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Kapitel zwei

Bucket of Blood

Vancouver, Britisch-Kolumbien

1875 bis 1941

„Sie arbeitete in einer Kneipe, die hieß ‚Bucket of Blood‘. In dem Laden gab’s ständig Ärger und Messerstechereien. Das war echt ’ne heftige Kneipe.“

— Dorothy Harding

Als Jimi Hendrix Ende der Sechzigerjahre allmählich berühmt wurde, buchstabierten die Zeitungen seinen Nachnamen oft falsch als „Hendricks“. Hendrix fand, dass das nun mal zum Showbusiness gehöre, und ließ sich die zahlreichen unterschiedlichen Schreibweisen seines Familiennamens gefallen. Bis 1912, als ihn sein Großvater zu „Hendrix“ verkürzte, wurde sein Nachname jedoch tatsächlich „Hendricks“ geschrieben.

Zu Jimis Vorfahren väterlicherseits zählen ebenso wie mütterlicherseits Sklaven, Sklavenbesitzer und Cherokee. Jimis Großvater väterlicherseits, Bertran Philander Ross Hendrix, wurde ein Jahr nach Ende des Bürgerkriegs in Urbana City, Ohio, geboren. Er war ein außereheliches Kind und entsprang der Vereinigung seiner Mutter, einer ehemaligen Sklavin, mit einem weißen Kaufmann, dem sie einmal gehört hatte. Seine Mutter nannte ihn nach ihrem Herrn, in der Hoffnung, der Vater würde für den Unterhalt des Kindes aufkommen, was er aber niemals tat. Als Bertran erwachsen wurde, nahm er einen Job als Bühnenarbeiter bei einer Varietétruppe an. Dort begegnete er Nora Moore, und die beiden heirateten. Noras Urgroßmutter war eine Vollblut-Cherokee gewesen, womit Jimi Hendrix zu mindestens einem Achtel Indianer war.

Nora und Bertran trafen 1909 in Seattle ein, als ihre rein schwarze Varieté­truppe, das Great Dixieland Spectacle, im Rahmen der Alaska-Yukon-Pacific-Exposition an der Universität Washington gastierte. Sie blieben den Sommer über, zogen dann aber weiter nach Vancouver in Britisch-Kolumbien, auf der anderen Seite der Grenze Washingtons. Die Gemeinden der Minderheiten in Vancouver waren noch kleiner als in Seattle, und da es dort wenig Bedarf an schwarzem Varietétheater gab, verdingte sich Bertran als Hilfsarbeiter und Diener. Wie das Paar feststellen musste, war Vancouver eine Stadt, die auf so überwältigende Weise von Weißen geprägt war, dass sie dort als kurios auf­fielen. Sie ließen sich in Strathcona nieder, dem Einwandererviertel, das auch Zentrum der Schwarzbrenner und Prostituierten war und von Einheimischen „sündige Meile“ genannt wurde.

Nora und Bertran bekamen in den ersten sechs Jahren ihrer Ehe drei Kinder: Leon, Patricia und Frank. 1919 wurde ihr viertes und letztes Kind geboren, James Allen Hendrix, Jimis Vater. Al, wie er immer genannt wurde, hatte bei seiner Geburt sechs Finger an jeder Hand, was seine Mutter als schlechtes Omen deutete. Sie trennte die überflüssigen Gliedmaßen ab, indem sie sie mit einer Seidenschnur abschnürte, doch sie wuchsen nach. Als Erwachsener erschreckte Al Jimis Freunde, indem er ihnen seine zusätzlichen Minifinger zeigte, an deren Enden winzige Fingernägel wuchsen.

Wie alle schwarzen Familien in Kanada mussten sich auch die Hendrix’ in einer Zeit, in der die bestbezahlten Jobs Weißen vorbehalten waren, mühsam über Wasser halten. Nachdem ein Mord Ressentiments geweckt hatte, verlor Bertran 1922 seine Arbeit als Toilettenwächter – einer der wenigen Jobs, die allen offen standen. Schließlich bekam er eine Stelle als Steward auf einem Golfplatz, eine Anstellung, die er bis zu seinem Tod 1934 behalten sollte.

