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Kapitel vier

Der Schwarze Ritter

Seattle, Washington

Juli 1952 bis März 1955

Sir Gawain: „Welcher Ritter?“

Prinz Eisenherz: „Der Schwarze Ritter. Wer ist das, Sire?“

Sir Gawain: „Ein Geist.“

— aus dem Film Prinz Eisenherz

Am Thanksgiving Day 1952 wurde Jimi Hendrix zehn Jahre alt. Obwohl Al und Lucille offiziell geschieden waren, wohnten sie kurzzeitig wieder zusammen, und Lucille war im sechsten Monat schwanger. Auch bei diesem Kind sollte Al später die Vaterschaft leugnen. Das Baby, das am 14. Februar 1953 geboren wurde, erhielt den Namen Alfred Hendrix. Alfred war Als und ­Lucilles viertes Kind, das mit entwicklungsbedingten Behinderungen auf die Welt kam, und es wurde sofort nach der Geburt zur Adoption freigegeben.

Als Alfred geboren wurde, lebte Lucille bei Al, zog jedoch nicht lange nach der Geburt wieder aus. „Wenn Mom zu Hause war, roch es morgens nach gebratenem Speck und Pfannkuchen“, erinnert sich Leon, „und wir sind rumgesprungen und haben geschrien: ‚Mama ist zu Hause!‘ Aber das dauerte nur einen Tag, denn dann fingen sie wieder an zu trinken und zu streiten, und Mama ging wieder.“ In dieser Zeit schlüpfte Lucille bei ihrer Mutter Clarice unter, die eine Wohnung über der Rainier-Brauerei hatte. Leon und Jimi besuchten sie dort heimlich und brachten schon bald die Gerüche der Brauerei mit ihrer Mutter in Verbindung. „Immer wenn ich Hopfen rieche, denke ich an meine Mama“, sagte Leon.

Obwohl sie bitterarm waren, lernten die beiden Jungs wie zahllose andere Scheidungskinder auch, ihre Eltern zu manipulieren, damit ihnen Vorteile entstanden. „Dad bestrafte uns, indem er uns zu unserer Mutter schickte, also fingen wir absichtlich an, uns in Schwierigkeiten zu manövrieren“, sagte Leon. Al bestrafte die Kinder mit – wie er es nannte – „Auspeitschen“, was bedeutete, dass er sie mit einem Gürtel schlug. Wenn es ihm nicht gelang, sie damit gefügig zu machen, schickte er sie zu Lucille. „Dad hat unsere Taschen gepackt mit den Zahnbürsten und so“, erinnert sich Leon. „Manchmal, glaube ich, wollte er uns einfach eine Zeit lang los sein. Er hat uns bestraft, indem er sagte, wir müssten ein Wochenende bei unserer Mama verbringen, aber genau das wollten wir ja.“ Oft wurden die geplanten Exilaufenthalte jedoch noch im letzten Moment vereitelt, wenn sich Al und Lucille beispielsweise bei der Übergabe der Kinder in die Haare kriegten und Al mit den Jungs wieder nach Hause tobte. Die Jungs, die sich um den Besuch bei ihrer Mutter betrogen fühlten, schlichen sich dann heimlich zu ihr, was wiederum weiteres Auspeitschen nach sich zog, wenn Al es herausfand. Al schlug seine Söhne selten, wenn er nüchtern war. „Manchmal war er so voll“, sagt Leon, „dass er vergaß, wofür er uns auspeitschte.“ Als Jimi größer wurde, fing er an, sich gegen die Schläge zur Wehr zu setzen, indem er den Gürtel packte und festhielt, damit Al ihn nicht schlagen konnte. Diese Versuche waren in der Regel jedoch fruchtlos. „Mein Dad war stark“, sagt Leon. „Er hielt uns mit einer Hand fest und schlug uns mit der anderen.“

