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ОглавлениеKapitel drei
Überdurchschnittlich schlau
Seattle, Washington
September 1945 bis Juni 1952
„Er ist für sein Alter überdurchschnittlich schlau, und die Leute hier sind ganz vernarrt in ihn.“
— Al Hendrix in einem Brief an seine Mutter
Al Hendrix kehrte im September 1945 mit einem Truppentransporter nach Seattle zurück. Als er in Elliott Bay einlief, deutete er auf die Stadt und bemerkte gegenüber einem seiner Kameraden: „Da drüben wohn ich.“ In Wirklichkeit wusste Al nicht, wo er wohnen würde, und ob er noch eine Ehefrau hatte, war ebenso unklar. Noch von Übersee aus hatte er die Scheidung eingereicht.
Unmittelbar nach seiner Entlassung zog Al bei seiner Schwägerin Delores ein. Buster war noch immer in Kalifornien bei Mistress Champ. Als Nächstes reiste Al nach Vancouver, wo er seine Familie besuchte, und nachdem er dort mehrere Wochen verbracht hatte, kehrte er nach Seattle zurück und besorgte sich im Rathaus der Stadt eine Kopie der Geburtsurkunde seines Sohnes, in der Annahme, sie könne hilfreich sein, wenn er ihn abholen fuhr. Zwei Monate nach seiner Entlassung aus der Armee machte er sich auf nach Kalifornien, um seinen Jungen zu holen.
Die erste Begegnung zwischen Al und seinem Erstgeborenen in der Wohnung der Champs war beklommen. In My Son Jimi schrieb er, beim Anblick seines Kindes sei er von Gefühlen überwältigt gewesen: „Bei einem frisch geborenen Säugling wäre das anders gewesen. Da stand er, drei Jahre alt, schaute mich an und bildete sich sein eigenes Urteil.“ Zumindest teilweise rührte das Unbehagen daher, dass der Junge seiner Mutter wie aus dem Gesicht geschnitten war. Al fiel die verblüffende Ähnlichkeit sofort auf, besonders die der Augen. Selbst das breite Lächeln erinnerte an Lucille.
Die Champs versuchten Al zu überreden, Buster bei ihnen zu lassen. Eine Adoption hätte sich ohne Weiteres arrangieren lassen, und in Anbetracht der bevorstehenden Ungewissheit hätte man es Al kaum verdenken können, wenn er eingewilligt hätte. In einem Brief, den er aus Berkeley an seine Mutter Nora Hendrix schrieb, zeigte sich Al voller Zweifel in Bezug auf seine Situation, gleichzeitig aber auch erfüllt von väterlicher Liebe. Er schrieb, Buster sei „ein guter Junge, und er ist süß. Er ist für sein Alter überdurchschnittlich schlau, und die Leute hier sind ganz vernarrt in ihn – alle sind das.“ Al schrieb, Mistress Champ sei todunglücklich über die Aussicht, den Jungen zu verlieren: „Sie hängen so sehr an ihm und lieben ihn so sehr, und er hat sich jetzt an sie gewöhnt; es ist eine Schande, ihn da herauszureißen, aber ich liebe ihn auch. Schließlich ist er mein Sohn, und ich will, dass er weiß, wer sein Daddy ist, er hat jetzt schon angefangen, mich Daddy zu nennen.“ Gegen Ende des Briefs überlegte Al, wie es wäre, Kalifornien ohne den Jungen zu verlassen, und er schloss mit den Worten: „Ich könnte es mir nie verzeihen. Wenn ich hier abreise, nehme ich ihn mit.“ Er versprach seiner Mutter, sie noch vor Weihnachten zu besuchen.
Sofern er sich überhaupt daran erinnern konnte, hat Jimi Hendrix nie darüber gesprochen, wie es war, seinem Vater zum ersten Mal zu begegnen. Jimi war bis zu diesem Zeitpunkt ausschließlich von Frauen erzogen worden und hatte keine Vaterfigur gekannt. Er hatte sich an Mistress Champ gewöhnt und Celestine vergöttert. Als Al ihm im Zug nach Hause Schläge androhte, rief Jimi unter Tränen nach Celestine, doch seine Beschützerin konnte nichts mehr für ihn tun. Al verpasste seinem Sohn auf dieser Bahnfahrt die erste väterliche Tracht Prügel. „Ich glaube, er hatte Heimweh und hat sich deshalb schlecht benommen“, schrieb Al später.
