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Kapitel fünf

Johnny Guitar

Seattle, Washington

März 1955 bis 1958

Held: „Der Name ist Johnny. Johnny Guitar.“

Erster Schurke: „Das ist kein Name.“

Zweiter Schurke: „Kopf: Ich bring sie um, Mister; Zahl: Sie dürfen ihr etwas vorspielen.“

— aus dem Film Johnny Guitar

Im Frühjahr 1955 wurde Jimi Hendrix mit der sechsten Klasse der Leschi Elementary School fotografiert. Das Klassenfoto mit sechsundvierzig Kindern hätte auch als Postkarte der Vereinten Nationen herhalten können: In seiner Klasse waren jeweils gleich viele afroamerikanische, weiße und Kinder amerikanisch-asiatischer Abstammung. „Es waren eine idyllische Zeit und ein idyllischer Ort“, erinnert sich Jimmy Williams. „Als würde Hautfarbe keine Rolle spielen. Wir hatten das Gefühl, Teil eines größeren Ganzen zu sein.“ Auf dem Foto sieht man Jimi an, dass er sich darüber amüsiert, wie die Erwachsenen versuchen, so viele Kinder zum Stillhalten zu bewegen. Jimi ging in jenem Frühjahr mit der Durchschnittsnote „Drei“ von der Leschi ab und besuchte von nun an die Mittelschule.

Sein Familienleben hatte jedoch ganz und gar nichts Durchschnittliches. Am 30. März 1955 verzichteten Al und Lucille bei einer Anhörung im King County Courthouse – wo sie auch geheiratet hatten – auf sämtliche elterliche Rechte an Joe, Kathy, Pamela und Alfred Hendrix. Die Anhörung war eine Formalität, denn die Kinder waren längst bei Pflegeeltern untergebracht, dennoch verzichteten Al und Lucille erst mit der Unterzeichnung dieses Dokuments dauer­haft auf „alle und jegliche elterlichen Rechte und Interessen an und gegen­über den Kindern“. Delores Hall sagte, Lucille sei „am Boden zerstört“ gewesen, als sie vor Gericht eingestehen musste, als Mutter versagt zu haben. Auch in Hinblick auf die spätere Behauptung von Al Hendrix, er sei gar nicht Vater dieser Kinder, war die Anhörung bemerkenswert. Vor Gericht bekannte er sich damals in allen vier Fällen zu seiner Vaterschaft.

Als die gerichtliche Anhörung stattfand, hatte Jimis Situation zu Hause einen neuen Tiefpunkt erreicht. Al hatte seinen Job verloren und lag mit den Ratenzahlungen zurück. Die Zustände in der Wohnung verschlimmerten sich derart, dass selbst die Besuche der verschiedenen Tanten Schmutz und Verfall nicht mehr aufzuhalten vermochten. Als der Footballtrainer Booth Gardner eines Tages vorbeikam, fand er Jimi allein im Dunkeln. „Der Strom war abgestellt“, erinnert sich Gardner.

Jimi trieb sich völlig unbeaufsichtigt zu jeder Tages- und Nachtzeit im Viertel herum. Viele im Central District kannten ihn, so, wie man einen streunenden Hund kennt, der von Haus zu Haus wandert. Doch trotz seines Eigensinns bewahrte sich Jimi kindlichen Entdeckergeist, und schon bald kannte er jeden Musiker im Viertel, einfach dadurch, dass er dem Klang der Musik folgte. Wenn er Musik aus einer Wohnung hörte, klopfte er neugierig an die Tür. „Mein Bruder spielte Keyboard“, erinnert sich Sammy Drain. „Jimi hat das gehört und kam eines Tages einfach vorbei.“

Das Vagabundenleben barg jedoch auch Gefahren für einen Jungen im Teen­ageralter. Eines Tages befand sich Jimi mit einer Gruppe von Kindern im Wald. Eines der Nachbarkinder, ein behinderter Junge, blieb zurück. Jimi und die anderen riefen ihm zu, er solle aufschließen, doch irgendwann geriet er außer Sichtweite, und sie gingen zurück, um ihn zu suchen. Als sie den Jungen fanden, war ein älterer Mann im Begriff, ihn sexuell zu missbrauchen, und sie verscheuchten ihn. Zehn Jahre später erzählte Jimi einer Freundin, er sei als Jugendlicher selbst sexuell missbraucht worden. Außer dass es sich um einen Mann in Uniform gehandelt habe, gab er keine weiteren Einzelheiten preis, doch der Vorfall muss ihn geprägt haben.