Durch Bertrans Tod sowie den Tod des ältesten Sohnes Leon war die Familie auf Zuwendungen der kanadischen Wohlfahrtsbehörden angewiesen und verlor schließlich ihr Zuhause. Sie zogen zu Noras neuem Freund in ein baufälliges Haus auf der Georgia Street Ost. Al verbrachte seine Jugend dort in einem Zimmer, das er sich mit seinem Bruder Frank und einem Untermieter teilte. Zu seinen eher seltenen Freuden zählte Midnight Prowl, eine Radiosendung, in der die damals aktuellen Hits der Bigbands gespielt wurden. Als er sechzehn war, sah Al Duke Ellington auf der Bühne und wurde während des Konzerts von einem Mitarbeiter der Vancouver Sun fotografiert. Selten hatte er in seiner Jugend so viel Anlass zur Freude wie damals, als er sein Bild in der Zeitung entdeckte.

Al nahm regelmäßig an Tanzwettbewerben teil. Er prahlte damit, wie gut er seine Partnerinnen durch die Luft wirbeln und sie mit einer geschickten Bewegung zwischen seinen Beinen hindurchgleiten lassen konnte. Allerdings gab es in Kanada so wenige schwarze Frauen – und in Vancouver mit weißen Frauen auszugehen war gefährlich –, dass Al sich verloren fühlte. Er nahm einen Job in einem Restaurant namens Chicken Inn an, das in seinem Viertel lag, das damals auch Zentrum der schwarzen Kultur der Stadt war. Wenn er gerade nicht damit beschäftigt war, den Gästen Mahlzeiten zu servieren, gab er Tanzeinlagen zum Besten und war begabt genug, um regelmäßig Applaus zu ernten.

Als Al achtzehn wurde, erhielt er das Angebot, für Geld zu boxen. Er war stämmig und muskulös, doch auch als Erwachsener nicht größer als eins siebenundsechzig. Der Boxveranstalter brachte ihn in den Crystal Pool in Seattle, wo Al seinen ersten Kampf im Weltergewicht bestritt. Er schaffte es bis ins Finale, verlor aber den Kampf um die Meisterschaft und musste feststellen, dass er mit dem falschen Versprechen auf Geld geködert worden war. Schlimmer als die Niederlage war sein Erlebnis im Moore Hotel, wo ihm und einem anderen schwarzen Boxer mitgeteilt wurde, der Pool sei „nur für Weiße“ bestimmt. Während sich das restliche Team im Wasser vergnügte, sahen sie zu.

Zurück in Vancouver, setzte Al alles daran, einen neuen Job zu finden. Er bewarb sich wiederholt als Kofferträger, doch wurde ihm gesagt, er sei zu klein, obwohl an sich keine Mindestgröße vorgeschrieben war. Schließlich verließ er Kanada und ging nach Seattle, in der Hoffnung, dort bessere Chancen zu haben und unter der größeren schwarzen Bevölkerung vielleicht sogar eine Freundin zu finden.

Er kam 1940 mit vierzig Dollar in der Tasche in Seattle an. Seine erste feste Anstellung fand er im Ben Paris, einem Nachtclub in der Innenstadt, wo er Tische abräumte und Schuhe putzte. Schließlich fand er in einer Eisengießerei körperlich sehr schwere, aber gut bezahlte Arbeit. Spaß am Leben hatte Al damals nur auf der Tanzfläche, wo er seine Sorgen zumindest zeitweise vergessen konnte. Er besaß einen braunen Zoot-Suit mit weißen Nadelstreifen und trug dazu einen beigefarbenen, knielangen, einreihigen Mantel. In dieser Aufmachung begegnete er der sechzehnjährigen Lucille Jeter zum ersten Mal.