In Seattle zogen Al und Jimi bei Delores in das Yesler Terrace Housing Project ein. Es handelte sich um das erste ethnisch gemischte Wohnungsbauprojekt der Vereinigten Staaten, und trotz der Armut der Bewohner entstand dort eine eingeschworene Gemeinschaft, in der sich die verschiedensten Kulturen auf gleicher Ebene begegneten. „Das war damals ein guter Ort“, erinnert sich Delores, „Schwarze gab es nicht so viele, aber alle kamen miteinander aus.“ Außer Buster gab es noch viele andere Kinder, und es war der Beginn einer multikulturell geprägten Kindheit.
Die Ereignisse nahmen für alle eine überraschende Wendung, als Lucille nur kurze Zeit nach Al und Buster ebenfalls dort wieder auftauchte. Ihre ersten Worte gegenüber Al lauteten: „Da bin ich.“ Zum ersten Mal befanden sich die drei Hendrix’ im selben Raum. Die Wiedervereinigung war für alle drei von gemischten Gefühlen begleitet: Lucille war sich nicht sicher, wie sie empfangen werden würde, von ihrem Sohn, den sie monatelang nicht gesehen hatte – und von ihrem Mann, von dem sie sich vor drei Jahren verabschiedet hatte. Buster wusste nicht, was er davon halten sollte, zum ersten Mal seine beiden Eltern zusammen zu erleben. Al konnte sich nicht entscheiden, ob er seiner Wut gegenüber Lucille Luft machen oder sie in die Arme nehmen sollte. Er war beeindruckt von der Attraktivität seiner Frau: In den drei Jahren, seit er sie das letzte Mal gesehen hatte, war sie von einem Mädchen zu einer schönen, erwachsenen Frau gereift. Es endete damit, dass Al entschied, den Scheidungsprozess zu stoppen. Lucille fragte ihn: „Willst du’s probieren, ob wir’s doch noch mal hinkriegen?“ Und Al antwortete: „Vielleicht ist es das Beste, wenn wir’s verdammt noch mal versuchen.“ Die körperliche Anziehung bildete das stärkste Band zwischen beiden und führte dazu, dass sie immer wieder in die Arme des anderen zurückfanden – auch in Zeiten erbitterter ehelicher Auseinandersetzungen.
Allen Berichten zufolge waren die nun folgenden Monate die sorgenfreisten, welche die Familie erleben sollte. Da sie bei Delores wohnten, waren ihre Ausgaben minimal, und Al erhielt noch immer Zahlungen von der Armee. Er und Lucille waren daher in der Lage, beinahe jeden Abend auszugehen. Und Delores, die konservativer war als ihre Schwester, diente praktischerweise als Babysitterin. Lucille und Al passten im Gegenzug auf die Kinder von Delores auf, wenn sie tagsüber bei Boeing arbeitete. Danach kümmerte sich Delores um Buster, wenn Lucille und Al ausgingen und ihre alte Liebe auffrischten. „Das waren damals ihre Flitterwochen“, meint Delores. „Die sind die Jackson Street rauf und runter.“
Die junge Familie unternahm sogar eine Reise nach Vancouver. Weder Lucille noch Buster hatten je Als Mutter Nora kennen gelernt, und Al gefiel es, mit seiner Nachkommenschaft anzugeben. Buster mochte seine Großmutter auf Anhieb, und dies sollte die erste von vielen Reisen sein, die er unternahm, um sie zu besuchen.
Delores, die nicht trank, hatte Als und Lucilles Sauferei allmählich satt. „Sie haben getrunken und Partys gefeiert, und ich hatte eine Familie zu versorgen“, sagt sie. Wenn Lucille betrunken war, zeigte sie sich übertrieben anhänglich und emotional. Al war das Gegenteil: Alkohol machte ihn launisch und verbittert.
Nachdem Al Arbeit im Schlachthaus gefunden hatte, erlaubte sein Gehalt, dass die Familie in ein Hotel zog, in dem vor allem Durchreisende aus der Gegend um die Jackson Street abstiegen. In ihrem bescheidenen Zimmer stand nur ein einzelnes Bett, das er sich mit Lucille und Buster teilte. Sie hatten eine einzige Kochplatte, auf der sie ihre Mahlzeiten zubereiteten, und das einzige andere Möbelstück in dem Raum war ein Schreibtischstuhl. In diesem Hotelzimmer lebten sie monatelang.
