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ОглавлениеKapitel sechs
Tall Cool One
Seattle, Washington
März 1958 bis Oktober 1960
„Er spielte ‚Tall Cool One‘ so geschmeidig, man hätte meinen können, er sei bei den Fabulous Wailers.“
— Carmen Goudy
Im Frühjahr 1958 zogen Jimi und Al aus der Pension aus und mit Cornell und Ernestine Benson in eine Zweizimmerwohnung in Beacon Hill. Leon war wieder zu Pflegeeltern geschickt worden, aber trotzdem lebten sie – Al, Jimi, Cornell und Ernestine – immerhin noch zu viert in der beengten Wohnung. Dennoch empfand Jimi den Umzug als Erleichterung. Obwohl ihn Beacon Hill vom Central District und seinen Freunden entfernte, war er nun doch den Hardings näher. Auch wohnte er wieder mit Ernestine zusammen, die ihn bekochte und bemutterte. Und natürlich hatte er nun auch wieder Zugriff auf ihre ungeheuer wichtige Sammlung von Bluesplatten. Gelegentlich nahm ihn Ernestine sogar mit zu Bob Summerrises World of Music und ließ ihn eine Platte aussuchen. Summerrises legendärer Laden verfügte über ein breites Angebot an Schallplatten von Blues- und R&B-Künstlern, darunter auch einige populäre weiße Musiker, die allerdings in einer Umkehrung der andernorts rassistischen Gepflogenheiten unter dem Tresen gehandelt wurden. Summerrise war Moderator einer Radiosendung, in der er die angesagteste schwarze Musik spielte, und Jimi war sein begeisterter Zuhörer.
Jimi wurde im Herbst sechzehn Jahre alt, und allmählich verfügte er über einen eigenen ausgeprägten Musikgeschmack. Wenn er nun Pernell Alexander zu Hause besuchte, legten sie Platten von Elmore James auf und versuchten, auf ihren Gitarren mitzuspielen. Durch einen Freund gelang es Pernell, Karten für das Konzert von Little Richard zu ergattern, der inzwischen wieder zum Rock ’n’ Roll zurückgefunden hatte. Sie schlichen sich frühzeitig vor der Matineevorstellung hinein und setzten sich in die erste Reihe. Während des Konzerts gingen sie so lebhaft und begeistert mit, dass Richard sie wiedererkannte und ihnen auf die Schulter klopfte, nachdem sie von Pernells Freund hinter die Bühne geschleust worden waren. „Ihr seid die beiden Jungs, die so viel getanzt haben!“, rief Richard. Am nächsten Tag erzählte Jimi in der Schule seiner gesamten Klasse von seiner Begegnung mit Little Richard, aber nur Wenige nahmen ihm die Geschichte ab. In jenem Herbst sahen sich die beiden außerdem ein Konzert von Bill Doggert an.
Jimi hat nie offiziell Musikunterricht bekommen, sondern lernte alle Kniffe von den Kids aus seinem Viertel, vor allem von Randy „Butch“ Snipes. Butch konnte auf dem Rücken Gitarre spielen, T-Bone Walker imitieren, und er kriegte einen bewundernswerten Chuck-Berry-Entengang hin. Jimi saß Butch an zahllosen Nachmittagen zu Füßen, beobachtete ihn und versuchte sich auszumalen, wie er selbst eine ähnliche Show hinlegen würde.
Seit seine Schulnoten beständig schlechter wurden, gehörten Gitarrengriffe zu den wenigen Dingen, die Jimi noch lernte. Der Umzug mit den Bensons hatte wieder einmal auch einen Schulwechsel bedeutet – seine vierte Schule in drei Jahren. In seinem Zeugnis für die neunte Klasse hatte er drei Dreien und fünf Vieren. Die einzig gute Nachricht war, dass er nur eine Sechs hatte – ironischerweise in Musik. Gelegentlich brachte er seine Gitarre mit in die Schule, doch offenbar konnte er seine Musiklehrer nicht damit beeindrucken, denn sie rieten ihm, sich beruflich doch lieber anders zu orientieren. Dass er in Musik durchfiel, lag aber wohl eher an der Kluft zwischen seinen Interessen – Blues, R & B, Rock ’n’ Roll – und der Musiktheorie, die in den späten Fünfzigerjahren an den Schulen gelehrt wurde, als an Jimis aufkeimender Begabung. Bei den standardisierten Tests kam er in jenem Jahr nur auf vierzig Prozent, und seine schlechten Noten rührten größtenteils von seinen zahlreichen Fehlstunden her. Im Frühjahr verpasste er elf Schultage und kam fast jeden Tag zu spät. „Schwer zu sagen, ob das an seiner schwierigen Situation zu Hause oder seinem Desinteresse an der straff organisierten Schulbildung lag“, bemerkt Jimmy Williams. „Jimi war immer ein Freigeist, und die Schule hat einfach nicht zu ihm gepasst.“
Seine schlechten Noten bescherten ihm das beschämendste Erlebnis seiner Jugend: Alle Kinder, mit denen er an der Leschi Elementary School aufgewachsen war, wechselten auf die Highschool. Er aber musste die neunte Klasse wiederholen. Er erzählte so gut wie niemandem von diesem Umstand und log, wenn er gefragt wurde, welche Highschool er besuche. Die meisten Erwachsenen in Jimis Leben erinnern sich an ihn als aufgewecktes Kind, und in der Tat scheinen seine Schulprobleme vor allem durch mangelndes Engagement und Fehlstunden verursacht.