Zu jener Zeit arbeitete Al im Schichtdienst für Seattle City Light. Da er die Kinder allein aufzog, hatte Al niemanden, der sie nach der Schule beaufsichtigte, und er erhielt regelmäßig während der Arbeitszeit Anrufe von besorgten Nachbarn, was seine Stellung gefährdete. Jimi sorgte für mehr Ärger als Leon, aber zumeist handelte es sich um Kleinigkeiten wie von unbeaufsichtigten Jugendlichen nicht anders zu erwarten. „Die Nachbarn passten auf uns auf“, meint Leon, „weil sie wussten, was sonst passiert wäre – das Sozialamt hätte uns abgeholt.“ Die Beamten des Sozialamts fuhren grüne Autos, und Leon und Jimi lernten, nach diesen Fahrzeugen Ausschau zu halten und sich schnell zu verziehen, sobald sie eins sahen. Sie achteten darauf, nicht die Schule zu schwänzen und damit die Aufmerksamkeit der Behörden auf sich zu ziehen. „Das waren keine schlechten Kinder“, erinnert sich der Nachbar Melvin Harding. „Sie waren bloß ein bisschen wild und allein.“

Al schrieb in seiner Autobiografie, er habe manchmal gehungert, damit die Jungen satt wurden, doch trotz seiner Opferbereitschaft bekamen sie selten etwas zu essen. Die Wohnung war schmutzig, da Al weder putzen noch waschen wollte, weil er dies für Frauenarbeit hielt. Kurzzeitig hatte Al eine neue Freundin, doch als immer klarer wurde, dass Al hauptsächlich an ihr als Haushälterin interessiert war, verließ sie ihn. Leon und Jimi besuchten zur Essenszeit meist Nachbarn. „Jimi und ich waren es so gewohnt, Hunger zu haben, dass wir in den Laden gingen und klauten“, sagt Leon. „Jimi war schlau: Er öffnete eine Packung Brot, zog zwei Scheiben raus, schloss die Packung wieder und stellte sie zurück. Dann schlich er sich zu den Fleisch- und Wurstwaren und klaute Schinken, damit er sich ein Sandwich machen konnte.“

Im Frühjahr besserte sich die finanzielle Situation der Familie, als Al einen Job bei den Stadtwerken bekam. Da er nun über ein regelmäßiges Einkommen verfügte, kaufte er eine kleine Zweizimmerwohnung in der Washington Street Süd 2603, die er in Raten von jeweils zehn Dollar abbezahlte. Durch den Umzug lebten sie nun wieder im Central District, nur wenige Straßenecken von der Jackson Street entfernt. Am wichtigsten aber war für Jimi und Leon, dass sie nun einen Hof und ein eigenes Zuhause hatten.

Das ganze Haus hatte nur dreihundert Quadratmeter und war bereits fünfzig Jahre alt, aber den Jungs kam es wie ein Palast vor. Jimi und Leon teilten sich ein Zimmer, doch nicht lange nach ihrem Einzug stießen Als Nichte Grace und ihr Mann Frank Hatcher zu ihnen. „Al bat uns, bei ihm zu wohnen und auf die Kinder aufzupassen“, erinnert sich Frank. „Allein hat er es nicht geschafft. Er hat viel getrunken, hat gespielt und ist oft gar nicht nach Hause gekommen.“ Eine Zeit lang übernahmen die Hatchers praktisch die Elternfunktion für die beiden Jungen, wobei besonders Grace zu einer weiteren Mutterfigur wurde. Ihre leibliche Mutter Lucille kam eher selten zu Besuch. Sie wohnte mal in diesem, mal in jenem Hotel und kam alle paar Wochen vorbei, im Alltag war sie jedoch kaum noch präsent.

Ende April wechselte Jimi die Schule. Er besuchte nun die Leschi-Schule, die in Bezug auf Rassentrennung fortschrittlichste Schule der Stadt. Hier lernte er seine engsten Kindheitsfreunde kennen: Terry Johnson, Pernell Alexander und Jimmy Williams. „Wir waren wie eine eigene Familie“, erinnert sich Pernell. Pernell wuchs bei seiner Großmutter Mae Jones auf, die auch im Leben der anderen Jungen eine wichtige Rolle spielte. „Vor der Schule haben wir bei ihr gefrühstückt“, erinnert sich Jimmy Williams. „Mistress Jones hat Jimi und mich über alles geliebt.“