Während der Zeit im Hotel, ein ganzes Jahr nach seiner Rückkehr, beschloss Al, den gesetzlich eingetragenen Namen seines Sohnes zu ändern. Er entschied sich für James, da dies sein eigener offizieller Name war, und für Marshall als zweiten Namen nach dem Zweitnamen seines verstorbenen Bruders Leon. Danach wurde der Junge von einigen Jimi oder James genannt, obwohl er innerhalb der Familie weiterhin Buster blieb.
Durch das Leben im Hotel geriet die Familie in ein Fahrwasser, das Lucille bereits bestens kannte – es war mehr oder weniger dasselbe Viertel, in dem sie schon während des Kriegs als Kellnerin gearbeitet hatte. Sie kannte viele Leute, und wenn sie die Straße entlangspazierte, traf sie in der Regel mehrere Bekannte. Al profitierte als ihr Mann von ihrer Beliebtheit, aber auch seine Eifersucht wurde dadurch angestachelt. „Al kannte nur Lucilles Freunde“, sagt Delores, „eigene Freunde hatte er nicht.“ Das Viertel war eines der buntesten der Stadt, und zu ihren Freunden zählten Chinesen, Japaner, Weiße und eine ganze Reihe philippinischer Familien. Rassistische Vorurteile waren in Seattle jedoch noch immer tief verankert, denn Al wurde, wie er erzählte, der Seefahrtsschein verweigert, da ihn die ausstellende Behörde aufgrund der zahlreichen nichtweißen Freunde des Ehepaars als „Bedrohung der nationalen Sicherheit“ einstufte.
Schließlich erhielt Al eine Lizenz der Handelsmarine und nahm einen Job auf einem Schiff an, das nach Japan fuhr. Wieder war er tausende von Kilometern weit entfernt, und als er mehrere Wochen später zurückkehrte, war Lucille des Hotels verwiesen worden. Al behauptete, der Geschäftsführer des Hotels habe ihm mitgeteilt, sie sei mit einem anderen Mann auf dem Zimmer erwischt worden.
Delores widerspricht Als Version der Ereignisse. Was auch immer geschehen war, es hielt Al nicht davon ab, Lucille sofort wieder in die Arme zu schließen. Es ergab sich ein Muster: Regelmäßig trennten sie sich und kamen ebenso regelmäßig wieder zusammen. „Es war fast schon ein Kreislauf“, schrieb Al in seiner Autobiografie. „Zwei oder drei Monate lief alles wunderbar. Dann merkte ich: ‚Oha … da liegt was in der Luft.‘“ Selbst Jimi Hendrix blieb dieses Muster nicht verborgen. Jahre später erzählte er einem Interviewer, die Beziehung seiner Eltern sei hitzig gewesen: „Mein Vater und meine Mutter haben sich oft miteinander überworfen“, sagte er. „Ich war ständig drauf gefasst, wieder mal klammheimlich nach Kanada abzuhauen.“ In Kanada konnte er bei seiner Großmutter Nora Hendrix unterkommen. Noch öfter allerdings wurde er zu seiner Großmutter Clarice, zu Delores oder Dorothy Harding in Seattle abgeschoben.
Dorothy Harding musste regelmäßig babysitten, nachdem die wiedervereinte Familie im Frühjahr 1947 ihre erste gemeinsame Wohnung im Rainier-Vista-Wohnungsbauprojekt bezogen hatte, in dem auch Dorothy wohnte. Rainier Vista lag fünf Kilometer südlich vom Central District im Rainier Valley. Der Wohnkomplex selbst wurde hauptsächlich von weißen Familien im Ruhestand bewohnt, aber nach dem Krieg beherbergte er auch zunehmend Afroamerikaner. Die Einzimmerwohnung der Familie in der Oregon Street 33121 war so klein, dass Buster in der Abstellkammer schlafen musste. Diese wurde zu seinem Rückzugsort, wenn die Eltern stritten, was nun immer öfter vorkam.