Im Sommer drohte auch das Jugendamt wieder einmal damit, Jimi zu Pflege­eltern zu schicken. Als Kompromisslösung erklärte Al sich damit einverstanden, dass Jimi bei seinem Bruder Frank wohnte. Dort stieß Jimi in Gestalt von Pearl, Franks Ehefrau, auf eine weitere starke afroamerikanische Mutter­figur. Sie führte die Familie wie ein Truppenausbilder, sparte bei den Fami­lienmitgliedern aber auch nicht mit Zuneigung und selbst gemachter Apfel­butter. „Meine Mutter hat mir erklärt, dass Jimi ein Zuhause brauchte, weil Al es sich nicht leisten konnte, sich um ihn zu kümmern“, erinnert sich Diane Hendrix. Frank Hendrix arbeitete bei Boeing und verfügte über ein gutes Einkommen, weshalb ein zusätzlicher Esser am Tisch die Familie nicht belastete. Der größte Nachteil, den der Umzug für Jimi mit sich brachte, bestand darin, dass er nun nicht mehr dieselbe Mittelschule wie seine alten Kumpel besuchen konnte. Jimi trat im Herbst in die siebte Klasse der Meany-Schule ein, während seine Freunde weiter die Washington Junior High besuchten.

Al fand Arbeit als Landschafts- und Gartenarbeiter und sollte den Rest seines Lebens bei dieser Art von Beschäftigung bleiben. Fürs Rasenmähen wurde er nicht gut bezahlt, und so sah er sich gezwungen, Untermieter aufzunehmen. Cornell und Ernestine Benson zogen vorübergehend ein und übernahmen Jimis ehemaliges Zimmer. Ernestine stellte fest, dass Al außer regelmäßigen Mietzahlungen von ihr erwartete, dass sie die Hausarbeit übernahm. Obwohl Al und Lucille seit Jahren geschieden waren, war Als Exfrau Thema zahlreicher Gespräche. „Er nannte sie eine Säuferin“, erinnert sich Ernestine. „Manchmal schimpfte er sie so, wenn er betrunken war. Aber so haben Männer Frauen damals behandelt. Saufende Männer hat man akzeptiert, aber eine trinkende Frau wurde verachtet.“ Seine Trinkerei geriet, wie Ernestine sich erinnert, völlig außer Kontrolle, und manchmal fand er nicht mehr den Weg nach Hause. „Er kam an ein Haus mit einem Tor, und da es bei ihm am Haus ein Tor gab, nahm er an, er wäre zu Hause“, sagte sie. „Er ging rein, setzte sich aufs Sofa und fragte: ‚Was macht ihr denn alle hier?‘ Und die Leute meinten: ‚Im Gegensatz zu dir wohnen wir hier.‘ Und dann haben sie die Polizei gerufen, weil sie ihn loswerden wollten.“

Das Auftauchen von Ernestine Benson bedeutete in Jimis Leben jedoch auch einen Lichtblick: Sie war Bluesfan und hatte eine umfangreiche Sammlung von Achtundsiebziger-Platten mit ins Haus gebracht. Zum ersten Mal hörte Jimi Muddy Waters, Lightnin’ Hopkins, Robert Johnson, Bessie Smith und Howlin’ Wolf. „Ich habe Blues geliebt“, erinnert sich Ernestine. „Und Jimi mochte genau denselben bodenständigen Kram wie ich.“ Jimis einziges Instrument war sein Besen, aber je länger er sich die Bluesplatten anhörte, desto lebendiger wurde sein Luftgitarrenspiel.

„Er spielte so heftig auf seinem Besen, dass der alle Borsten verlor“, bemerkt Cornell Benson.

* * *

Im Februar 1956 ging das nicht enden wollende Hin und Her in Jimis Leben in eine neue Runde. Frank und Pearl trennten sich und schickten ihn wieder zu Al. Die Bensons zogen aus, und eine Zeit lang waren Al und Jimi wieder allein miteinander.