Als sie Al kennen lernte, besuchte Lucille die neunte Klasse, und obwohl sie auffallend hübsch war, war sie naiv in Bezug auf Männer, und Al war ihr erster Freund. Sie war fasziniert von seiner Vergangenheit in Kanada, die Al teilweise auch zum Außenseiter in der afroamerikanischen Gemeinde Seattles machte. „Die Leute rümpften die Nase über die Kanadier“, bemerkt Delores Hall. Dass Al in Seattle keine Freunde hatte, wurde immer wieder zum Thema zwischen den beiden: Al war sehr eifersüchtig, weil Lucille viele Freunde hatte und sehr gut aussah. „Al war ein sehr muskulöser Junge“, erinnert sich James Pryor. „Alle hielten sich seinetwegen von Lucille fern. Er war sehr leicht reizbar und schreckte nicht vor Wutausbrüchen zurück. Wenn sich jemand mit ihr herumtrieb, dann bestimmt nicht in der Öffentlichkeit, denn Al hätte ihn ­umgebracht.“

Al und Lucille hatten ein paar unverfängliche Verabredungen, jedoch waren es Lucilles Freundlichkeit und Anhänglichkeit, die den Ausschlag für eine verbindlichere Beziehung gaben. Als Al mit einem Leistenbruch im Krankenhaus lag, bot sie sich als Krankenschwester an. Nach seiner Entlassung machte Al Lucille ganz offiziell den Hof und besuchte, was damals erwartet wurde, regelmäßig ihre Eltern. Die mochten Al, nahmen ihn aber nicht ernst, weil sie den Eindruck hatten, ihre Tochter sei – mit gerade mal sechzehn Jahren – noch zu jung, um eine ernsthafte Verbindung mit einem Mann einzugehen.

Al verlor seinen Job in der Eisengießerei, fand aber eine neue Anstellung in einer Billardhalle. Er legte gerade Billardkugeln zusammen, als er vom Angriff der Japaner auf Pearl Harbor erfuhr. Mit zweiundzwanzig würde Al mit Sicherheit eingezogen werden, und der drohende Krieg belastete und beschleunigte die Beziehung zu Lucille. Ende Februar war sie schwanger – keine schlechte Leistung, wenn man bedenkt, dass Al in einer Pension lebte, in der weiblicher Besuch nicht gestattet war. Als Lucille ihren Eltern davon erzählte, waren sie wütend. „Sie war das Nesthäkchen der Familie, und damit hatte niemand gerechnet“, erinnert sich Delores.

Al erklärte den Jeters leicht verlegen, er wolle ihre Tochter heiraten, obwohl auch dies Preston nicht beschwichtigen konnte, der erfolglos versuchte, Lucille die Hochzeit auszureden. Das Paar heiratete im King County Courthouse, und drei Tage später wurde Al zur Armee verschifft. Nach seiner Abreise besuchte Lucille, obwohl sie schwanger und verheiratet war, weiter die Schule und verheimlichte beides vor ihren Klassenkameradinnen. Sie war so dünn, dass es Monate dauerte, bis ihre Schwangerschaft nicht mehr zu übersehen war, und was ihre Ehe anging, so war Al ohnehin zu arm gewesen, um ihr einen Ring schenken zu können. Obwohl Lucille gehofft hatte, wenigstens die Junior High abschließen zu können, weil ihr Lebensunterhalt keinesfalls gesichert war, ließ sie eines Nachmittags bei Ertönen der Schulglocke ihre Bücher auf dem Pult liegen und kehrte nie wieder zurück.