Die meisten Auseinandersetzungen entsprangen den finanziellen Problemen der Familie und Lucilles Klagen darüber, dass Al nicht genug verdiente, um seine Familie zu ernähren. Sie drohte, sich eine Stelle als Kellnerin zu suchen, doch in Als Augen stellte sie damit seine Männlichkeit infrage. Die meisten Jobs, die er in dieser Zeit annahm, bedeuteten harte körperliche Arbeit, und keiner davon war von Dauer. Auch machte er im Rahmen eines Förderprogramms zur beruflichen Wiedereingliederung ehemaliger Kriegsveteranen eine Lehre als Elektriker, in der Hoffnung, eine besser bezahlte Arbeit zu finden. Die Familie lebte von weniger als neunzig Dollar im Monat, wobei die Miete allein schon vierzig betrug.
Lucille war das Leben in der und um die Main Stem gewohnt, und der häusliche Alltag, den sie im Rainier Vista erlebte, stand dazu in krassem Gegensatz. Wenn Al erschöpft von der Arbeit nach Hause kam, hatte er selten Lust auszugehen. Al schlug ihr vor, ohne ihn auszugehen.
„Wenn sie nach Hause kam“, erinnert sich Delores, „war er besoffen und stocksauer. Die Nachbarin nebenan erzählte mir, sie habe jeden Abend Streit und Gezeter gehört.“ Delores sagte, Lucille habe regelmäßig Beulen und Prellungen davongetragen, wenn die Streitereien in Handgreiflichkeiten ausarteten.
Anfang 1948 stritten sie laut Al einmal so erbittert, dass Lucille auszog und einen Monat lang bei einem Filipino namens Frank lebte. Wenn die Geschichte wahr ist, war sie offenbar dennoch kein Grund für eine Scheidung, und als Lucille zurückkehrte, nahm Al sie wieder auf. In seiner Autobiografie schrieb er: „Ich bin nicht übermäßig eifersüchtig, aber nach dem, was sich Lucille alles geleistet hat, hätten die meisten Kerle sie zum Teufel gejagt.“ Al tat das Gegenteil: Wenn sie ihn verließ, schien er sie jedes Mal noch stärker zu begehren. Laut Delores Hall habe Al böswillig Lucilles Freundschaften zu Männern als Liebesaffären ausgelegt, während Al behauptet, Lucille habe ihn offen betrogen – die Wahrheit liegt wahrscheinlich irgendwo dazwischen. Dennoch, wenn auch nur die Hälfte der Ereignisse, von denen Al in seiner Autobiografie berichtet, wahr ist, wurde er nach Strich und Faden hintergangen. Delores dagegen ist der Ansicht, Als Eifersucht sei das Produkt seiner vom Alkohol beflügelten Fantasie.
Als Sorgen beruhten jedoch keineswegs ausschließlich auf Einbildung. In jenem Jahr wurde John Page aus dem Gefängnis entlassen, und als er wieder auftauchte, sann er auf Rache. „Er drohte, uns alle umzubringen“, sagt Delores. Page stellte Lucille mit einem Revolver nach und schwor, er würde sie mit nach Kansas City nehmen. Ein Freund der Familie schlug ihn mit seiner eigenen Pistole in die Flucht. „John Page war wild entschlossen, Lucille auf den Strich zu schicken“, behauptet Delores. Page hatte offenbar bereits Freunden gegenüber geprahlt, Lucille könne mit ihrer hellen Haut auf dem Strich viel Geld anschaffen. Delores riet Lucille dringend, Page aus dem Weg zu gehen, doch Lucilles Reaktion klang naiv und bis zu einem gewissen Grad auch verschwörerisch. „Ich hab nicht viel mit ihm zu tun“, sagte sie Delores, „aber er gibt mir immer Geld und macht mir schicke Geschenke.“ Die Situation war, wie Dorothy Harding meint, „ein heilloses Durcheinander“.
Page ließ sich nicht so ohne Weiteres vertreiben. Eines Abends, als Al, Lucille, Delores und andere Verwandte das Atlas Theater verließen, tauchte er auf und packte Lucille.
„Lass sie sofort los“, schrie Al.
„Das ist meine Frau“, erwiderte Page. „Ist mir scheißegal, ob du mit ihr verheiratet bist. Du warst nicht da – du hast keine Ahnung.“
Das war der Startschuss für eine Schlägerei. Page war größer als Al, doch Al hatte Erfahrung im Boxen und landete den ersten Treffer, der Page kurzfristig überrumpelte. Sie prügelten sich die gesamte Straße hinunter, und Al blieb im Vorteil. Schließlich wurden die beiden Männer von Zuschauern getrennt, und Page rannte davon. Lucille ging mit Al nach Hause, und John Page belästigte sie nicht wieder.