Wegen des Umzugs konnte Jimi erneut auf die Washington Junior High wechseln, wo er wieder zu seinen Freunden stieß. Bislang war er ein ganz ordentlicher Schüler, doch in diesem Jahr verschlechterten sich seine Noten dramatisch. Im ersten Halbjahr bekam er eine Zwei, sieben Dreien und eine Vier. Im zweiten Halbjahr waren es drei Dreien, vier Vieren und zwei Fünfen. Frank Fidler, der Direktor der Schule, erinnert sich, Jimi sei regelmäßig in das Büro des Schulleiters bestellt worden, und zwar vor allem wegen seiner schlechten Noten, weniger wegen Ungehorsams. „Er gehörte nicht zu den Kindern, die ständig Ärger machen“, erinnert sich Fidler, „aber er hat einfach nicht gut gelernt.“

Jimi beendete das Jahr an der Washington Junior High und hätte dort ab September 1956 auch die achte Klasse besucht, hätte es nicht zu Hause weitere Probleme gegeben. In jenem Monat wurde das Haus von der Bank enteignet, und Jimi und Al zogen in eine von einer gewissen Mistress McKay geführte Pension. Jimi musste erneut die Schule wechseln und besuchte nun die achte Klasse der Meany.

Die Familie McKay hatte einen querschnittsgelähmten Sohn, der auf einer ramponierten Gitarre mit nur einer einzigen Saite spielte. Als die Gitarre aussortiert wurde, fragte Jimi Mistress McKay, ob er sie kaufen dürfe. „Sie sagte, sie würde sie für fünf Dollar verkaufen“, erinnert sich Leon. Al war nicht willens, das Geld zu spendieren, und schließlich legte Ernestine Benson den Betrag aus, damit Jimi seine erste Gitarre kaufen konnte. In den Augen der Meisten war das Instrument nichts weiter als ein wertloses Stück Holz. Jimi jedoch verwandelte die Gitarre in ein wissenschaftliches Projekt: Er experimentierte mit jedem Knöpfchen und Hebelchen, das die Gitarre zu bieten hatte. Er machte weniger Musik als Krach. „Sie hatte nur eine Saite“, bemerkt Ernestine Benson, „aber die brachte er wirklich zum Sprechen.“

Als er nun Luftgitarre spielte, hatte er zumindest eine echte Gitarre, die er dabei halten konnte. Bei einer Matinee im Atlas Theater sah Jimi den Film Johnny Guitar von Nicholas Ray. In seiner Rolle als Johnny Guitar ließ der Schauspieler Sterling Hayden, der im ganzen Film nur einen einzigen Song spielt, seine akustische Gitarre mit dem Hals nach unten über den Rücken hängen. Dieses Bild grub sich unauslöschlich in Jimis Gedächtnis. „Er sah den Film“, erinnert sich Jimmy Williams, „und er stand total auf die Art, wie sich der Typ die Gitarre auf den Rücken hängt. Er trug die Gitarre genau wie der Kerl im Film.“ Wie viele Teenager betrachtete Jimi die Gitarre als modisches Accessoire. Mehrere seiner Klassenkameraden erinnern sich, dass er die kaputte Gitarre zum Angeben in die Schule mitbrachte. Wenn er gefragt wurde, ob er spielen könne, antwortete er: „Die ist kaputt.“ Trotzdem ließ er die Gitarre nie aus den Augen. Und wenn er schlief, hatte er sie auf dem Bauch liegen.

Im Sommer 1957 war Jimi vierzehn Jahre alt. Zwei Ereignisse der kommenden achtzehn Monate sollten ihm sein Leben lang in Erinnerung bleiben: Er sah einen Auftritt von Elvis Presley und eine Predigt von Little Richard.

Elvis spielte am 1. September im Sick’s Stadium in Seattle. Jimi konnte sich die einen Dollar fünfzig teure Eintrittskarte nicht leisten und verfolgte das Konzert von einem Hügel aus, von dem aus man Einblick in das Stadion hatte. Obwohl Elvis nur ein winzig kleiner Fleck war, wurde Jimi dennoch Zeuge der Euphorie der sechzehntausend Fans, die den Star auf der Bühne begrüßten. Elvis spielte seine größten Hits, und statt am Ende des Auftritts von der Bühne abzugehen, sprang er auf den Rücksitz eines weißen Cadillac und fuhr davon. Als der Wagen das Sportfeld verließ, gelang es Jimi, aus nächster Nähe einen Blick auf den King in seinem Goldlaméanzug zu werfen. Zwei Monate nach dem Konzert zeichnete Jimi ein Bild von Elvis in sein Heft, auf dem er eine akustische Gitarre hält und von dutzenden Titeln seiner Hits umgeben ist.