* * *

Ein paar Monate lebte Lucille noch zu Hause bei ihren Eltern, obwohl ihr Zustand die Beziehung zu ihnen belastete. Die Jeters hatten ständig Geldprobleme und lebten von der Wohlfahrt. Sie waren nicht in der Lage, eine arbeitslose, schwangere Tochter durchzufüttern. Schließlich fand Lucille eine Stelle als Bedienung in einem Club auf der Jackson Street. Sie musste wegen ihres Alters flunkern, obwohl in den Clubs wie dem berüchtigten Bucket of Blood gesetz­liche Bestimmungen ohnehin ignoriert wurden. Neben dem Getränkeausschank war Lucille teilweise auch für das Unterhaltungsprogramm zuständig. „Sie sang“, erinnert sich Delores Hall, „und die Männer gaben ihr Trinkgeld, weil sie so eine gute Sängerin war.“

Durch ihren Job im Bucket of Blood wurde Lucille Teil dessen, was Hipster als „Main Stem“ bezeichneten. „Damit meinten sie das Zentrum von allem, das aufregend war“, erläutert Bob Summerrise, einer der ersten schwarzen DJs und Besitzer eines Plattenladens in Seattle. „Wenn man in eine neue Stadt kam, fragte man: ‚Wo geht’s zum Main Stem?‘ Und da ging’s wild zu. Zuhälter, Nutten, Spieler, Drogendealer und ein paar Junkies, aber auch die ganzen anderen erfolgreichen Geschäftsleute aus den schwarzen Gemeinden gingen dahin, ließen sich unterhalten oder tranken was.“ An der Ecke Vierzehnte und Jackson stand ein einarmiger Zeitungshändler mit dem Spitznamen Neversleep, der Tag und Nacht die aktuellen Schlagzeilen herausschrie. In dem Viertel passierte ständig etwas, und wenn man einfach nur sagte, man ginge auf die Jackson Street, galt das schon als Bekenntnis zu fragwürdigen Absichten und zweifelhafter Moral. Diese Seite der schwarzen Kultur unterschied sich stark von der kirchlich geprägten Gemeinschaft, in der Lucille aufgewachsen war. Schon bald war sie hingerissen von der exotischen Anziehungskraft der zahlreichen Clubs auf der Jackson Street.

Die Main Stem war außerdem das Zentrum des Rhythm & Blues in der Stadt. In Clubs wie dem Black & Tan, dem Rocking Chair und dem Little Harlem Nightclub existierte eine bunte und vielfältige alternative Welt, die der Großteil des weißen Seattle niemals zu Gesicht bekam. Jimmy Ogilvy, der spätere Frontmann der Dynamics, besuchte die Jackson Street als Teenager und ­musste feststellen, dass man dort als Weißer weniger unangenehm auffiel als in den falschen Klamotten. „Alle trugen Zoot-Suits, große Hüte und Lacklederschuhe“, erinnert er sich. „Man kam nicht rein, wenn man nicht korrekt gekleidet war. Den Clubs war’s egal, ob man weiß war. Die wollten einfach nur, dass man tanzte und was losmachte. Elegant und gewandt musste man sein.“

Die Arbeit auf der Jackson Street veränderte das Leben der hübschen sechzehnjährigen Lucille Jeter Hendrix. Zu Beginn war sie nicht sonderlich gewieft, doch sie lernte schnell. Delores bemerkte, dass die Gegend ihre Schwester „härter machte“, gleichzeitig aber erweiterte sie auch Lucilles zuvor eher beschränkten Horizont. Sie fühlte sich in dem Milieu wohl – sie kannte die Leute, diese kannten sie. Der spießigen Welt des Central District, der Welt ihrer Eltern, schien sie ebenso entwachsen wie der eher konservativen Welt, die Al Hendrix vertrat und die ihr inzwischen schon wie eine entfernte Erinnerung vorkam.

