Welt.
Der Hass, den Dave in sich barg, ließ keine Tränen aufkommen. Er weinte nicht, als seine Mutter hinaufgetragen wurde auf jenen kahlen Hügel, den tote Holzkreuze bedeckten. Er weinte auch nicht, als sich der Sarg in die rotbraune Erde senkte. Er weinte erst, als er die leere Hütte betrat, das leere Bett sah und das abgetragene alte
Leinenkleid darauf, und mit einem Mal in vollem Umfang begriff: Seine Mum war ihm für immer genommen.
Die nächste Zeit war schwer für ihn. Dave wohnte weiterhin in der Hütte, er wollte sie einfach nicht verlassen. Sein Verstand sagte ihm, dass er seine Mum nie wiedersehen würde, doch sein Herz hoffte stets darauf, denn deutlich war hier – zwischen dem einfachen Herd, dem schlichten Tisch und dem leeren Bett – die Aura der geliebten Mutter zu spüren. Täglich lief er den Hügel hinauf zum Grab, auf dem Mrs Blackmore Rosen angepflanzt hatte, und manchmal ertappte er sich dabei, wenn er leise weinend zu seiner Mum sprach.
Erst viele Tage später ging Dave wieder in die Stadt. Die Aversion, die die St. Louiser gegen seine Mutter offengelegt hatten, übertrug sich nicht unbedingt auf ihn. Zwar war er noch immer Außenseiter, und manchmal wurde er von schlecht erzogenen Kindern ‚Bastard‘ gerufen,;Dave aber hatte gelernt, damit umzugehen. Dennoch versuchte er, die Menschen zu meiden. Ein tiefer Hass war seit der Beerdigung in ihm gewachsen, und er verteufelte diese zur Schau ge-
tragene Scheinheiligkeit. Im Grunde waren ihm die Kinder lieber als die Erwachsenen; sie sagten wenigstens, was sie empfanden.
Manchmal, wenn ihm die Einsamkeit in dieser Stadt zu bewusst wurde, erinnerte er sich an den alten Medizinmann in der windschiefen Hütte. Auf irgendeine Weise fühlte er sich zu ihm hingezogen, denn im Grunde waren beide gleich: Auch der Indianer war ein aus der Gesellschaft Ausgestoßener. So schlich er sich einmal trotz seiner Furcht zu der gespenstischen Hütte, fand sie aber verlassen vor. Dave fragte sich, was aus dem Indianer geworden war. Erst Jahre später sollte er von dessen traurigem Schicksal erfahren.
Der Einzige, dem sich Dave anvertraute, war Mr Hastings Black-more. In vielem war der Zimmermann seiner Mutter ähnlich. Wie sie schätzte er die Ehrlichkeit und war fest im Glauben verwurzelt. Aber auch ihn würde Dave von einer Seite kennenlernen, die eine Säule seiner kindhaften Weltsicht ins Schwanken brachte.
Es war zur Gewohnheit geworden, dass Dave im Hause der Blackmores aß. Ashley Blackmore selbst wünschte es so aus einer nachträglichen Reue heraus. Sie hoffte, ihr schlechtes Gewissen dadurch beruhigen zu können, indem sie dem Waisen ein neues Zuhause bot.
Die erste Zeit war es Dave unangenehm gewesen, neben Cuthbert – den er noch immer nicht mochte und manchmal sogar fürchtete – am Tisch zu sitzen – aber was blieb ihm anderes übrig? Für sich selbst sorgen konnte er noch nicht. Um wenigstens einen Teil der entstehenden Kosten auszugleichen, begleitete er Mr Hastings Blackmore auf die Baustellen, woran er schon bald Freude fand. Er half Bretter und leichte Balken tragen und holte Werkzeug, wenn es fehlte. Begeistert sah er zu, wie allmählich das Hausgerüst aus gehobelten Kiefern entstand, wie es mit Brettern eingekleidet und schließlich mit einem Pult- oder Satteldach bedeckt wurde. Das Dach blieb Mr Blackmores sicherste Auftragsquelle, denn viele, die reich genug waren, ließen ihr Haus aus Stein erbauen, das Dach aber würde wohl immer aus Holz sein müssen.
Haus um Haus sah Dave heranwachsen, wo vorher bracher Boden gewesen war. St. Louis vergrößerte sich ständig.