Irgendwann im darauf folgenden Jahr machte Leon eine Besorgung für seine Pflegemutter, als er eine Limousine erspähte, der Little Richard entstieg. Richard schüttelte Leon die Hand und sagte, er würde in der Kirche vor Ort predigen – es war die Zeit, in der Richard dem Rock ’n’ Roll zugunsten des Herrn abgeschworen hatte. Leon rannte los und suchte Jimi, und am Abend besuchten die beiden Richards Predigt. „Wir hatten eigentlich keine guten Klamotten“, sagt Leon. „Jimi hatte ein weißes Hemd an, aber dazu trug er abgerissene Tennisschuhe. Die Leute in der Kirche haben uns angestarrt.“ Diese Begebenheit bildete später die Grundlage seiner Behauptung, er sei wegen unangemessener Kleidung aus der Kirche „geflogen“, was so nie passierte. Stattdessen verfolgten Jimi und Leon von der Kirchenbank aus gebannt, wie der entkrauste Haarschopf von Little Richard auf und ab hüpfte, während er von Pech und Schwefel fabulierte. Nach dem Gottesdienst warteten die beiden Jungen, um Richard noch einmal zu begegnen, doch anders als die anderen in der Schlange wollten sie nicht mit ihm über die Bibel reden – sie wollten die erste berühmte Persönlichkeit berühren, der sie je nahe gekommen waren.

* * *

Im September 1957 kam Jimi in die neunte Klasse. Der Höhepunkt des Jahres und vielleicht sogar der seines bisherigen Lebens war die Begegnung mit Carmen Goudy, die seine erste Freundin werden sollte. Mit dreizehn Jahren war sie jünger als er, lebte aber in ähnlicher Armut. „Wenn wir zusammen genug Geld für ein Eis am Stiel hatten, dann war das eine Riesensache“, erinnert sich Carmen. „Wir haben es uns geteilt.“ Wenn die beiden, was selten genug vorkam, einmal genug Geld für den Besuch einer Matinee hatten, dann nur, weil Carmen ihren Beitrag zur Sonntagsschulkollekte unterschlagen hatte. Die meiste Zeit, die sie gemeinsam verbrachten, gingen sie spazieren oder hingen in Parks herum.

Auch Carmen lebte in einer Pension, doch selbst ihr erschien Jimi ärmer als arm. „Er hat diese billigen weißen Halbschuhe getragen“, sagt sie. „Er hatte ein Loch in der Sohle, also hat er ein Stück Pappe ausgeschnitten und in den Schuh gelegt. Er ist aber so viel rumgelaufen, dass die Pappe bald durch war. Also kam er auf die Idee, nicht einfach nur ein Stück Pappe in den Schuh zu legen, sondern immer gleich einen kleinen Vorrat an Pappstücken mit sich in der Tasche rumzutragen. Wenn er dann rumlief und die Pappe durch war, hat er ein neues Stück reingelegt.“ Jimi hatte in der Schule selten etwas zu essen dabei, weshalb sich Carmen regelmäßig ihr Schulbrot mit ihm teilte.

Das Einzige, was beide im Überfluss besaßen, waren Sehnsüchte, denn sie beide waren Träumer. Carmen stellte sich vor, eine berühmte Tänzerin zu werden. Jimis dringendster Wunsch war der nach einer echten Gitarre. Wenn er die erst einmal hätte, verkündete er, würde er ein berühmter Musiker werden. Obwohl sich ihre Schulfreunde über diese Art von pubertären Angebereien lustig machten, bildeten sie doch den Kitt ihrer jugendlichen Romanze. „Wir haben das ‚so tun, als ob‘ genannt“, sagte Carmen. „Wir haben uns gegen-seitig Mut gemacht, ohne dem anderen das Gefühl zu geben, das, wovon er träumte, sei vielleicht unmöglich.“