* * *

Im Spätsommer 1942 wurde Lucilles Schwangerschaft sichtbar, und sie ­musste zu arbeiten aufhören. Ab Herbst wohnte sie bei Dorothy Harding, einer Freundin der Familie. Harding war nur sieben Jahre älter als Lucille, aber bereits allein erziehende Mutter von drei Kindern (und sie sollte noch sechs weitere bekommen). Außerdem war sie eine der ersten afroamerikanischen Frauen, die in Seattle in einer Werft arbeiteten, einem Arbeitsplatz, der vor dem Krieg sowohl für Schwarze als auch für Frauen tabu gewesen war. Noch wichtiger aber war vielleicht, dass Harding sowohl in der Welt der Main Stem wie auch der des Central District zu Hause war. Obwohl sie jeden Sonntag zur Kirche ging, liebte Dorothy Musik und Männer – eines ihrer Kinder ging aus einer kurzen Beziehung mit dem Sänger Jackie Wilson hervor. Lucille zog hochschwanger bei Harding ein. „Sie nannte mich Tantchen“, erinnert sich Harding. „Ich hab mich um sie gekümmert.“

Lucille war zu Hause bei Dorothy, als in einer stürmischen Novembernacht die Wehen einsetzten. Sie wurde eilig ins Krankenhaus gebracht, und es war eine schnelle Entbindung. Das Baby wurde am 27. November 1942 um 10.15 Uhr geboren. Alle waren fest davon überzeugt, der kleine Junge sei das süßeste Baby überhaupt. In jener Nacht gab ihm Delores den Spitznamen „Buster“ nach Buster Brown aus einem Comicstrip von Richard Outcault, der außerdem auch der Name einer Kinderschuhmarke war. Später wurde behauptet, Jimi sei nach Larry „Buster“ Crabbe genannt worden, dem Schauspieler, der Flash Gordon in der von Jimi heiß geliebten Filmreihe spielte. Jimi selbst erzählte diese Version der Geschichte, wobei er aber nicht bedachte, dass er den Namen bereits verpasst bekommen hatte, lange bevor er in der Lage war, sich heimlich in Kinomatineen zu schleichen. Während seines gesamten Lebens nannten ihn die meisten Verwandten und Nachbarn in Seattle nach dem kleinen frechen Jungen von den Witzseiten.

Teilweise diente der Spitzname auch dazu, den von Lucille gewählten Taufnamen zu vermeiden: Johnny Allen Hendrix. Der Name Johnny war weder in ihrer noch in Als Familie gebräuchlich, was Al unaufhörlich an seiner Vaterschaft zweifeln ließ. Al war fest davon überzeugt, das Kind sei nach John Page benannt, einem Hafenarbeiter, der bei Dorothy Harding zur Untermiete wohnte. Harding bestreitet, dass Page vor Lucilles Niederkunft jemals etwas mit ihr zu tun gehabt hat, obwohl sich ab einem bestimmten Zeitpunkt durchaus so etwas wie eine Beziehung ergeben haben muss. Lucille mag das Baby tatsächlich nach Page benannt haben, was aber auch ein Zufall gewesen sein könnte, denn John war seit 1942 der beliebteste Jungenname. Auf jeden Fall wollte niemand das Baby Johnny nennen, nicht einmal Lucille, und so war der Name lediglich der erste von drei gesetzlich eingetragenen Namen, die Jimi Hendrix im Lauf seines Lebens tragen sollte.

Al wurde durch ein Telegramm von Delores von der Geburt informiert. Als Lucille ihm schließlich ein Bild von sich mit dem Kind auf dem Schoß sandte, schrieb sie darunter: „Das ist das Baby – und ich“, wobei sie seinen Vornamen wegließ. Auf einem Schnappschuss, den Delores machte und an Al schickte, lautete die Bildunterschrift: „In Liebe für meinen Daddy, Baby Hendrix.“ Auf die Rückseite hatte Delores geschrieben: „Lieber Allen, hier kommt endlich ein Bild von deinem kleinen Jungen ‚Allen Hendrix‘. Er ist genau zwei Monate und drei Wochen alt. Er sieht doppelt so alt aus, findest du nicht? Ich hoffe, das Bild kommt heil bei dir an. Delores Hall.“