Wenn Jimi die Schule schwänzte, drehte er, ähnlich wie ein Polizist auf Streife, seine Runden. Unweigerlich machte er Halt bei Leons Pflegeeltern, schaute bei Pernell vorbei, besuchte Jimmy Williams und klopfte bei Terry Johnson an. Er holte Carmen von der Schule ab und brachte sie nach Hause, auch wenn er selbst nicht im Unterricht erschien. Anlaufpunkte auf seinen Touren waren bald auch eine Reihe von Musikern, von denen er hoffte, Tipps für sein eigenes Gitarrenspiel zu erhalten. „Damals waren die Leute echt offen und haben einem Riffs und alles Mögliche gezeigt“, erinnert sich der Schlagzeuger Lester Exkano. „Niemand hätte es je für möglich gehalten, dass man mit Musik Geld verdienen kann, deshalb war es eher eine Frage des Stolzes, anderen die eigenen Ideen zu verraten.“ Exkano erinnert sich, dass Jimis Lieblingsgitarristen damals B. B. King und Chuck Berry waren.
Einige Musikerfamilien waren von besonderer Bedeutung, nicht nur für Jimi, sondern für viele aufstrebende Musiker im Viertel. Die Familie Lewis – mit dem Keyboarder Dave Lewis als Sohn und dem Vater Dave Lewis senior – war für viele ein wichtiger Einfluss. „Sie hatten einen Keller mit einem Klavier, und die Tür stand immer offen“, erinnert sich Jimmy Ogilvy. „Dave senior spielte Gitarre, aber vor allem hat er den Leuten Mut gemacht. Er hatte Ray Charles und Quincy Jones ein paar Licks gezeigt.“ Die Lewis’ schufen eine Atmosphäre, in der man Rückhalt fand, und den Kindern wurde vermittelt, dass Kreativität etwas Positives sei. Die Familie Holden mit den Söhnen Ron und Dave und dem Familienoberhaupt Oscar hielt auf ähnliche Weise Hof. In vielerlei Hinsicht erhielt Jimi in diesen inoffiziellen Schulen – den Schulen des Rhythm & Blues, wie er in den Kellern und Hinterhöfen der Innenstadt von Seattle gespielt wurde – seine höhere Schulbildung.
* * *
Im Herbst wurde Jimi sechzehn, und die Musik nahm immer mehr Raum in seinem Leben ein. Das Spiel auf der akustischen Gitarre beherrschte er inzwischen einigermaßen, am sehnlichsten wünschte er sich nun jedoch eine elektrische. „Er war fasziniert von Elektrik“, erinnert sich Leon. „Er nahm ein Radio auseinander und versuchte, es zum Verstärker für seine Gitarre umzubauen.“ Ernestine Benson, die Jimis wachsendes Interesse an der Musik verfolgte, drängte Al, dem Jungen ein ordentliches Instrument zu kaufen.
Die Schule blieb weiterhin ein Problem. Obwohl er die Klasse wiederholte, in der er im vorangegangenen Jahr durchgefallen war, hatte Jimi mit dem Stoff zu kämpfen. Als er und Al im Dezember wieder einmal umzogen und bei Grace und Frank Hatcher wohnten, bedeutete das auch einen weiteren Schulwechsel an die Washington Junior High. Nach Ende des ersten Halbjahrs war Jimi erneut in Mathematik, Englisch und technischem Zeichnen durchgefallen. Ein zweites Mal konnte er nicht sitzen bleiben, deshalb stimmte die Schulbehörde seiner Versetzung an die Highschool im Herbst in der Hoffnung zu, die neue Umgebung würde zur Besserung seiner Noten beitragen.
Vater und Sohn lebten nur eine kurze Zeit bei den Hatchers, die den Ärger mit Al rasch leid waren. „Al war so unzuverlässig: Er trank, spielte und kam erst in den frühen Morgenstunden nach Hause“, erinnert sich Frank Hatcher. Im April 1959 zogen sie wieder um, diesmal in eine Wohnung in First Hill. Das Gebäude war derart rattenverseucht, dass Al sich nicht einmal die Mühe machte, den Gasherd anzuwerfen oder die Küche zu benutzen. Prostituierte gingen unten auf der Straße ihrer Tätigkeit nach. Die Wohnung lag gegenüber einer Jugendstrafanstalt, die Jimi vor Augen gehalten haben mag, wohin sein Leben führen könnte.