Carmen besaß jedoch noch einen weiteren Vorzug, der auf Jimi sehr anziehend wirkte. Ihre Schwester war mit einem Mann zusammen, der Gitarre spielte. Jimi hing wie eine Klette an ihm, als könnte er allein durch Zuschauen dessen Fähigkeiten erwerben. Jimi hatte gelernt, seine Luftgitarre mit Geräuschen abzurunden, die er mit dem Mund erzeugte. „Er kriegte Töne hin, die fast an eine Gitarre herankamen“, sagte sie. „Das klang ein bisschen wie Scat-­Singing im Jazz, er konnte tatsächlich ein Gitarrensolo singen, ohne Worte, nur mit Tönen, die er seiner Kehle entlockte.“ Was richtiges Singen anging, so behauptete Jimi seine Stimme sei nicht gut genug; egal, wie oft Carmen ihn drängte, er weigerte sich, für sie zu singen. Sein Stottern war beinahe verschwunden und kam nur noch zum Vorschein, wenn er nervös war, was in Carmens Gegenwart allerdings häufig der Fall war.

Andere Jungen in der Nachbarschaft in Jimis Alter bekamen in jenem Jahr ihre ersten Instrumente. Pernell Alexander war der Erste seiner Freunde, der eine Gitarre besaß, auch wenn es eine akustische mit einem Hals so breit wie ein Baseballschläger war und kaum ein qualitativ hochwertiges Instrument. Später in jenem Jahr legte sich Pernell eine elektrische Gitarre zu, und dieses Instrument war eine derartige Attraktion im Viertel, dass die Jungen manchmal bei ihm vorbeikamen, nur um die Gitarre anzustarren.

Als es Jimi endlich gelang, Saiten für seine akustische Gitarre aufzutreiben, war es eine wahre Erleichterung, das Instrument endlich spielen zu können – auch wenn der Hals verzogen war und sie sich ständig verstimmte. Er spielte trotzdem ununterbrochen darauf, zumindest bis Al ihn erwischte. Jimi war Linkshänder, aber sein Vater bestand darauf, dass er mit rechts schrieb. Al fand, dasselbe Prinzip sollte auch für die Gitarre gelten. „Dad hielt alles Linkshändige für Teufelswerk“, erinnert sich Leon. Jimi zog die Saiten seiner Gitarre so auf, dass er sie linkshändig spielen konnte. Das führte zu der beinahe schon komischen Angewohnheit, dass Jimi seine Gitarre, wenn Al nach Hause kam, schnell umdrehte, dabei aber immer weiter sein Stück spielte. „Er lernte sie mit links und rechts zu spielen, weil er die Gittare jedes Mal, wenn Dad ins Zimmer kam, umdrehen und verkehrt herum spielen musste, sonst hätte Dad ihn angeschrien“, sagte Leon.

„Dad gefiel es gar nicht, dass er die ganze Zeit Gitarre spielte und nicht arbeitete.“ Al meldete Jimi so oft wie möglich zum Rasenmähen an, eine Verpflichtung, vor der sich der jüngere Hendrix tunlichst drückte.

* * *

In jenem Jahr zog Leon vorübergehend bei seinen Pflegeeltern aus, und die drei Hendrix’ wohnten wieder zusammen in einem einzigen Zimmer. Jimis Stimmung hellte sich durch das Zusammensein mit seinem Bruder wieder auf, und auch seine Schulnoten besserten sich. Im Herbst hatte er wieder Dreien in Englisch, Musik, Naturkunde und Werken. Im Sport fiel er erneut durch, und in Aufmerksamkeit und Betragen bekam eine Vier. Aber selbst diese bescheidenen Noten waren eine bemerkenswerte Leistung, wenn man bedenkt, dass er inzwischen mindestens einmal die Woche die Schule schwänzte. Wenn er sich selbst vom Unterricht befreit hatte, spazierte er meist wie Johnny Guitar mit der Gitarre auf dem Rücken durchs Viertel.

Obwohl Jimi und Leon ihre Mutter sei Monaten nicht mehr gesehen hatten, erfuhren sie von Delores, dass Lucille am 3. Januar 1958 wieder geheiratet hatte. Nach einer sehr kurzen Romanze hatte sie mit William Mitchell, einem dreißig Jahre älteren pensionierten Hafenarbeiter, Nägel mit Köpfen gemacht. Delores nimmt an, dass Lucille trotz ihrer erneuten Ehe Al gelegentlich traf, zum Beispiel in der Kneipe auf der Yesler Street, in der beide Stammgäste waren. „Dort begegneten sie einander zufällig, und die ganze Sache ging von vorn los“, erinnert sich Delores.