Terry Johnson kam aus einer vergleichsweise intakten Familie und war praktisch in der Kirche aufgewachsen. Jimi begleitete ihn gelegentlich in die Grace Methodist Church, und dort hörte er auch zum ersten Mal Gospel­musik. „Jimi kam ein paar Mal mit“, erinnert sich Johnson, „und ich glaube, es war mehr oder weniger auch das erste Mal, dass er eine Kirche besucht hat.“ Jimi fand die Musik berauschend, und der energievolle Chor vermittelte ihm eine Vorstellung der Macht, die Livemusik haben kann.

Jimis engster Freund war Jimmy Williams, der zwölf Geschwister hatte. Jimmy und Jimi wurden unzertrennlich, vielleicht auch, weil beide sehr introvertiert waren. Um Verwechslungen wegen ihrer identisch klingenden Namen zu vermeiden, legten sie sich innerhalb ihrer Cliquen Spitznamen zu: Jimi wurde zu Henry (eine Abkürzung für Hendrix) oder Buster, Terry Johnson war Terrikins, und Jimmy Williams wurde nach seinem Lieblings­essen Potato Chips genannt. Pernells Vorname klang ohnehin ganz anders als die der anderen, sodass er keinen Spitznamen brauchte.

Im Sommer gingen sie häufig nach Schulschluss im Lake Washington schwimmen oder besuchten eine billige Matinee im Atlas Theater, wo Jimi die Serie Flash Gordon für sich entdeckte und ganz besonders auch den Film Prinz Eisenherz. Der Bösewicht in Prinz Eisenherz war der Schwarze Ritter, und Jimi und Leon fochten mit Besenstielen gegeneinander und stritten endlos darüber, wer die Rolle des heimtückischen Schwarzen Ritters spielen durfte. Als die Familie einen Hund bei sich aufnahm, wurde er nach Prinz Eisenherz Prince genannt.

Derselbe Besen, der als Requisit bei den Fechtduellen diente, verwandelte sich später in eine imaginäre Gitarre. Obwohl Jimi zuvor kaum Interesse an Musik gezeigt hatte, fing er 1953 an, die Pop-Charts zu verfolgen und die Musik aus dem Radio auf dem Besenstiel zu begleiten. „Wir haben uns immer die Hit Parade Top 10 angehört“, erinnert sich Jimmy Williams. Damals standen sie eher auf Schnulzensänger wie Frank Sinatra, Nat King Cole und Perry Como. Jimis Lieblingssänger war Dean Martin.

Beinahe jeden Tag hörte Jimi nach der Schule Radio und tat so, als würde er auf dem Besen mitspielen. Al, welcher der Meinung war, ein Besen sei ausschließlich zum Fegen da, erhob Einwände. „Jimi tobte herum und spielte Besen“, erinnert sich Leon. „Wenn Dad reinkam, fegte Jimi schnell wieder. Dann entdeckte Dad aber Stroh vom Besen auf dem Bett und flippte aus.“

Die Jungs arbeiteten den Sommer über auf den Feldern südlich von Seattle, pflückten Bohnen oder Erdbeeren. Für diese Jobs mussten sie sehr früh aufstehen, um den Bus zum Bauernhof zu erwischen. Al weckte sie morgens um vier Uhr und ging mit ihnen zur Wonder-Bread-Bäckerei, wo Jimi einen Arbeiter kannte, der ihnen Donuts vom Vortag aufhob. Sie liefen ins Industriegebiet von Seattle und fuhren mit dem Bus zu einer Farm dreißig Kilometer außerhalb der Stadt. Die Pflücker wurden je nach Menge bezahlt, weshalb sie entweder so viel pflückten, bis sie genug für ein Mittagessen hatten, oder so viele Erdbeeren aßen, wie sie konnten. Manchmal schwammen sie im Green River, und einmal rettete Jimi Leon vor dem Ertrinken. „Ich bin in den Kanal gefallen, und Jimi ist losgeschwommen und hat mich gerettet“, erzählt Leon. Auf dem Heimweg von den Feldern gaben die Jungs oft ihr eben erst verdientes Geld wieder für Pferdefleisch-Burger aus, zehn Cent pro Stück. „Wir haben zwei gekauft, und das war der Höhepunkt des Tages“, sagt Leon. „Dann sind wir nach Hause und haben auf Dad gewartet, weil, na ja, manchmal ist er nicht nach Hause gekommen.“