Zufrieden beobachtete Mr Blackmore Daves Interesse. ‚Ein Prachtjunge‘, pflegte er dann zu denken, und wünschte sich, Cuthbert besäße nur einen Bruchteil von Daves Arbeitseifer – denn sein eigener Sohn trieb sich lieber irgendwo herum, als auf der Baustelle zu helfen.
Die Arbeit machte Dave hungrig, und abends, wenn sie sich am Tisch versammelten, langte er fleißig zu. Ashley sah es mit Genugtuung. Sie war eine hervorragende Köchin, und in jenen Tagen konnten sie sich vielles leisten, woraus sie die herrlichsten Gerichte zubereitete.
Aber Dave nahm nicht nur am Essen der Blackmores teil, sondern ungewollt auch an deren Familienleben. So blieb ihm nicht verborgen, dass Mr Blackmore in der Zimmerei zwar ein hartes Regiment führte, zu Hause aber von seiner Frau herumkommandiert wurde. Ständig nörgelte sie an etwas herum. Mal beschimpfte sie ihn, weil er zu spät zum Essen kam, dann wieder beanstandete sie seine schlechten Tischmanieren. Und Cuthbert geriet ganz nach seiner Mutter. Er war bereits siebzehn, dachte überhaupt nicht daran, in die Fußstapfen seines Vaters zu treten, führte sich aber als selbstherrlicher Mann auf. Die guten Ratschläge des Vaters, endlich an die Zukunft zu denken, schlug er schnippisch in den Wind. Und wenn es darum ging, Geld zu fordern, das er im Saloon durchbrachte, konnte er – wenn es ihm sein Vater aus gutem Grund verweigerte – sehr jähzornig werden. Und seine Mutter deckte ihm den Rücken. Es wunderte Dave deshalb nicht, dass Mr Blackmore bei solchen Streitigkeiten stets das Haus verließ, um Ruhe zu finden – aber das Verhalten des väter-
lichen Freundes, den er bis dahin für tapfer und selbstsicher gehalten hatte, enttäuschte ihn. Noch mehr aber war er enttäuscht – ja sogar schockiert –, als er eines Tages erfuhr, wo Mr Blackmore Ruhe suchte.
Es war an einem warmen Septemberabend. Nachdem gegessen worden war, kam es wieder einmal zu Zankereien. Weil es Dave peinlich war, dabei anwesend zu sein, schlich er sich davon. Draußen war es noch hell, deshalb setzte er sich vor seine Hütte, um in Daniel Defoes ‚Robinson Crusoe‘ zu lesen. Er hatte sich kaum niedergesetzt, da bemerkte er, dass auch Mr Blackmore das Haus durch die Hintertür verließ und stadteinwärts schlenderte. Dave zuckte traurig mit den Schultern und beugte sich dann wieder über sein Buch. Eine Zeit lang las er in der Geschichte des einsamen Inselbewohners, die er schon fast auswendig kannte, die ihn aber stets aufs Neue faszinierte. Plötzlich fiel ihm etwas ein: Er hatte vergessen, die Handsäge mitzunehmen! Samuel E. Maddock, der Schlachter, ließ sich außerhalb der Stadt ein größeres Haus mit integriertem Schlachtraum aus Stein bauen, weil ihm das alte an der Hauptstraße zu eng geworden war. Für den Dachstuhl hatte er Mr Blackmore beauftragt. Als Dave nach Arbeitsschluss die Baustelle aufgeräumt und das Werkzeug ins Lager gebracht hatte, hatte er sie vergessen. Mr Blackmore mochte es nicht, wenn Dave wertvolles Werkzeug zurückließ, weil schon zweimal welches gestohlen worden war. Dave brachte das Buch deshalb in die Hütte und machte sich sofort auf den Weg zu Maddocks Haus.
Hurtig durchquerte er die Stadt. Es begann inzwischen zu dämmern, und die Häuser der Hauptstraße wirkten wie beängstigende Schatten. Nur noch wenige Menschen waren unterwegs. Aus dem Saloon klangen laut das Piano und die kehligen Laute angetrunkener Männer. Mr J.D. Hudson, der Wirt, hatte vor zwei Jahren das Dach ausgebaut, um mehr Fremden Unterkunft zu bieten. Außerdem bekam man bei ihm warme Speisen. Das Haus war täglich voll, und Hudsons Kasse auch.