Alkoholbedingte gesundheitliche Probleme waren es dann auch, die den Anlass für den nächsten Besuch der Söhne bei ihrer Mutter gaben. Im Herbst 1957 war Lucille zweimal wegen einer Leberzirrhose ins Harborview Hospital eingeliefert worden. Mitte Januar 1958 lag sie, gerade frisch verheiratet, erneut mit Hepatitis im Krankenhaus. Delores nahm Jimi und Leon mit, als sie sie besuchte. Die Jungen waren schockiert angesichts ihrer aschfahlen Mutter im Rollstuhl und ihres körperlichen Verfalls. „Sie hat immer umwerfend und glänzend ausgesehen“, sagt Leon. „Sie hat Schmuck getragen und gut gerochen. Aber dieses Mal überhaupt nicht.“

Lucille umarmte und küsste ihre Söhne wiederholt, und nachdem Jimi und Leon den Raum verlassen hatten, sprach sie allein mit Delores. „Weißt du, Schwester“, sagte Lucille, „ich werde nicht mehr lange leben. Alles, was ich habe, sind diese Kinder, und ich liebe sie. Ich möchte mich um sie kümmern und eine gute Mutter sein, aber das kann ich nicht. Ich schaffe das nicht.“ Egal, wie schlecht es ihr in der Vergangenheit ergangen war, hatte Lucille sich doch stets ein sonniges Gemüt bewahrt. Delores war erschrocken, ihre jüngere Schwester so niedergeschlagen zu erleben. „Das wird schon wieder“, sagte Delores. „Du musst nur gut auf dich aufpassen.“ Lucilles Zustand besserte sich, und in der Woche darauf verließ sie das Krankenhaus in der Hoffnung, sich auf dem Weg der Genesung zu befinden.

Jahre später schrieb Jimi seinen beinahe autobiografischen Song „Castles Made Of Sand“ und sprach darin von einer Frau im Rollstuhl, deren Herz sich sorgenvoll verkrampft habe. „Der Song handelt von unserer Mutter“, sagt Leon. Der Song beginnt mit einem Ehekrach, und die Frau knallt ihrem betrunkenen Mann die Tür vor der Nase zu. Eine weitere Strophe erzählt die Geschichte eines Jungen, der im Wald spielt und so tut, als sei er ein Indianerhäuptling. Die verkrüppelte Frau beschließt, sich selbst das Leben zu nehmen, indem sie ins Meer geht. „You won’t hurt me no more – du wirst mich nie wieder verletzen“, sagt sie beschwörend und springt. Sie landet auf einem Schiff mit goldenen Segeln. Jimi beschließt den Song mit einem Verspaar über die Zeitlosigkeit, die er als Sandburg beschreibt, die ins Meer gespült wird.

* * *

Zwei Wochen nach Jimis und Leons letztem Besuch starb Lucille Jeter Hendrix Mitchell.

Delores erfuhr durch den Anruf einer Freundin Lucilles, dass ihre Schwester am 1. Februar wieder ins Krankenhaus eingeliefert worden war. Die Freundin berichtete, Lucille sei bewusstlos in einer Seitengasse der Yesler neben einer Kneipe gefunden worden. Delores und Dorothy Harding fuhren sofort ins Harborview Hospital, um sie zu besuchen. „Die Schwestern wussten nicht, was ihr fehlte, aber sie meinten, sie würde schon wieder gesund werden“, sagt Delores. „An dem Abend war so viel los, dass die Gänge voll waren mit den Opfern von Schießereien und Messerstechereien, und um Lucille kümmerte sich niemand richtig.“ Nachdem sich die beiden Frauen beschwert hatten, wurde Lucille endlich in ein Zimmer gebracht, doch bis der Arzt eintraf, war Lucille bereits an einem Milzriss gestorben. „Sie hätten sie vielleicht retten können“, sagt ­Delores. „Aber sie hatte innere Blutungen, und die Hilfe kam zu spät.“