Nach einem Jahr hatten Grace und Frank Hatcher Als Marotten satt. Bei ihrem Einzug hatte sich Al bereit erklärt, in jeder zweiten Woche zu kochen, und die Hatchers hatten den Eindruck, er würde seinen Teil der Verabredung nicht erfüllen. „Er hat immer nur Reis, Bohnen und Wiener gekocht“, sagt Frank ­Hatcher. „Er hat immer nur das billigste Fleisch gekauft: Hälse und Pferdefleisch.“ Die Hatchers waren es leid und zogen aus, womit die Jungen mal wieder allein ihrem Vater überlassen blieben. Al wollte keinem seiner beiden Söhne einen Wohnungsschlüssel geben, weshalb Jimi oder einer seiner Freunde immer herausfinden mussten, in welcher Kneipe Al gerade saß, damit sie den Schlüssel dort holen konnten. „Es gab ungefähr fünf Kneipen, in die er regelmäßig ging“, erinnerte sich Pernell Alexander. „Man musste nur rauskriegen, in welcher er gerade steckte.“ Am liebsten ging Al in die Shady Spot Tavern auf der Dreiundzwanzigsten oder die Mister Baker Tavern an der Ecke Fünfundzwanzigste und Jackson. Bei Mister Baker konnte Jimi durchs Fenster sehen, ob sein Vater dort war, ohne reingehen zu müssen. Oft gaben Jimi und Leon die Suche aber auf und übernachteten bei Freunden.

* * *

In der Zwischenzeit setzte sich das Katz-und-Maus-Spiel mit dem Sozialamt fort. Wegen fortgesetzter Beschwerden durch Nachbarn stattete ihnen ab 1954 ein Sozialarbeiter jede Woche einen Besuch ab. Ein Eingreifen des Jugendamts konnte vorübergehend abgewendet werden, weil Delores Hall und Dorothy Harding regelmäßig vorbeischauten, putzten und die Wäsche der Kinder wuschen. Delores erinnert sich, wie sie eines Abends dort eintraf und feststellte, dass Al verschwunden war und die beiden Jungen gerade versuchten, sich ein Abendessen zu kochen. „Jimi briet Eier, und als er mich sah, setzte er ein breites Grinsen auf und sagte: ‚Ich mach was zu essen!‘“ Viele der Haushaltspflichten blieben an Jimi hängen, der noch keine zwölf Jahre alt war, sich aber bereits um seinen Bruder kümmern musste. „Jimi war Leons Beschützer“, erinnert sich Pernell Alexander. „Er tat, was er konnte, damit es Leon an nichts fehlte.“

Schließlich stellte aber ein Sozialarbeiter Al Hendrix zur Rede, und keine noch so schnelle Aufräumaktion der Tanten konnte die Verwahrlosung, in der Leon und Jimi lebten, länger kaschieren. Al wurde vor die Entscheidung gestellt: Entweder seine Söhne würden in Pflegeheime gesteckt oder zur Adoption freigegeben. Obwohl sie in entsetzlichen Zuständen lebten, kannten sie es nun mal nicht besser und flehten Al an, sie nicht zu trennen. Al traf jedoch eine Entscheidung, die ihr Leben rasch ändern sollte: Er argumentierte, Jimi solle, da er fast schon ein Teenager war und weniger Fürsorge bräuchte, bei Al bleiben. Leon, Als Liebling, sollte unter staatliche Obhut gestellt werden. Der Sozialarbeiter stimmte dem Vorschlag zu, erklärte Al aber, Leon müsse sofort mitkommen. „Nehmen Sie ihn nicht jetzt schon mit“, bettelte Al. „Ich bring ihn morgen ins Heim.“ Es war eine der wenigen Gelegenheiten, bei denen die Jungen ihren Vater weinen sahen. Der Sozialarbeiter gab nach, und Leon erhielt eine Nacht als Gnadenfrist.