Hundert Yards vom südlichen Stadtrand aus stand Maddocks halbfertiges Haus. Die Sparren des langgestreckten, aber ziemlich niedrigen Satteldachs wirkten wie mit Kohlestift in den Abendhimmel gemalt. Die Geräusche des Saloons drangen nicht bis hierher; es war still, nur der Wind säuselte leise in den kahlen Balken.
Dave wusste genau, wo er die Säge hatte liegen lassen, auch ohne Licht fand er sie schnell. Er hob sie auf und wollte die Baustelle verlassen, als ihn ein Geräusch erschrocken aufhorchen ließ. Zuerst wollte er wegrennen, doch als er das Geräusch wieder vernahm, erkannte er, dass es ein leises Stöhnen war, ähnlich, als habe jemand Schmerzen, und doch irgendwie anders.
Obwohl er annehmen musste, es sei jemand verletzt, war trotzdem Vorsicht geboten. Die wachsende Größe der Stadt lockte allerlei Gesindel an, und mit einem Dieb, wenn auch einem verletzten, war nicht zu spaßen.
Zu seiner maßlosen Überraschung erkannte Dave trotz der Dunkelheit jemanden, den er zu dieser Stunde nicht hier vermutet hätte, noch dazu in einer äußerst heiklen Situation: Mr Blackmore trieb es – Dave musste zweimal hinsehen, um es glauben zu können – mit Clara Gardner, der Frau des Reverend. Mrs Gardner war vollkommen nackt, ihre milchig-weiße Haut schimmerte leicht im schwachen Licht des Mondes. Mr Blackmore war noch angezogen, nur den Hosenschlitz hatte er geöffnet.
Verstört rannte Dave heim. Er verschloss die Tür und warf sich aufs Bett. Es dauerte eine Ewigkeit, ehe er seine Gedanken ordnen konnte.
Was Mr Blackmore und Mrs Gardner gemacht hatten, war eindeutig. Gesehen hatte er die Kopulation bisher nur bei Schweinen auf Engelmanns Farm, die älteren Jungs hatten aber manchmal vom geschlechtlichen Verkehr so unmissverständlich geredet, dass es keine Zweifel gab. Aber gerade diese beiden Menschen, die er bisher für die ehrenwertesten der Stadt gehalten hatte, dabei zu ertappen, schockierte Dave.
Da beide mit anderen Partnern verheiratet waren, musste ihr Tun unleugbar als außerehelicher Verkehr eingestuft werden, und das war nichts anderes als eine Todsünde. Dave verurteilte deswegen niemanden, und bei Mr Blackmore sah er die Beweggründe wegen seiner zänkischen Frau noch halbwegs ein. Aber dass Mrs Gardner, das sittliche und moralische Vorbild der weiblichen Bevölkerung, zu so etwas fähig war, verunsicherte Dave zutiefst. Sie war es immerhin gewesen, die seine Mum verurteilt hatte und die obendrein andere Frauen aufgehetzt hatte, das Gleiche zu tun.
Mit einem Mal stürzte ein Gebilde zusammen, das sich in Dave erst zu festigen begonnen hatte. In dieser Nacht, als er verwirrt auf seinem Bett lag, verteufelte er die ganze Moral- und Sittenlehre, die nichts weiter war als böse Heuchelei. Menschen hatten diese Gesetze geschaffen, und dieselben Menschen spuckten darauf. Wenn es aber darum ging, einen anderen Menschen an den Pranger zu stellen, waren sie vorne dran.
Dave erinnerte sich an eine Stelle in der Bibel, die der Reverend einmal in der Kirche vorgelesen hatte. Dort sagte Jesus, als man eine Ehebrecherin steinigen wollte: Wer ohne Sünde ist, werfe den ersten Stein. Wie recht Jesus hatte, dachte Dave.
Dave verlor kein Wort über das Beobachtete. Es war nicht seine Sache, was andere Menschen taten. Er hasste Mr Blackmore und Mrs Gardner deswegen nicht, aber maßlose Wut packte ihn, wenn er nur daran dachte, mit welcher verlogenen Scheinheiligkeit die Ankläger vorgingen. Sie kleideten sich in Amt und Würden und waren doch nicht besser als ein gewöhnlicher Strauchdieb. Dieser stahl Geld oder Waren, jener stahl das Vertrauen gutmütiger Menschen.
In dieser Nacht verteufelte Dave die Gesellschaft mehr als je zuvor.