Auf Lucilles Sterbeurkunde wurden als Todesursachen „Milzriss und Blutungen“ angegeben. Auf dem Dokument sind außerdem „Bluthochdruck und Zir­rhose der Pfortader“ als begleitende Krankheitsbilder verzeichnet. Die Pfortader transportiert Blut in die Leber. Sie kann durch Zirrhose beschädigt werden, eine Leberkrankheit, die gewöhnlich durch Alkoholismus verursacht wird. Einen Milzriss zieht man sich jedoch normalerweise nicht ohne Trauma zu, auch nicht, wenn man bereits lange an Zirrhose leidet. Lucille muss entweder gestürzt oder geschlagen worden sein, sonst wäre ihre Milz nicht gerissen. In der Familie wurden die verschiedensten Spekulationen darüber angestellt, was ihr draußen vor jener Kneipe zugestoßen sein mag, doch Einzelheiten wurden nie bekannt.

Ein Freund kam in die Pension, um Al die traurige Neuigkeit mitzuteilen. Jimi, der im vorangegangenen Herbst fünfzehn Jahre alt geworden war, hörte die Unterhaltung mit und fing an zu weinen. Leon war erst zehn Jahre alt und eher schockiert als traurig. Lucille war in ein Bestattungsinstitut in Chinatown gebracht worden. Al lieh sich einen Transporter und nahm die Kinder dorthin mit. Draußen vor dem Bestattungsinstitut jedoch überlegte er es sich anders und erlaubte den Jungen nicht, den Leichnam zu sehen. Er ließ sie im Wagen warten, während er der Frau, mit der er sechs Kinder hatte, seinen letzten Besuch abstattete. „Al war der einzige Mann, den Lucille jemals geliebt hat“, sagt Delores. „Sie mag sich mit anderen Männern eingelassen haben, aber sie hat nie einen anderen geliebt.“

Jimi weinte, während sie draußen im Wagen warteten, aber Leon blieb ungerührt, weil er dachte, wenn er keinerlei Gefühl zeige, würde der Schmerz von allein verschwinden. Als Al zurückkam, bot er jedem der beiden Jungs einen Schluck Seagram’s-7-Whiskey aus seinem Flachmann an. Alle drei Hendrix-Männer nahmen einen ordentlichen Zug, und Al fuhr sie wieder nach Hause.

Die Beerdigung fand vier Tage später in einer Pfingstlerkirche statt. Als Mutter Nora kam aus Vancouver, und ungefähr zwei Dutzend Freunde und Freundinnen Lucilles erwiesen ihr die letzte Ehre. Das Begräbnis war an einem Sonntag für zwei Uhr nachmittags angesetzt. Alle waren pünktlich da und warteten, dass es losging, nur von Al, Jimi und Leon war nichts zu sehen. Der Priester schob den Beginn des Gottesdiensts in der Hoffnung hinaus, sie hätten sich einfach nur verspätet. Wenn Al schon nicht an der Zeremonie teilnahm, so dachten Lucilles Verwandte, würde er doch zumindest den Anstand besitzen, die Jungen vorbeizubringen. Um vier Uhr nachmittags, zwei Stunden später als ursprünglich geplant, begann endlich die Beerdigung. Die Jungen waren nicht aufgetaucht. „Wir haben gewartet und gewartet“, sagt Delores, „aber sie kamen einfach nicht.“

In seiner Autobiografie erklärt Al, Jimi habe zur Beerdigung gehen wollen, aber Al hatte keinen Wagen, weshalb er Jimi Geld für den Bus gegeben und ihm gesagt habe: „Du hast das Fahrgeld, jetzt kannst du den Bus nehmen.“ Aber statt in den Bus zu steigen und zur Beerdigung seiner Mutter zu fahren, sei Jimi weinend in seinem Zimmer sitzen geblieben. „Wir wollten beide hin“, erinnert sich Leon, „aber Dad hat uns nicht lassen.“

Als Dorothy Harding Al später an diesem Abend aufspürte, gab sie ihm eine schallende Ohrfeige. „Ich habe ihn dafür gehasst“, erinnert sich Harding. „Ich habe ihm gesagt, dass er das noch würde büßen müssen.“ Delores traf den Nagel allerdings noch eher auf den Kopf, als sie Al erklärte, Jimi und Leon würden dafür büßen müssen. Al antwortete: „Na ja, das hat doch keinen Sinn, da hinzugehen, jetzt ist es doch vorbei.“