Ein hartnäckigerer Dämon als die Eifersucht war jedoch der Alkohol, der die Zankereien der beiden befeuerte. „Wenn sie tranken, stritten sie auch“, bemerkt Delores. Regelmäßig fanden in ihrer Wohnung Partys statt. „Wenn Lucille und ich Alkohol zu Hause hatten, tranken wir, und meist waren auch andere Leute da, also war es eine Party“, schrieb Al in My Son Jimi. Diese Partys waren so wild, dass sowohl Dorothy wie auch Delores ihren Kindern verboten, die Hendrix’ zu Hause zu besuchen. Jimi musste entweder woanders übernachten oder in seiner Abstellkammer hocken und sich den Lärm anhören. Sowohl Delores wie auch Dorothy fiel auf, dass sich Jimi in diesem Jahr immer mehr zurückzog. Als er gefragt wurde, warum er so still sei, antwortete er meist: „Mama und Papa streiten sich die ganze Zeit. Immer gibt’s Streit. Ich mag das nicht. Ich wünsche mir, dass sie damit aufhören.“ Wenn seine Eltern abends zu streiten anfingen, flüchtete Jimi oft zu Dorothy Harding. Er war so still, dass Harding sich fragte, ob er ernsthaft krank sei. „Er sagte kaum ein Wort“, erinnert sie sich.
Wenn Jimi doch einmal redete, dann mit einem leichten Stottern, das er bis in seine Jugend behielt und das auch im Erwachsenenalter gelegentlich durchschlug, wenn er nervös war. Er konnte Dorothys Namen nicht aussprechen, weshalb er sie „Auntie Doortie“ nannte. Ab Herbst besuchte er die Vorschule und wurde ein wenig offener, obwohl er wegen seines Sprachfehlers ständig gehänselt wurde. Irgendwann 1947 bekam er sein erstes Musikspielzeug, eine Mundharmonika, doch er zeigte kaum Interesse daran und ließ sie schon bald achtlos liegen. Sein Lieblingsspielzeug war ein kleiner Hund, den Delores aus Stoffresten für ihn genäht hatte. Auf den wenigen Fotografien aus jener Zeit sieht man ihn, wie er den ausgestopften Hund umklammert, als handle es sich um seinen kostbarsten Besitz.
In guten Zeiten gab sogar Al zu, dass Lucille eine gute Mutter war. „Lucille war wirklich gut im Umgang mit Jimi“, schrieb er in seinem Buch. „Sie knuddelte ihn und sprach mit ihm, und er kuschelte viel mit ihr.“ Jimi war ein kreatives Kind und konnte stundenlang allein spielen. Im Alter zwischen vier und sechs Jahren hatte er einen Fantasiefreund, der ihn bei allem begleitete, was er tat.
* * *
Im Sommer 1947 wurde Lucille wieder schwanger. In seinem Buch schreibt Al fünfzig Jahre später, zur Zeit der Empfängnis sei er von seiner Frau getrennt gewesen, was Delores Hall bestreitet. Zumindest aber in jenem Sommer waren Al und Lucille zusammen, und mit ihrer Schwangerschaft verbesserte sich die Beziehung. Mehrere Freunde berichten ganz im Gegenteil zu der Version in Als Buch, er habe sich sehr gefreut, ein weiteres Kind zu bekommen. „Immer wieder hat er gesagt, wie glücklich er war“, erzählt Dorothy Harding, „weil er gern bei der Geburt seines Babys dabei sein wollte – Jimis Geburt hatte er ja verpasst, weil er weg gewesen war.“
Das Baby wurde am 13. Januar 1948 geboren. Al nannte das Kind nach seinem geliebten verstorbenen Bruder Leon. Auf der Geburtsurkunde wurde Al als Vater eingetragen, und er beeilte sich wie jeder andere frisch gebackene Vater, vor jedermann mit dem Kind anzugeben. Auch Delores war im Harborview Hospital, wo sie nur zwei Tage vor Leons Geburt ihr drittes Kind auf die Welt brachte. Sie und Lucille lagen auf der Entbindungsstation nebeneinander, und Delores erinnert sich, dass Al großes Aufheben um Leon machte: „Er zog ihn ganz aus und betrachtete ihn von oben bis unten und sagte dann: ‚Ich bin so froh, dass ich noch einen Sohn habe. Jetzt kann ich sehen, wie seine kleinen Zehen aussehen, die kleinen Füße und die kleinen Hände.‘“ Vielleicht lag es an Als eigenem kleinem Geburtsfehler, dass er immer wieder Leons Zehen und Finger zählte.