Trotz der Verschlechterung seiner Lebensumstände wurde Jimi in dieser Wohnung die größte Freude seiner gesamten Kindheit und Jugend zuteil, als er seine erste E-Gitarre bekam. Al hatte unter den ständigen Nörgeleien von Ernestine Benson – „Kauf dem Jungen endlich eine Gitarre“ – schließlich nachgegeben und bei Myer’s Music ein Instrument auf Raten gekauft. Gleichzeitig hatte er ein Saxofon erworben, weil er es selbst spielen wollte. Eine kurze Weile lang jammten die beiden zusammen, als jedoch die nächste Rate fällig wurde, brachte Al das Blasinstrument zurück.
Jimis Gitarre war eine weiße Supro Ozark. Sie war für Rechtshänder gebaut, und Jimi zog die Saiten sofort andersherum auf. Das bedeutete, dass die Knöpfe auf der falschen Seite waren, was ihre Handhabung erschwerte. Jimi rief sofort Carmen Goudy an und schrie in den Hörer: „Ich hab eine Gitarre!“
„Du hast doch schon eine Gitarre“, sagte sie.
„Nein, ich meine eine richtige Gitarre!“, rief er. Er flitzte rüber zu ihr nach Hause. Als sie im Meany Park spazieren gingen, hüpfte Jimi buchstäblich vor Freude auf und ab, die Gitarre in Händen. „Man darf nicht vergessen“, sagte Carmen, „dass wir als Kinder so arm waren, dass wir nie was zu Weihnachten bekamen. Das war wie fünfmal Weihnachten auf einmal. Man musste sich einfach mit ihm freuen. Ich glaube, das war der glücklichste Tag seines Lebens.“
Im Park schrammelte Jimi ein bisschen auf der Gitarre herum und probierte ein paar der Licks aus, die er auf der akustischen gelernt hatte. Die Bewegungsabläufe hatte er durch die unzähligen Stunden, in denen er Luftgitarre gespielt hatte, längst einstudiert, weshalb er wie ein echter Gitarrist aussah, auch wenn seine Fähigkeiten damals noch bescheiden waren. „Ich bin dein erster Fan“, verkündete Carmen.
„Glaubst du wirklich, dass ich mal Fans haben werde?“, fragte Jimi. „Mit Sicherheit“, antwortete Carmen.
Ihre Beziehung war inzwischen so weit gediehen, dass sie sich küssten, obwohl beide noch an ihren Künsten feilten. Nach einem Kuss erklärte Jimi meist, um welche Sorte Kuss es sich gehandelt hatte. „Das war ein französischer, bei dem man die Zunge in den Mund des anderen steckt“, meinte er. Sie erinnert sich an seine Küsse als an die „saftigsten“. An jenem Tag im Park war Carmen jedoch frustriert, weil sich Jimi mehr für seine Gitarre als für das Küssen zu interessieren schien. In ihren Augen machte ihn dies noch attraktiver – eine Methode, die Jimi schließlich zu einer hohen Kunst weiterentwickelte.
* * *
Die Gitarre wurde sein Leben, und sein Leben wurde seine Gitarre. Da er sein Instrument nun endlich in Händen hielt, versteifte er sich als Nächstes darauf, eine Band zu finden. Im Verlauf der folgenden Monate spielte Jimi praktisch mit jedermann im Viertel, der ein Instrument besaß. Meist handelte es sich dabei um zwangloses Jamming, meist ohne elektrische Verstärkung, da Jimi keinen Verstärker besaß. Wenn er Glück hatte, erlaubte ihm einer der älteren Musiker, sich bei ihm mit anzuschließen, und dann konnte er loslegen. Gelegentlich nutzte er auch den Verstärker in einem Jugendtreffpunkt. Auch hatte er keinen Koffer für seine Gitarre, deshalb trug er sie entweder ohne Schutzhülle oder in einer großen Papiertüte aus der Reinigung, womit er eher nach einem Hobo als nach einem gewieften Gitarristen aussah. Mit der Gitarre in der Papiertüte schien er Chuck Berrys „Johnny B. Goode“ zu verkörpern.
Zu diesem Zeitpunkt kannte Jimi lediglich ein paar Riffs und keine kompletten Songs. Carmen Goudy erinnert sich, dass der erste Song, den er von Anfang bis Ende beherrschte, „Tall Cool One“ von den Fabulous Wailers war. Die Wailers waren eine vom R & B beeinflusste Rockband aus Tacoma, Washington, die sich mit ihrer Version von „Louie, Louie“ daheim etwas Ansehen verschafft hatte.
Zunächst interessierte sich Jimi vor allem für die damals gerade angesagten Popsongs. Oft spielte er mit Jimmy Williams. Williams sang, während Jimi ihn mit ein paar rohen Gitarrenakkorden begleitete. „Wir hatten ein paar Standards drauf“, erinnert sich Williams. „Viel von Frank Sinatra und Dean Martin. Jimmy hat sich echt angestrengt, den Rhythmus dieser Songs hinzubekommen. Er stand total auf Duane Eddy.“ Eddy, dessen Spezialität schneller Rockabilly war, wurde Jimis erster echter Gitarrenheld, und schon bald lernte er „Forty Miles Of Bad Road“, „Peter Gunn“ und „Because They’re Young“. Er schnappte so schnell Songs auf, lernte jeden Tag einen neuen dazu, dass ihn Jimmy Williams zum Spaß als „menschliche Jukebox“ bezeichnete. Wenn man ihn ein längeres Solo spielen ließ, dann spielte er sehr elaboriert, was nicht immer passte, nicht mal bei Duane Eddy. Dennoch war Rock ’n’ Roll nur eines von Jimis vielfältigen Interessen, und Williams erinnert sich, dass Jimis Lieblingssong in jenem Sommer Dean Martins „Memories Are Made Of This“ war.