Diese Bilder von Lucille und dem Baby gehören zu den einzigen noch erhaltenen Bildern von Lucille. In ihrer Kostümjacke und dem schlichten Rock ohne Strümpfe posierte sie mit züchtig verschränkten Beinen, doch in ihrem Lächeln liegt versteckte Anzüglichkeit. Ihr glattes Haar war zu einem Pferdeschwanz zurückgebunden, eine Frisur, die damals eher Schulmädchen als Hausfrauen trugen. Sie und ihr pausbäckiges Baby sind beide sehr fotogen, in beiden Gesichtern strahlen dieselben Mandelaugen. Kein Soldat der Streitkräfte hätte das Foto ohne Gefühle von Stolz, Lust und Verlangen betrachtet.

Nicht lange nach der Geburt des Babys wurde Al in den Südpazifik versetzt, und als er das erste Foto seines Kindes erhielt, befand er sich auf den Fidschiinseln. Den Großteil seiner Dienstzeit bei der Armee verbrachte Al fern von Kampfhandlungen, wodurch er viel Zeit hatte, darüber nachzudenken, was in Seattle so alles geschehen oder nicht geschehen könnte. In seiner Autobiografie My Son Jimi räumt Al ein, kurz nach ihrer Hochzeit habe Lucille oft geschrieben, aber „nach Jimis Geburt, hat sie eine schwere Zeit durchgemacht“. Größtenteils waren ihre Probleme finanzieller Natur, da Jimi bereits ein Jahr alt war, als Lucille Als Sold geschickt wurde. Mitte 1943 jedoch sorgten andere Umstände in Lucilles Leben dafür, dass sich die Dinge verkomplizierten. Im Juni starb ihr Vater Preston, woraufhin ihre ohnehin labile Mutter Clarice einen weiteren psychischen Zusammenbruch erlitt. Clarice zog vorübergehend aus dem Haus der Familie aus, und es brannte in ihrer Abwesenheit bis auf die Grundmauern nieder. Es gab keine Versicherung, weshalb die Familie alles verlor, was sie jemals besessen hatte, darunter auch alle Fotografien.

* * *

Im darauf folgenden Jahr führten Lucille und ihr Baby ein bewegtes Leben, zogen von Dorothy Harding zu Lucilles Schwester Delores und wieder zurück. Tatsächlich hatte niemand Platz für Lucille und ihr Kind. Sie arbeitete weiterhin in Restaurants und Kneipen und ließ Dorothy, Delores oder ihre Mutter Clarice auf Buster aufpassen. „Am Anfang wusste Lucille nicht mal, wie man eine Windel wechselt“, erinnert sich Harding.

Freddie Mae Gautier, eine Freundin der Familie, machte sogar Andeutungen, sie habe das Kind vernachlässigt. Vor Gericht gab Gautier in aller Ausführlichkeit eine Geschichte zu Protokoll, die davon handelte, wie Clarice eines schönes Wintertags mit einem Bündel in den Armen bei den Gautiers aufgetaucht sei. „Das ist Lucilles Baby“, habe sie verkündet. Gautier, die damals erst zwölf war, erinnert sich, das Baby sei „eiskalt“ gewesen, habe „ganz blaue Beinchen gehabt“, und seine nassen Windeln seien steif gefroren gewesen. Gautiers Mutter habe das Kind sauber gemacht, es gebadet und seine Haut mit Olivenöl eingerieben. Als es für Clarice Zeit zu gehen wurde, erklärte Mistress Gautier, das Kind solle bei ihr bleiben, bis Lucille es abholen käme. Als Lucille schließlich eintraf, habe sie einen Vortrag über Säuglingspflege zu hören bekommen.