Leons Geburt markierte den Höhepunkt der glücklichen Zeit der Familie. Al war so entzückt von seinem neuen Sohn, dass sich auch alles andere im Leben der Familie zu bessern schien. „Das war die Zeit, in der sie einander blendend verstanden“, sagt Delores. „Al hatte eine Zeit lang einen besseren Job, und die Streitereien nahmen scheinbar ab.“
Sofort war allen klar – auch Jimi –, dass Leon Als Liebling war. Jimi erzählte seinem Cousin Dee: „Daddy und Mommy sind ganz verrückt nach meinem kleinen Bruder, die mögen ihn lieber als mich.“
Nicht lange nach Leons Geburt zog die Familie in eine Zweizimmerwohnung im Rainier Vista. Auch sie war klein, aber zumindest hatten Jimi und Leon ein Zimmer für sich. Ab September besuchte Jimi den Kindergarten. Mit fünf Jahren und zehn Monaten war er etwas älter als die anderen Kinder, aber nicht so alt, dass es aufgefallen wäre. Jeden Nachmittag nach der Schule lief er zu dem großen Grüngürtel westlich des Rainier Vista. Dort im Wald kämpfte er täglich Schlachten gegen imaginäre Cowboys und stellte sich vor, er sei einer der indianischen Krieger, über die ihm seine Großmutter Nora Hendrix Geschichten erzählt hatte.
Nur elf Monate nach Leons Geburt brachte Lucille einen weiteren Jun-gen zur Welt, dem Al den Namen Joseph Allen Hendrix gab. Al wurde auf der Geburtsurkunde als Vater eingetragen, obwohl er in seiner Autobio-grafie die Vaterschaft leugnet. Während Jimi und Leon jedoch beide groß und schlaksig gebaut waren, war Joe klein und kräftig und sah Al ähnlich wie ein Zwillingsbruder.
Joes Geburt war für die Familie kein Anlass zur Freude. Er hatte verschiedene ernsthafte Geburtsfehler, darunter auch zwei Reihen von Zähnen, was ein seltenes Phänomen ist. Er litt außerdem an einem Klumpfuß und einer Hasenscharte, und ein Bein war beträchtlich kürzer als das andere. Jimi Hendrix war in dem Winter, in dem Joe geboren wurde, sechs Jahre alt geworden, und nun hatte die Familie drei kleine Kinder zu füttern, wo sie doch schon mit nur einem Kind ums Überleben hatte kämpfen müssen. Noch schlimmer jedoch war, dass Al und Lucille von nun an unablässig darüber stritten, wer von ihnen beiden für Joes gesundheitliche Probleme verantwortlich war. Lucille gab Al die Schuld, weil er sie während ihrer Schwangerschaft gestoßen hatte. Al warf ihr die Trinkerei vor.
Je älter Joe wurde, desto deutlicher zeichnete sich ab, dass er medizinische Hilfe brauchte. Al, der die Kosten scheute, begann sich emotional von seinem Sohn und dem Rest der Familie zu distanzieren. Im Gegenzug dazu brachte Joes Bedürftigkeit die mütterlichen Instinkte in Lucille zum Vorschein, und sie überlegte, wie es gelingen könnte, Joe die Operation zu ermöglichen, die er dringend benötigte. Regelmäßig fuhren sie mit dem Bus ins Kinderkrankenhaus im Nordosten von Seattle, für den Hin- und Rückweg benötigte man damals jeweils zwei Stunden. Sie stellte fest, dass der Staat für einen Großteil der von Joe benötigten ärztlichen Versorgung aufkommen würde, doch die Familie müsste einen Teil der Kosten selbst tragen. Al lehnte ab. Er hatte in jenem Jahr seine Ausbildung zum Elektriker abgeschlossen, doch der einzige Job, den er fand, war der eines Hauswarts auf dem Pike Place Market, wo er fegte, wenn die Bauern ihre Stände abgebaut hatten.