Am 9. September 1959 kam Jimi in die zehnte Klasse der Garfield High School. Obwohl er bereits ein Jahr älter war, bedeutete die Highschool dennoch eine aufregende Veränderung. Die Garfield im Herzen des Central District war die fortschrittlichste Highschool in Seattle, was Integration anging, und darüber hinaus eine der besten Schulen der Stadt. Fünfzig Prozent der Schüler waren weiß, zwanzig Prozent asiatischer Herkunft, und dreißig Prozent waren schwarz. Die Schule war riesig: In dem Jahr, in dem Jimi dort anfing, waren eintausendsechshundertachtundachtzig Schüler angemeldet.
In seinem ersten Semester auf der Garfield kam Jimi an zwanzig Tagen zu spät, und seine Noten verbesserten sich nur unwesentlich. Im Unterricht blieb er so unbeteiligt, dass ihn einer der Lehrer als „Schüler, der kein Schüler ist“, bezeichnete. In erster Linie ging er zur Schule, weil er dort Jimmy, Pernell und seine anderen Freunde aus dem Viertel traf. Die meisten ihrer Unterhaltungen, die sie oft auch während des Unterrichts im hinteren Teil des Klassenraums führten, drehten sich um Musik. Im Speisesaal der Schule gab es eine Jukebox, und den Schülern war es gestattet, sie zu benutzen. Ununterbrochen gründeten die Schüler Bands oder sprachen davon, Bands zu gründen. Die meisten Bands im Viertel waren lockere Zusammenschlüsse mit wechselnder Besetzung, je nachdem, wer gerade an welchem Abend Zeit hatte. In der letzten Reihe wurde im Gemeinschaftskundeunterricht ausgehandelt, wer Bass spielen und welches Songs sich die nächste Band annehmen sollte.
Jimis erstes Konzert fand im Keller des De-Hirsch-Sinai-Tempels statt, einer Synagoge in Seattle. Jimi spielte mit einer Gruppe älterer Jungen, ein Auftritt, der als Vorspieltermin vor seiner Aufnahme in die damals noch namenlose Band dienen sollte. „Beim ersten Set zog Jimi sein Ding durch“, erinnert sich Carmen Goudy. „Er spielte das ganze wilde Zeug, und als die einzelnen Bandmitglieder vorgestellt wurden und das Scheinwerferlicht auf ihn fiel, spielte er noch wilder.“ Nach der Pause zwischen den Sets kehrte die Band ohne Jimi auf die Bühne zurück. Goudy fing an, sich Sorgen zu machen, dass ihm schlecht geworden sei. Jimi war vor dem Auftritt derart nervös gewesen, dass sie befürchtet hatte, er müsste sich übergeben. Nachdem sie ihn gesucht hatte, fand sie ihn in einer Gasse hinter dem Gebäude. Jimi wirkte so niedergeschlagen, als wolle er in Tränen ausbrechen. Er erzählte Carmen, dass er nach dem ersten Set gefeuert worden war – gefeuert aus seiner ersten Band am ersten Abend seiner Karriere als Profimusiker. Anstatt nach Hause zu gehen, saß er noch eine Stunde lang in der Seitengasse und sprach über den jämmerlichen Beginn seiner künftigen Laufbahn. Carmen deutete vorsichtig an, dass Jimi eventuell etwas konventioneller spielen solle. Jimi war beleidigt, auch von seiner Freundin wollte er so etwas nicht hören. „Das ist nicht mein Stil“, beharrte er, „das kommt nicht infrage.“ Carmen machte sich daraufhin Sorgen, ob Jimi als Musiker überhaupt vermittelbar sei.
Wenig später driftete die Beziehung zwischen Carmen und Jimi auseinander, obwohl es eigentlich gar keine Meinungsverschiedenheit zwischen ihnen gab. Andere Jungen hatten Carmen gefragt, ob sie mit ihnen gehen wolle, und sie fühlte sich zu ihnen hingezogen. „Ich mochte Jimi wirklich“, erinnert sie sich, „aber die älteren Jungs hatten Autos und Geld, um mich auszuführen.“ Carmens Verabredungen mit Jimi bestanden fast ausschließlich aus Spaziergängen im Park. Dabei kamen sie stets an einem Drive-in-Restaurant vorbei, wo sie anderen Pärchen dabei zusahen, wie diese aneinander gekuschelt auf dem Vordersitz eines Wagens Cola schlürften. „Ältere Jungs konnten mir einen Hamburger kaufen. Jimi hatte weder einen Wagen noch Geld, um mich einzuladen.“ Während der Highschoolzeit blieb sie mit ihm befreundet, aber seine saftigen Küsse waren schon bald nur noch Erinnerung.