Schließlich fand die bitterarme Lucille andere Männer, die sie unterstützten, darunter auch, zumindest zeitweise, John Page. Ob es sich dabei um Gefühlskälte ihrerseits gegenüber Al oder die verzweifelte Tat einer sehr jungen Mutter kurz vorm Verhungern oder aber eine Mischung aus beidem handelte, lässt sich nicht mehr klären. In den dunklen Tagen von 1943 stand längst noch nicht fest, wie der Krieg ausgehen würde und ob die jungen Männer, die raus in die Welt geschickt worden waren, jemals wiederkommen würden. Wenn Lucille Hendrix ihrem Mann, der sich auf der anderen Seite des ­Ozeans befand, untreu wurde, so war sie längst nicht die einzige Braut auf Abwegen. „Ich glaube, sie hat sich wirklich Mühe gegeben, auf ihn zu warten“, behauptet ­Delores. „Er war ziemlich lange weg.“ Al hatte darüber natürlich seine eigenen Ansichten. „Ich nehme an, Lucille hat eine ganze Weile durchgehalten“, schrieb er in My Son Jimi, „bis sie anfing, sich mit ihren Freundinnen und anderen Männern herumzutreiben.“ Al beschwerte sich, seine Briefe an Lucille seien häufig ungeöffnet zurückgekommen, und in den seltenen Fällen, in denen sie ihm tatsächlich geantwortet habe, seien schäbige Hotels als Absenderadressen angegeben gewesen.

Auch Lucilles eigene Familie machte sich Sorgen um das Wohlergehen des Babys und John Page. Einzelne Familienangehörige waren sogar derart beunruhigt, dass sie einen Anwalt zurate zogen, der ihnen erklärte, sollte Page Lucille dazu bringen, den Staat Washington zu verlassen, könnten sie ihn wegen Verschleppung einer Minderjährigen anzeigen. Als sie hörten, Page habe Lucille und das Baby mit nach Portland, Oregon, genommen, reisten Lucilles Verwandte mit dem Zug hinterher und fanden Lucille im Krankenhaus wieder, wo sie behandelt wurde, nachdem Page sie verprügelt hatte. „Sie hatte Jimi bei sich“, erinnert sich Delores. „Wir haben sie und Jimi wieder nach Hause gebracht.“ Da Lucille damals erst siebzehn war, wurde Page verhaftet und wegen Verschleppung einer Minderjährigen zu fünf Jahren Gefängnis verurteilt.

Im Frühjahr bekam Lucille endlich Als Gehaltsschecks, was ihre finanzielle Not etwas linderte, sie jedoch nicht ruhiger machte. Die Fürsorge für Buster blieb immer mehr an Delores, Dorothy und Großmutter Clarice hängen. Als der Junge fast drei war, nahmen ihn Lucille und Clarice zu einer Kirchentagung nach Berkeley, Kalifornien, mit. Lucille fuhr wieder nach Hause, um zu arbeiten, doch Clarice wollte Verwandte in Missouri besuchen. Um dem Baby die lange Reise in den Mittleren Westen zu ersparen, bot eine Kirchenbekannte, Mistress Champ, an, ihn vorübergehend zu sich zu nehmen. Mistress Champ hatte selbst eine Tochter, ein junges Mädchen namens Celestine. Jahre später sprach Jimi Hendrix noch von der Freundlichkeit, mit der ihm Celestine als Kleinkind begegnet war.

Ursprünglich hatte Mistress Champ die Fürsorge für das Kind nur für einen begrenzten Zeitraum übernommen, doch dieser dehnte sich immer weiter aus, und tatsächlich schien es sich eher um eine informelle Adoption zu handeln. Delores schrieb Mistress Champ regelmäßig und bat sie, Al zu schreiben und mitzuteilen, dass das Baby in Kalifornien sei. Folglich erhielt Al Hendrix nur wenige Wochen vor seiner Entlassung aus der Armee tausende von Kilometern entfernt irgendwo im Pazifik einen Brief, in dem ihm mitgeteilt wurde, dass sich sein Kind in der Obhut einer Fremden befand.

Jimi Hendrix

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