In jener Nacht, von der alle glaubten, es sollte ihre letzte zu dritt werden, zeigte sich Al ungewöhnlich zärtlich. Den einzigen körperlichen Kontakt, den die Jungen von ihm kannten, war ein Schulterklopfen oder ein Händeschütteln. Am liebsten mochten sie es jedoch, wenn Al sanft seine Fingerknöchel über ihre Schädel rieb. Durch die jahrelange Knochenarbeit waren Als Finger hart und rau, und er mag das Gefühl gehabt haben, seine Fingerknöchel fühlten sich freundlicher an als ein Streicheln mit seinen zerfurchten Handballen. Es war eine merkwürdige Art, Zuneigung zu zeigen, aber sowohl Jimi als auch Leon wussten diese Augenblicke der Zärtlichkeit zu schätzen. Nachdem der Sozialarbeiter gegangen war, verbrachte Al den Großteil des Abends damit, ihnen mit den Fingerknöcheln über die Schädel zu streichen, als ob dies den Schmerz, den seine Söhne durchgemacht hatten und der noch vor ihnen lag, hätte lindern können.

Sowohl Leon wie auch Jimi waren niedergeschlagen, als Al Leon am nächs­ten Tag wegbrachte, doch die Veränderung entpuppte sich als unerwartet undramatisch.

Leon wurde nur sechs Straßenecken entfernt bei Pflegeeltern untergebracht, und er und Jimi blieben tagsüber unzertrennlich. „Entweder bin ich nach Hause zu Dad und hab da mit Jimi gespielt“, erinnert sich Leon, „oder Jimi ist zu mir gekommen. Eigentlich waren wir nie getrennt.“ Arthur Wheeler, Leons Pflegevater, bestätigt diese Geschichte. „Jimi war ständig bei uns“, sagt Wheeler. „Er hat mehr oder weniger regelmäßig bei uns gegessen.“

Obwohl Arthur und Urville Wheeler sechs eigene hatten, nahmen sie bereitwillig bedürftige Kinder auf und versorgten manchmal bis zu zehn Kinder gleichzeitig. Sie waren strenggläubige Kirchgänger und lebten nach der Lehre der Bibel, indem sie alle ihre Kinder, auch die Pflegekinder, gleich behandelten. Auch Jimi wurde inoffiziell zu einem ihrer Pflegekinder. „Jimi war öfter bei uns als bei seinem Dad“, erinnert sich Doug Wheeler, einer der Söhne der Wheelers. „Jimi blieb oft über Nacht, damit er am nächsten Tag vor der Schule bei uns frühstücken konnte. Er hätte sonst vielleicht nichts zu essen gekriegt.“ Jimi und Leon konnten es kaum fassen, dass es in der Küche der Wheelers immer etwas zu essen gab und dass eine Obstschale auf der Küchenanrichte stand. Jimi jammerte ständig: „Ich wünschte, ich dürfte dort wohnen.“ Im Prinzip tat er es bereits.

Trotz seines turbulenten Lebens fehlte Jimi überraschend selten in der Schule. Er war kein glänzender Schüler, aber seine Noten waren passabel, und in Kunst erwies er sich als viel versprechend begabt. Er fertigte in seinem Heft unzählige Zeichnungen von Dingen an, die alle Jungs in der Regel zeichnen: fliegende Untertassen und Rennwagen. Autos interessierten ihn so sehr, dass er verschiedene Entwürfe zeichnete und an die Ford Motor Company sendete. Im Herbst versuchte es Jimi auf Als Drängen hin mit dem Football. Sein Trainer war Booth Gardner, der Jahrzehnte später Gouverneur von Washington wurde. „Er war kein Athlet“, erinnert sich Gardner. „Er war nicht gut genug für eine Sportlerkarriere. Ehrlich gesagt war er nicht mal gut genug, um einfach so zu spielen.“ Jimi war außerdem kurzzeitig Mitglied der Pfadfinder, der Boy Scout Troop Sixteen.