* * *
Jimis erste erwähnenswerte Band waren die Velvetones, eine von dem Pianisten Robert Green und dem Tenorsaxofonisten Luther Rabb gegründete Gruppe. „Wir waren eigentlich nur ein paar Kids“, erinnert sich Luther. „Unsere Besetzung hat sich ständig geändert, aber dabei waren auch vier Gitarristen, zwei Pianisten, ein paar Bläser und ein Schlagzeuger. Das war zur Zeit der ‚Revuen‘, als zu jedem Auftritt auch eine Tanznummer gehörte. Wir mussten uns aufdonnern und uns Glitzer auf die Hosen kleben, damit alles funkelte.“
Die Velvetones waren keine formvollendete Band. „Die meisten unserer Stücke waren für Gitarre und Klavier und bestanden aus einer Mischung aus Jazz, Blues und R & B“, erinnert sich Pernell Alexander, der ebenfalls in der Gruppe Gitarre spielte. Zu einem typischen Set der Velvetones gehörte zum Beispiel ein Jazzklassiker wie „After Hours“, gefolgt von Duane-Eddy-Songs wie „Rebel Rouser“ und „Peter Gunn“. Bill Doggetts „Honky Tonk“, ein Instrumentalstück, wurde zu so etwas wie dem Markenzeichen der Band. „Das war Jimis Standardstück“, bemerkt Terry Johnson. Anfänglich war Jimi nicht der beste Gitarrist in der Band, aber er wurde von Tag zu Tag besser. Jimi hatte überdurchschnittlich lange Finger, ein rein körperlicher Vorteil, der es ihm erlaubte, den Hals zu umfassen und hohe Töne zu treffen, die anderen Musikern schwer fielen. Er war sich dessen bewusst und nutzte seinen Vorteil, wo er konnte, indem er einzelne Töne spielte, die nicht zur ursprünglichen Komposition gehörten. Da er noch nicht lange spielte, war das Ergebnis musikalisch oft nicht unbedingt beeindruckend, dennoch gelang es ihm, dadurch die Aufmerksamkeit des Publikums auf sich zu lenken. Zumindest fiel er auf.
Nach einem Vorspieltermin ergatterten die Velvetones einen ständigen Auftrittsort und spielten einmal pro Woche, an einem Werktag, im Birdland, dem legendären Club an der Ecke Madison Street und Zweiundzwanzigste Straße. Als dort arbeitender Musiker konnte Jimi nun vorbeikommen, wann immer er wollte, und sich andere Bands umsonst ansehen, was für ihn einen größeren Gewinn darstellte als die zwei Dollar, die er bei einem Auftritt mit der Band verdiente.
Bei einem jener Besuche überredete Jimi Dave Lewis, ihm die Bühne für Soloauftritte zu überlassen, wenn seine Band Pause machte. Mit diesen zehnminütigen Blitzshows bekam Jimi Gelegenheit, einige seiner Bühnentricks in einem Forum auszutesten, in dem für ihn nichts auf dem Spiel stand. Lewis erzählte später, Jimi habe das ältere, gepflegtere Publikum, das vor allem wegen Lewis gekommen war, regelmäßig schockiert: „Er spielte so wildes Zeug, aber die Leute konnten dazu nicht tanzen. Sie haben ihn einfach nur angestarrt.“
Zu den regelmäßigen Auftrittsorten der Velvetones gehörte das Yesler Terrace Neighborhood House am Freitagabend. Der Aufenthaltsraum eines sozialen Wohnblocks war kaum glamourös, und die Auftritte zahlten sich finanziell nicht aus, aber Jimi und seinen Bandkollegen war es so möglich, zu experimentieren. „Eigentlich waren das informelle Tanzpartys, ein paar Kids haben auch wirklich getanzt, meistens aber hat man nur vor anderen Musikern gespielt“, erinnert sich der Musiker John Horn. „Sie spielten R & B und ein bisschen Blues. Es machte damals schon ziemlich Spaß, Jimi zuzusehen – allein, dass er eine Rechtshändergitarre verkehrt herum spielte, war faszinierend.“
Jimi hatte noch immer keinen Verstärker, und er hütete sich, seinen Vater um finanzielle Unterstützung zu bitten. Obwohl Al ihm die Gitarre gekauft hatte, bereute er seinen Entschluss längst, da er der Meinung war, sein Sohn vergeude viel zu viel Zeit mit Musik. Al ließ später durchblicken, er habe Jimis frühe Bands immer unterstützt, aber die Mitglieder jener Gruppen erzählen ausnahmslos eine andere Geschichte. „Jimi ließ seine Gitarre meist bei Pernell stehen, aus Angst, bei ihm zu Hause könnte sie kaputtgehen“, erinnert sich Anthony Atherton von den Velvetones. „Sein Vater hatte was dagegen, auch gegen Musik im Haus, sogar gegen Gitarreüben.“ Jimi zu den Proben aus dem Haus zu lotsen gehörte schon bald zu den alltäglichen Aufgaben der Band. Mehrere Bandmitglieder wurden Zeugen, wie Al seinen Sohn schlug, wenn er wütend war. „So war Al“, sagte Pernell. „Er war ein brutaler Mann. Zum Teil lag das an der damaligen Zeit und wie Männer damals waren. Wenn gerade keine Frau da war, die man schlagen konnte, dann prügelte man eben die Kinder. Mann, da ging’s echt heftig zu. Das war absolut krass.“