Bis zum Juni 1949 war die Familie so weit zerrüttet, dass sie am Ende zu sein schien. Die Kinder litten unter ernährungsbedingten Mangelerscheinungen. Jimi und Leon überlebten nur, weil sie bei Nachbarn aßen, was schon bald zur täglichen Gewohnheit wurde. Al entschied, seine drei Kinder nach Kanada zu schicken, wo sie eine Zeit lang bei seiner Mutter Nora leben sollten. Jimi war mit knapp sieben Jahren als Einziger alt genug, um die emotionale Bedeutung einer weiteren Trennung von seinen Eltern zu begreifen. Großmutter Nora war in ihrer Fürsorge verlässlicher als Al oder Lucille, doch auch sie hatte ihre Macken. Sie war sehr streng, und ihre Strafen waren hart – Joe erzählte, sie habe ihn windelweich geprügelt, als er ins Bett gemacht hatte –, doch andererseits kannte sie sich mit altmodischen Heilmethoden und Kräutern aus. Jimi liebte ihre Geschichten über ihre Cherokee-Vorfahren und ihre Zeit bei den Minstrel-Shows.
Im September 1949 wurde Jimi in Vancouver eingeschult. Später erzählte er einem Interviewer, seine Großmutter habe ihn „in ein mexikanisches Jäckchen mit Quasten“ gesteckt, das sie selbst genäht hatte, und die anderen Kinder hätten ihn deshalb gehänselt. Im Oktober wurden Jimi und seine Brüder wieder zurück nach Seattle zu Lucille und Al geschickt, die sich wieder gefangen hatten. Doch es dauerte nicht lange, bis es wieder bergab ging, und im Herbst 1950, als er in die zweite Klasse der Horace Mann Elementary School kam, wohnte Jimi vorübergehend bei Delores. Im Herbst wurde Jimi acht Jahre alt, und ein weiteres Kind vergrößerte die Familie Hendrix: Kathy Ira kam sechzehn Wochen zu früh zur Welt und wog bei der Geburt nur knapp siebenhundertfünfzig Gramm. Noch schlimmer war jedoch, dass die Familie schon bald feststellen musste, dass sie blind war. Eine Zeit lang lebte Kathy mit den anderen im Haushalt, doch elf Monate nach ihrer Geburt wurde sie unter Amtsvormundschaft gestellt und in Pflege gegeben. Auch in Kathys Fall leugnete Al die Vaterschaft, obwohl sie ihm wie zuvor auch schon Joe bemerkenswert ähnlich sah. Im Oktober 1951, ein Jahr danach, wurde eine zweite Tochter, Pamela, geboren. Auch sie hatte gesundheitliche Problem, wenn auch nicht so gravierende wie Kathy. Und obwohl Al auf der Geburtsurkunde als Vater angegeben war, leugnete er auch in Pamelas Fall die Vaterschaft. Wie Kathy kam sie zu einer Pflegefamilie, allerdings in der Nachbarschaft, sodass sie ihre Familie gelegentlich sehen konnte.
Jimi besuchte ab September 1951 die dritte Klasse der Rainier Vista Elementary School. Er wohnte nun wieder mit seinen Eltern, Leon und Joe in der inzwischen viel zu engen Zweizimmerwohnung. Trotz der Familientragödie hatte Jimi Freude an Dingen, wie sie alle kleinen Jungs faszinieren: Er las Comics, liebte das Kino und zeichnete Autos. Im Sommer schrieb er seiner Großmutter Nora eine Postkarte: „Wie geht’s dir? Mir geht’s gut. Wie geht’s (meinem Cousin) und denen? Auch gut? Wir waren bei einem Picknick, und ich hab zu viel gegessen, aber es war ein gutes Picknick. Wir hatten Spaß. Piep piep. Alles Liebe! Buster.“
Schon bald gestaltete sich das Leben im Haushalt der Hendrix’ allerdings so kompliziert, dass selbst Jimi das Piepen verging. Zu diesem Zeitpunkt gab es drei Kinder: Jimi, Leon und Joe; die beiden Mädchen befanden sich bereits bei Pflegefamilien. Lucille hatte gegen den Alkoholismus zu kämpfen, ebenso Al, der wieder einmal keine feste Anstellung fand. Obwohl es bereits zahllose scheinbar unüberwindbare Probleme gab, zerbrach die Familie letztlich doch über der Frage, was mit Joe Hendrix geschehen sollte. Lucille hegte die Hoffnung, der damals dreijährige Joe könne nach seiner Beinoperation wieder bei der Familie leben. Doch Al blieb unerbittlich. Wiederholt behauptete er, er könne sich die Operation nicht leisten. Lucille hatte bereits zwei Töchter weggeben müssen und konnte die Vorstellung, jetzt auch noch Joe zu verlieren, der bereits seit drei Jahren bei ihnen lebte, nicht ertragen. Später behauptete sie, Al habe seine Entscheidung aus Gemeinheit und Geiz getroffen. „Al sagte, er wolle nicht so viel Geld in ein Kind stecken“, erinnert sich Delores, „nicht mal dann, wenn er die Kohle hätte.“