1955, als Jimi zwölf Jahre alt war, wuchs sein Interesse für Musik noch einmal schlagartig, als er bei einem Talentwettbewerb an der Leschi-Schule Jimmy Williams „Wanted“ von Perry Como singen hörte. „Ich hab sehr viel Applaus bekommen“, erinnert sich Williams. „Nach der Vorstellung kam Jimi zu mir und sagte: ‚Wow, du wirst mal berühmt. Bist du dann immer noch mein Freund, wenn du berühmt bist?‘“ Jimi hatte – vielleicht zum ersten Mal in seinem Leben – beobachtet, wie sich Menschen auf der Bühne verändern und wie die Bühne einen so schüchternen Jungen wie Jimmy Williams in einen Entertainer verwandelt hatte. Es war eine Lektion, die sich Jimi Hendrix zu Herzen nahm.

* * *

Im Central District in Seattle beteuern viele Familien, Jimi habe regelmäßig bei ihnen zu Mittag und zu Abend gegessen. Zu Hause bei seinem Vater war Jimi damals kaum anzutreffen, vielmehr lebte er schon aus praktischen Gründen von der Güte der anderen Mitglieder der afroamerikanischen Gemeinschaft. Der Beitrag der Wheelers und vieler anderer zu Jimis Wohlergehen darf nicht unterschätzt werden. Sie ermöglichten ihm buchstäblich das Überleben.

Keine Familie hat jedoch über die Jahre mehr für Jimi Hendrix getan als die der Hardings. Auntie Doortie, wie er Dorothy Harding nannte, hatte Lucille während der Wehen beigestanden, hatte Jimis Windeln gewechselt und sich ständig versichert, dass es ihm gut ging. Jimi bezeichnete Dorothy Harding als seine Tante, aber im Vergleich zu den anderen Frauen in seiner Umgebung, einschließlich seiner leiblichen Mutter, war sie vielleicht am ehesten so etwas wie eine Mutter für ihn. Wenn Auntie Doortie Jimi eine Weile lang nicht sah, spürte sie Al in einer seiner Stammkneipen auf und beschimpfte ihn, was regelmäßig vorkam. Sie war die einzige Frau, von der sich Al diese Art von Kritik gefallen ließ.

Harding zog als allein erziehende Mutter neun eigene Kinder groß und ging außerdem gleichzeitig zwei verschiedenen Jobs nach. Ab 1955 arbeitete sie tagsüber bei Boeing an der Nietmaschine, eilte dann nach Hause, wo sie für ihre Kinder kochte, bevor sie zu ihrem zweiten Job als Hausmädchen bei einer wohlhabenden weißen Familie ging. Die Familie Harding bewohnte eine Dreizimmerwohnung im Rainier Vista, und während der fünfundzwanzig Jahre, die sie dort lebte, schlief Dorothy auf dem Sofa im Wohnzimmer und überließ ihren Kindern die beiden Schlafzimmer. Obwohl sie hart zu kämpfen hatte, achtete Dorothy stets darauf, dass ihre Kinder genug zu essen bekamen und sauber aussahen. Sonntags besuchten sie alle gemeinsam die Saint Edward’s Catholic Church. Oft wurden sie von Jimi begleitet, dem dieses Ritual sehr zu gefallen schien, wenn auch vielleicht nur, weil ihm der Kirchgang mit den anderen das Gefühl gab, zu einer echten Familie zu gehören.

Die älteren Harding-Söhne übernahmen bei zahlreichen Gelegenheiten die Rolle als Jimis Beschützer. „Es gab eine stille Übereinkunft, dass ihn die anderen in Ruhe ließen, wegen uns“, erinnert sich Melvin Harding. „Er war kein Kämpfer. Er war still und hatte ein Lächeln, das jeden weich machte.“ Jimi war introvertiert, wirkte sogar niedergeschlagen. „Er war extrem sensibel“, meint Ebony Harding. „Er hat nie gesagt, dass er seine Mom oder seinen Dad vermisst, aber man hat’s ihm angemerkt. Er hat viel geweint.“