Al war nur unregelmäßig zu Hause, doch wenn er da war, vermieden die Bandmitglieder es nach Möglichkeit, dort aufzukreuzen. „Schon als Teenager wusste ich, dass Mister Hendrix eine andere Sorte Dad war“, erinnert sich Atherton. „Ich hatte Angst vor ihm, wegen des Donners in seiner Stimme und weil ich gesehen hatte, wie er seine Kinder behandelte. Jeder, der mit einem Instrument vorbeikam, kriegte Ärger mit ihm. Dann sagte er: ‚Leg das Scheißding weg, damit kriegst du keinen Job.‘“
Eines Abends nach einem Auftritt im Birdland ließ Jimi seine Gitarre im Club hinter der Bühne stehen, vielleicht, weil er das für sicherer hielt, als sie mit nach Hause zu nehmen. Als er am nächsten Tag zurückkam, war die Gitarre gestohlen. „Er war absolut am Boden zerstört“, erinnert sich Leon. „Aber ich denke, er war noch fertiger als sowieso schon, weil er wusste, dass er es unserem Dad würde erzählen müssen, und er wusste, er würde eine ordentliche Tracht Prügel kassieren.“ Einen Moment lang schien es, als sei Jimis Musikerkarriere vorbei.
* * *
Ab Herbst 1959 war Jimi mit Betty Jean Morgan zusammen, die er in der Schule kennen gelernt hatte. Betty war im Süden aufgewachsen und sprach mit breitem Akzent – was für Afroamerikaner in Seattle sehr ungewöhnlich war. Ihre Verabredungen bestanden aufgrund von Jimis nicht vorhandenen finanziellen Reserven aus Spaziergängen im Leschi-Park. Bettys Eltern waren sehr konservativ, und wenn Jimi mit ihrer Tochter ausgehen wollte, musste er ihren Vater persönlich um Erlaubnis bitten. Jimi machte diese Formalität Spaß. „Er war ein Schatz“, erinnert sich Betty Jean. „Meine Eltern mochten ihn, weil er höflich war. Meine Mutter war eine ausgezeichnete Köchin, und er vergötterte sie.“ Als Jimi noch seine Gitarre hatte, spielte er auf der Veranda für Betty Jean, um Eindruck bei ihr zu schinden.
Im Herbst wurde Jimi siebzehn Jahre alt. Sein Schulkamerad Mike Tagawa erinnert sich, dass er modisch immer zwei Jahre hinterherhinkte: „Er trug schwarze Bundfaltenhosen, ein schwarzweiß gestreiftes Hemd mit hochgestelltem Kragen und einen sehr schmalen Gürtel, den er seitlich trug. Im Prinzip war das derselbe Look, wie man ihn im Film Grease zu sehen bekam.“ Als Jimi schließlich einen Job als Zeitungsjunge beim Seattle Post-Intelligencer bekam, behielt er ihn nicht lange: Nach nur drei Monaten gab er auf, da er auf seinen Runden Ärger bekommen hatte.
Jimi half seinem Vater regelmäßig beim Rasenmähen, und Al wollte, dass er in das Familiengewerbe einstieg und mit ihm arbeitete. „Wenn Jimi den ganzen Tag hart arbeitete, bekam er einen Dollar dafür. Aber es war harte Arbeit, und Jimi hasste sie.“ Jimmy Williams hatte im Gegensatz dazu einen Job in einem Lebensmittelladen und verdiente fünfzig Dollar die Woche. Er versuchte, Jimi ebenfalls dort unterzubringen. „So viel Geld hätte in seinem Leben echt einiges verändert“, sagt Williams, aber Al erlaubte Jimi nicht, die Stelle anzunehmen. „Al sagte immer nur: ‚Ich kann ihm nicht erlauben, so spät noch zu arbeiten, weil er lernen und in die Schule gehen muss‘“, erinnert sich Williams. „Aber natürlich ging Jimi nur äußerst selten in die Schule, und gelernt hat er nie.“
Die Freundschaft zwischen den Jungs aus dem Viertel entwickelte sich immer weiter auseinander, je älter sie wurden, wenn sie Jobs bekamen oder wegzogen. Jimi schien in mancherlei Hinsicht den anderen hinterherzuhinken, und sogar in seiner Beziehung zu Betty Jean war er nicht über das Küssen hinausgekommen. Silvester 1959 verbrachte er mit Jimmy Williams, indem die beiden Dean Martins „Memories Are Made Of This“ spielten. Um Mitternacht rief er Betty Jean an, doch angesichts der Tatsache, dass sie nur ein paar Straßenecken weiter wohnte, kann sie dies kaum als besonders romantisch empfunden haben.