„Nein, Al“, erwiderte Delores und zeigte auf die Jungen, die im angrenzenden Zimmer in Dorothys Armen Trost fanden. „Für dich mag das stimmen, aber für die beiden wird es nie vorbei sein.“

Jimi war immer schon schüchtern gewesen, aber nach Lucilles Tod zog er sich immer mehr zurück und wirkte oft abwesend. Seine ganze verbleibende Jugend über sollte er, außer gegenüber seinen engsten Freunden, kaum je eine Unterhaltung von sich aus beginnen. „Er wurde extrem sensibel“, erinnert sich Ebony Harding. „Er war sehr, sehr traurig.“ Einige fanden, er wirke distanziert. Es war beinahe so, als sei ihm, da er nun den schwersten Verlust überhaupt zu verkraften hatte, alles andere unwichtig geworden. Auch wurde ein Charakterzug an ihm deutlich, der auch später noch vielen auffiel: Statt langfristig zu planen, lebte er jeden Tag, als sei es sein letzter. Er blieb weiterhin ein Träumer, doch wenn in seinem Leben etwas schief lief, resignierte er.

Lucilles Tod veränderte Jimis Beziehung zu Al unwiderruflich. Auch wenn Jimi nicht gewusst hatte, wo seine Mutter steckte, war sie dennoch emotional in seinem Leben gegenwärtig gewesen, eine Alternative, die man sich zumindest vorstellen konnte. Die Entscheidung seines Vaters, ihn nicht an der Beerdi­gung teilnehmen zu lassen, blieb Jimi bitter in Erinnerung. „Das hat er unserem Dad nie verziehen“, sagt Leon. Über den Verlust seiner Mutter sprach Jimi so gut wie nie, auch nicht mit seinen engsten Freunden. Seine Freundin Carmen Goudy erfuhr durch eine Klassenkameradin davon. Jimmy Williams hörte es von Leon. In seiner eigenen inneren Welt begann Jimi die Mutter, die er verloren hatte, zu idealisieren, und Lucille wurde immer mehr zum Thema seiner Gedichte und Songs, die er seit dem Frühjahr schrieb. Jimi hatte sich immer für Science-Fiction und den Weltraum interessiert, aber zu diesen kindlichen Vorlieben kam nun noch eine neu gewonnene Faszination für Engel hinzu. „Mama wurde für ihn zu einem Engel“, sagt Leon. „Er hat mir gesagt, er sei sicher, sie sei ein Engel und würde uns überallhin folgen.“

* * *

An einem Abend in jenem Frühjahr hörte Delores Hall ein Geräusch auf ihrer Veranda. Sie schnappte sich eine Taschenlampe und ging nachsehen. Als sie den Lichtkegel über die Veranda gleiten ließ, leuchtete sie in Jimis rundes Gesicht. Er saß auf einem Stuhl in der Ecke. „Was machst du denn hier so spät in der Nacht, Buster?“, fragte sie. „Gar nichts, Tante“, antwortete er.

„Er war wie weggetreten“, erinnert sich Delores Hall Jahre später. „An jenem Abend war er so sehr in sich selbst zurückgezogen. So hatte ich ihn noch nie erlebt.“

Delores versuchte, ihn aufzumuntern. „Wieso kommst du nicht rein?“, redete sie ihm zu. „Ich mach dir was zu essen.“

„Ach, ich she mir nur die Sterne an“, sagte er. „Ich komme später.“

„Denkst du an deine Mom?“, fragte sie.

„Woher weißt du das?“, erwiderte er. „Eines Tages werde ich sie wieder­sehen, ganz bestimmt.“

„Ich weiß“, antwortete Delores. „Wir alle werden sie wiedersehen.“

Jimi schien weicher zu werden, als sei die ungeheure Gefühlsintensität nur eine gewisse Zeit lang auszuhalten. Und als der Zauber verflog, klang er wieder wie ein Junge, der zu viele Science-fiction-Comics gelesen und zu viele Flash Gordon-Filme im Atlas Theater gesehen hatte. „Eines Tages schieß ich mich mit einer Astralrakete in den Himmel“, prahlte er. „Ich fliege zu den Sternen und zum Mond. Ich fliege da hinauf, und dann sehe ich, was da ist. Ich will hoch in den Himmel“, sagte er und sah seine Tante an, „und von Stern zu Stern fliegen.“

Jimi Hendrix

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