Im Spätherbst 1951, kurz nach Jimis neuntem Geburtstag, verließ Lucille Al. Al war am Boden zerstört und erzählte später, er habe sie sitzen lassen. Dennoch war dies nicht das Ende der Beziehung. Nicht einmal eine Scheidung oder der Hass, der darauf folgte, konnte der Anziehungskraft zwischen beiden etwas anhaben. Am 17. Dezember 1951 wurden sie offiziell geschieden, doch schon wenig später waren sie wieder zusammen und trennten sich ebenso rasch ein weiteres Mal. In der offiziellen Scheidungsverhandlung wurde Al das Sorgerecht für Jimi, Leon und Joe zugesprochen. Dieses Sorgerecht war jedoch eine reine Formalität auf dem Papier: Die Hendrix-Jungen wurden danach von ihrer Großmutter Clarice Jeter, Grandma Nora Hendrix in Vancouver, Tante Delores Hall und der Freundin Dorothy Harding sowie anderen aus der Nachbarschaft großgezogen, wie dies überwiegend schon der Fall war, als ihre Eltern noch verheiratet waren.
Im Sommer 1952 brachten Lucille und Al eines der traurigsten Ereignisse in der Familiengeschichte hinter sich. Da sich Al weigerte, Joes Operation mitzufinanzieren, bedeutete dies in der Konsequenz, dass auch Joe unter Amtsvormundschaft gestellt werden musste, damit ihm die nötige medizinische Versorgung garantiert war. Dazu mussten Lucille und Al auf alle elterlichen Rechte an dem dreijährigen Joe verzichten. Lucille hatte Al angefleht, es sich noch einmal anders zu überlegen, und sowohl Delores wie auch Dorothy Harding hatten angeboten, Joe zu adoptieren. Al lehnte diese Vorschläge jedoch ab, vielleicht, weil er befürchtete, sich finanziell zu verpflichten.
Al hatte aus diesem herzzerreißenden Anlass ein Auto geliehen. Jimi und Leon wussten, dass etwas im Busch war, als sie beobachteten, wie ihr Vater die Habseligkeiten ihres kleinen Bruders ins Auto packte und ihn zum Wagen brachte. Delores war gerufen worden, damit sie auf Jimi und Leon aufpasste, und sie und die beiden Kinder winkten Joe zum Abschied hinterher. Leon erinnert sich, sehr verwirrt gewesen zu sein. Mit beinahe zehn Jahren muss Jimi eine tiefe Trauer gespürt haben.
Joe konnte sich allerdings sehr gut an den Tag erinnern. Seine Mutter hielt ihn auf der Autofahrt im Arm. „Sie roch so gut“, erinnert sich Joe, „nach Blumen.“
Vor dem Krankenhaus angekommen, trug Lucille Joe aus dem Wagen und übergab ihn einer wartenden Schwester. Er saß mit der Schwester am Straßenrand, und als seine Mutter wieder ins Auto stieg, begann er zu weinen. „Mein Dad“, erinnert sich Joe, „ist nicht mal ausgestiegen. Er hat die ganze Zeit den Motor laufen lassen.“ Joe kletterte auf den Schoß der Schwester und blieb dort sitzen, während seine Eltern wegfuhren. In den folgenden Jahren stieß er immer mal wieder zufällig im Central District auf seine Brüder Jimi und Leon. Sie begegneten ihm stets mit großer Zuneigung und erinnerten sich an die drei Jahre, in denen sie als Familie zusammengelebt hatten. Joe traf gelegentlich sogar Al Hendrix im Viertel, aber Lucille sollte Joe Hendrix nie wiedersehen. Das letzte Bild seiner Mutter, das sich ihm ins Gedächtnis grub, war, wie sie im davonfahrenden Wagen zum Abschied die Hand hob.