Wenn Jimi gleichzeitig mit anderen Mädchen geschlafen haben sollte, so prahlte er nie damit. Jimmy Williams und Pernell Alexander erinnern sich an eine Party, zu der alle gehen wollten, auf der ältere, sexuell erfahrene Frauen erwartet wurden. Auf den ersten Blick schien dieser Abend die Chance zu bieten, dass Jimi seine Jungfräulichkeit verlieren könnte. Pernell, der immer schon ausgekochter als die anderen beiden war, knöpfte sich, bevor sie eintraten, noch einmal Jimi und Jimmy vor. Wie ein älterer Bruder versuchte, er die beiden aufzuklären. „Die Eltern dieser Mädchen sind nicht da, vielleicht feiern sie die ganze Nacht. Ich hoffe, ihr wisst, was ihr tut. Hat einer von euch beiden schon mal gebumst?“
Weder Jimi noch Jimmy antworteten. Ihr Schweigen und ihre aufgerissenen Augen ließen darauf schließen, dass sie völlig unerfahren waren. „Also, ihr müsst einfach nur cool bleiben“, sagte Pernell, als er das Haus betrat.
Jimi und Jimmy folgten ihm nicht. Sie blieben auf der Veranda, sahen sich gegenseitig ratlos an und sammelten innere Stärke. Für sie schien Sexualität untrennbar mit den Ermahnungen verbunden, die sich beide unentwegt hatten anhören müssen, bloß kein Mädchen zu schwängern. Ihre Beklommenheit wurde dadurch noch gesteigert, dass sie Freunde hatten, die bereits Väter geworden waren. Einige Augenblicke lang besprachen sie sich und überlegten, welche Schwierigkeiten eine Schwangerschaft in ihr ohnehin schon kompliziertes junges Leben bringen würde. Sie waren damals siebzehn Jahre alt, aber noch wie Kinder. „Ich kann es mir nicht leisten, ein Mädchen zu schwängern“, meinte Jimi voller Sorge. Jimmy Williams pflichtete ihm bei. Schließlich stand Jimmy auf und ging weg. Auch Jimi erhob sich und folgte seinem besten Freund nach Hause. Sie hatten keinen Fuß in das Haus gesetzt.
* * *
Irgendwann beichtete Jimi Al den Verlust seiner Gitarre und bekam die Lektion seines Lebens. Wochenlang lief er wie ein geprügelter Hund in der Schule herum.
Bevor ihm die Gitarre gestohlen worden war, hatte Jimi in einer Band namens The Rocking Kings zu spielen begonnen. Wie die Velvetones bestand diese Gruppe aus Highschoolkids, aber sie hatten ein paar gut bezahlte, professionelle Auftritte ergattert. Obwohl die Band mit Junior Heath bereits über einen ausgezeichneten Gitarristen verfügte, hatte Jimi bei einer „Battle of the Bands“-Veranstaltung früher in jenem Herbst einen solchen Eindruck hinterlassen, dass man ihm einen Platz in der Band anbot. „Er war sehr eisern drauf“, erinnert sich der Schlagzeuger Lester Exkano. „Er rauchte nicht, und er trank nicht. Er war ein bisschen wilder als andere Jungs.“ Jimi mag abseits der Bühne spießig gewirkt haben, aber sobald er einen Verstärker und einen Scheinwerfer hatte und auf der Bühne stand, war er wie ausgewechselt. Die Rocking Kings hatten einen Manager, James Thomas, der ihnen Engagements zu verschaffen versuchte und sie professioneller wirken ließ. In seiner Eigenschaft als Manager verfügte Thomas, dass alle in der Band Anzugjacken zu tragen hatten. Für einen bestimmten Auftritt musste sich Jimi ein rotes Jackett borgen, wobei die Leihgebühr höher war als sein Anteil an der Gage. Al sorgte dafür, dass er die Lehre so schnell nicht vergaß.
Nachdem Jimis Gitarre gestohlen worden war, war er für die Rocking Kings wertlos geworden, und mehrere Bandmitglieder legten zusammen, um ihm ein neues Instrument zu kaufen. Für neunundvierzig Dollar fünfundneunzig erstanden sie eine weiße Danelectro Silvertone bei Sears Roebuck, zu der auch ein passender Verstärker gehörte. Wie er es auch schon mit seiner alten Gitarre gehalten hatte, ließ er die neue gewöhnlich bei Freunden zu Hause stehen, um sie dem Zorn seines Vaters zu entziehen. Jimi malte die Gitarre rot an und schrieb den Namen „Betty Jean“ in fünf Zentimeter großen Buchstaben vorn drauf. Seine Tante Delores bemerkte, dass er die Gitarre auch nach seiner Mutter „Lucille“ hätte taufen können, hätte nicht B. B. King den Namen bereits verwendet.