An einem Abend bei den Hardings machte Jimi eine Bemerkung, die allen Anwesenden – welche die Geschichte übereinstimmend erzählen – derart prophetisch erschien, dass sie übersinnliche Kräfte am Werk vermuteten. „Er sagte zu mir: ‚Ich werde weit, weit weg gehen. Und ich werde reich und berühmt sein, und dann sind alle neidisch auf mich‘“, erinnert sich Dorothy Harding. „Er sagte, er würde das Land verlassen und nie wieder zurückkommen. Darauf meinte ich, er dürfe so was nicht machen und mich hier allein lassen. Er antwortete: ‚Nein, Auntie Doortie, dich nehm ich mit.‘“ An dem Abend lachten die Harding-Kinder Jimi wegen der Theatralik, mit der er das verkündete, aus.

In den Gutenachtgeschichten, die sich die Harding-Kinder untereinander erzählten, gab es einen weiteren prophetischen Hinweis. Obwohl Jimi die Harding-Söhne immer am meisten bewundert hatte, sollte Shirley den größten Einfluss auf seine Zukunft haben. Als eines der älteren Mädchen war sie dafür verantwortlich, ihre jüngeren Geschwister zu Bett zu bringen. Sie deckte alle zu, dämpfte das Licht und saß dann im Flur zwischen den beiden Schlafzimmern. Von dieser Position aus gab sie allabendlich eine Vorstellung, die Jimi außerordentlich faszinierte. Sie erzählte Geschichten, „erfundene Geschichten“, wie Jimi meinte, und er war verrückt nach ihnen.

In den Gutenachtgeschichten kamen stets drei Figuren vor: Bonita, Audrey und Roy. Ihre Namen änderten sich nie, obwohl sich ihre Charaktere Nacht für Nacht weiterentwickelten. „Manchmal gemahnten sie an die Fabeln von Äsop“, erinnert sich Ebony Harding, „manchmal gab es eine moralische Lehre.“ Wenn jemand an einem Tag besonders freundlich gewesen war, erzählte Shirley die Geschichte so, dass alle wussten, dass sie von dieser Person handelte. Wenn jemand etwas falsch gemacht hatte, wurde er oder sie als Bonita, Audrey oder Roy in die Geschichte eingebaut, die Missetat erzählt und erklärt. Jimi gab regelmäßig das Rohmaterial für die Figur Roy ab. Die Wohnung der Hardings sauber zu halten war eine niemals endende Plackerei, und Jimi übernahm so oft die Aufgabe, die Küche zu fegen, dass es auffiel und er in den Geschichten zu „Roy, dem Besenboy“, wurde. Shirley ließ Roy, Bonita und Audrey viele Erfolge und Niederlagen erleben, aber keine machte der Familie – und vor allem Jimi – mehr Spaß als die Geschichte von Roy, der einmal als Gitarrist groß herauskommen würde. „Roy wurde reich und berühmt mit seiner Besengitarre“, erzählte Shirley die Geschichte. „Von überall her kamen Leute, um ihn spielen zu hören. Er wurde so reich, dass er in einem langen schwarzen Cadillac herumfuhr. Er war immer glücklich. Er hatte haufenweise Geld, aber er hat immer noch die Küche geputzt und den Boden gefegt und das Geschirr abgewaschen.“ Und das war die Moral von der Geschichte: Auch wenn man reich und berühmt war, musste man trotzdem daran denken, den Boden zu fegen. „Roy war reich und berühmt, und er hatte seinen Cadillac“, fuhr sie fort. „Er konnte überall in der Welt umherreisen. Aber so ein Junge war Roy nicht – er fuhr raus in die Welt, aber er kam immer wieder in seinem Cadillac nach Hause zurück. Er fuhr zum Rainier Vista und hupte laut, und alle Kinder kamen herausgerannt und hatten ihn lieb.“ Spätestens an dieser Stelle der Erzählung war Jimi sicher, dass die Geschichte von seiner Zukunft handelte, die noch in weiter Ferne lag und ihm wie ein wunderbarer Traum erschien.

Jimi Hendrix

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