B. B. King blieb ein starker Einfluss, und Songs wie „Every Day I Have The Blues“ und „Driving Wheel“ waren beliebte Coverversionen, welche die Band spielte. Ein Set der Rocking Kings enthielt zum Beispiel „C. C. Rider“ in der ursprünglichen R&B-Version, wie sie Chuck Willis gespielt hatte, Hank Ballards Version von „The Twist“, die langsamer war als der Hit von Chubby Checker, außerdem beliebte Nummern wie „Rockin’ Robin“ oder „Do You Want To Dance?“, Coverversionen von Hits der Coasters, „Blueberry Hill“ und beinahe immer Songs von Duane Eddy und Chuck Berry. Die Band spielte auch eigene Versionen von „David’s Mood“ und „Louie, Louie“. „Wir haben Blues, Jazz und Rock durcheinander gespielt“, erinnert sich Exkano. „Wir spielten alles, damit die Leute weitertanzten.“ Die Songs wurden von Exkanos ungewöhnlichem Schlagzeugsound vorangetrieben, den er als „Kitschbeat“ bezeichnete. „Das war eher so ein schlurfender Shuffle“, erklärte Exkano, „was es leichter machte, dazu zu tanzen. Der Sound war definitiv schwarz, aber das Publikum bei unseren Shows war gemischt, und alle kamen.“
Im Juni 1960 zogen Al und Jimi wieder einmal um, diesmal in ein kleineres Haus im East Yesler Way 26026, nur ein paar Straßenecken von der Garfield High entfernt. Jimi schloss sein zweites Jahr an der Highschool mit einer zwei in Kunst und einer Vier im Maschinenschreiben ab. Sechsen kassierte er in Theater, Geschichte und Sport, die Fächer Literatur, Werken und Spanisch hatte er vorsorglich bereits abgegeben. „Er wollte einfach nicht lernen“, erinnert sich Terry Johnson. „Das führte natürlich dazu, dass er durchfiel, was seine Selbstachtung wiederum erneut ankratzte.“
Als im darauf folgenden September die Schule wieder losging, besuchte Jimi zunächst einen Monat lang den Unterricht, doch schon wenig später zeichnete sich ab, dass er den Abschluss niemals schaffen würde. Trotz mehrerer Warnungen von Schulbeamten, er würde der Schule verwiesen, sollte er weiterhin den Unterricht schwänzen, erschien Jimi nicht und wurde gegen Ende Oktober 1960 offiziell entlassen. In seiner Schulakte wird als Grund für seinen Abgang eine „Arbeitsverpflichtung“ angegeben, jedoch hatte er außer als Gitarrist bei den Rocking Kings keinen anderen Job. „Er war so weit davon entfernt, den Abschluss zu schaffen, dass es keine Frage von ein paar schlechten Noten oder versäumten Unterrichtsstunden mehr war“, erinnert sich der Direktor Frank Hanawalt. „Er hatte so viel versäumt, dass er das unmöglich noch aufholen konnte. Damals gab es die Vorschrift, dass wir Schüler, die den Unterricht nicht regelmäßig besuchten, nicht weiter an unserer Schule dulden durften.“ In jenem Jahr gingen zirka zehn Prozent der Schüler von der Garfield ab.
Als Jimi Jahre später berühmt war und gegenüber gutgläubigen Reportern seine Vergangenheit mystisch verklärte, erzählte er das Märchen, er sei von der Schule geflogen, weil ihn rassistische Lehrer beim Händchenhalten mit seiner weißen Freundin in der Bibliothek erwischt hätten. Die Geschichte war frei erfunden: Beziehungen zwischen Weißen und Schwarzen waren an der Schule nicht beispiellos, obwohl Jimi zu dem Zeitpunkt keine weiße Freundin hatte, mit der er hätte Händchen halten können. Niemand, der in jener Zeit die Garfield besuchte, erinnert sich an eine andere Highschoolfreundin außer Betty Jean. Jimi hatte sich mit Mary Willix angefreundet, einer weißen Klassenkameradin, die eine enge Freundin wurde – mit ihr unterhielt er sich über Ufos, das Unbewusste und Wiedergeburt. Jimis Freundschaft zu Willix war allerdings rein platonisch, doch war sie eines der wenigen weißen Mädchen, mit denen er in seiner Jugend näher zu tun hatte. „Kaum eine der anderen weißen Schülerinnen kannte Jimi überhaupt“, bemerkt Willix. Die Freundschaft zu Willix hinterließ jedoch einen bleibenden Eindruck bei ihm, ebenso wie die vielen Freundschaften, die Jimi zu Musikern aller möglicher Hautfarben an der Garfield und im Central District in jenem Herbst unterhielt. „Der Multikulturalismus, den Jimi an der Garfield erlebte, sollte ihn den Rest seines Lebens begleiten“, erinnert sich Willix. „Das war wirklich ein ganz besonderer Ort, und alle, die dort waren, wurden nachhaltig davon geprägt.“ Diese Freundschaften, von denen sich viele um die gemeinsame Liebe zur Musik entwickelten, wirkten sich dauerhafter auf Jimi aus als alles, was er im Unterricht gelernt hatte.
Das fantastische Märchen, er sei wegen einer imaginären weißen Freundin aus der Bibliothek geworfen worden, brachte Jimis Freunde und Klassenkameraden allein schon wegen der Vorstellung, Jimi habe in der Bibliothek gesessen, zum Schmunzeln. Die Wahrheit ist, dass Jimi Hendrix am 31. Oktober 1960, zu Halloween, im Alter von siebzehn Jahren wegen zu schlechter Noten von der Schule abgehen musste.