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Vorbemerkung des Autors

Biografen treiben sich oftmals auf Friedhöfen herum und notieren Grab­inschriften, selten jedoch stehen sie, wie es mir während der Arbeit an diesem Buch vergönnt war, neben einem Friedhofsangestellten, der mit der Schippe in der Hand ein verloren geglaubtes Grab hebt. Das Wiederauffinden der letzten Ruhestätte der Mutter von Jimi Hendrix war der ernüchterndste Moment in den vier Jahren, die ich an diesem Buch schrieb: ein Ereignis, mit dem ich nicht gerechnet hatte. Es kam nur deshalb dazu, weil ich nicht glauben wollte, dass das Grab von Lucille Hendrix Mitchell nicht auf den Lageplänen des Greenwood Memorial Park verzeichnet ist, und ich so lange bei der Friedhofsverwaltung insistiert habe, bis endlich ein Arbeiter mit Schaufel und uraltem Lageplan geschickt wurde, der die Reihen verwitterter Grabsteine absuchte. Biografen, die sich mit bereits Verstorbenen beschäftigen, sind in gewisser Hinsicht ohnehin Totengräber und ähneln auch ein klein wenig Doktor Frankenstein. Wir wollen die Menschen, deren Leben wir uns zum Thema gemacht haben, wieder lebendig machen, wenn auch nur vorübergehend, auf den Seiten eines Buchs. Normalerweise haben wir es uns zum Ziel gesetzt, unsere Hauptfiguren wiederzubeleben. Selten suchen wir nach sterblichen Überresten oder verwitterten Urnen. Man ist nicht darauf vorbereitet, auf einem matschigen Friedhof zu stehen und zuzusehen, wie ein Friedhofswärter mit der nachlässigen Geste eines geübten Archäologen den Spaten in die Erde sticht.

Wenn eine Art ausgleichende Gerechtigkeit in diesem Abenteuer lag, dann deshalb, weil diese in vielerlei Hinsicht verwickelte Biografie genau dreißig Jahre früher von eben jenem Friedhof ihren Ausgang nahm. Auf dem Greenwood Memorial Cemetery, wenige Meilen südlich von Seattle, erwies ich als Fan im Teenageralter zum ersten Mal einem der legendärsten Musiker der Welt­geschichte meine Verehrung. Wie jeder andere Pilger wollte ich das Grab von Jimi Hendrix nicht ohne die Texte meiner Lieblingssongs besuchen – „Purple Haze“, „Wind Cries Mary“, Jimis brillante Version von Dylans „All Along The Watchtower“ gingen mir durch den Kopf. Verschrammte Alben der Jimi Hendrix Experience bildeten den Soundtrack meiner Jugend, wie von einer ganzen Generation. Mein Vater hörte Electric Ladyland so oft durch die Wände meines Jugendzimmers, dass er genau wusste, wann er an meine Tür hämmern musste – kurz bevor die Fuzzbox zum Einsatz kam.

Als ich im Teenageralter an Jimis Grab stand, kannte ich nur wenige Einzelheiten seiner Geschichte, doch sein Leben war so außergewöhnlich und verlief in solch extremen Bahnen, dass es viel Stoff zur Mythenbildung bot. Viele der Presseberichte aus den Siebzigerjahren machten Hendrix zu einem Gitarrengott, und als Ikone verlor er an Menschlichkeit. Er wurde, wie auf einem Poster an meiner Wand, ein in schwarzes Licht getauchtes Sinnbild mit einem unglaublich großen Afro und einem Heiligenschein darüber. Er schien unergründbar, so fremd, als käme er von einem anderen Stern. Das Mysteriöse an Hendrix war einerseits eine Folge seines Genies, das Jahrzehnte später noch nicht seinesgleichen gefunden hat, und andererseits das Ergebnis eines von Plattenfirmen erzeugten Hypes.

Mit diesem Buch habe ich in vier Jahren und mit dreihundertfünfundzwanzig Interviews den Versuch unternommen, den Code zu knacken und das in schwarzes Licht getauchte Sinnbild auf meinem Poster wieder in das Porträt eines Mannes zu verwandeln. Obwohl ich erst 2001 mit dem eigentlichen Schreiben begonnen habe, fing ich bereits seit meinem ersten Besuch am Grab in den Siebzigerjahren an, in Gedanken zu formulieren. Als Autor, der sich auf die Musik des Nordwestens spezialisiert hat, wusste ich immer, dass mir das Thema Hendrix eines Tages bevorstehen würde, so, wie ein Schauspieler am Beginn seiner Karriere weiß, dass ihn der Shakespeare’sche Kanon erwartet.

Zum ersten Mal über Jimi geschrieben habe ich Anfang der Achtziger, als ihm zu Ehren in Seattle ein Denkmal errichtet werden sollte. Obwohl es ein paar tolle Ideen gab, einen öffentlichen Park oder eine Straße nach ihm zu benennen, ging die Ehrung in den Achtzigern in der „Just Say No“-Drogenhysterie unter. Ein Fernsehkommentator vertrat den Standpunkt, Jimi zu ehren würde bedeuten, einen „Drogensüchtigen“ zu verherrlichen. Die Initiative scheiterte, und stattdessen wurde ein Kompromiss gefunden: Ein „beheizter Stein“, auf dem Jimis Name stand, wurde in einem der afrikanischen Savanne nachempfundenen Gehege des Zoos von Seattle aufgestellt. Dieser Umstand veranlasste mich, einen Artikel zu schreiben, in dem ich den Stein als rassistisch und fremdenfeindlich bezeichnete und als Beleg dafür wertete, dass die afroamerikanische musikalische Tradition und Kultur im vornehmlich weißen Seattle miss­achtet werden. Der Zoofelsen, der sich bis heute dort befindet, wobei das Heizelement bei meinem letzten Besuch defekt war, wertete das Grab von Jimi Hendrix in seiner Bedeutung auf, da kaum jemand einen Zoo für einen geeigneten Ort der Trauer oder der Verehrung für Jimi betrachtete.

Jimis Vater Al Hendrix bin ich zum ersten Mal Ende der Achtzigerjahre begegnet und habe ihn bei mehreren Gelegenheiten zur Geschichte und zum Vermächtnis seines Sohnes befragt. Eine meiner ersten Fragen an Al bezog sich auf Jimis Grab: Wieso ziert den Grabstein des besten linkshändigen Gitarristen der Rockgeschichte das eingravierte Bild einer Rechtshändergitarre? Al behauptete, es sei ein Fehler des Steinmetzen gewesen. Al war nicht unbedingt detailverliebt, was die Geschichte seines verstorbenen Sohnes anging.

Er war so nett, mich zu sich nach Hause einzuladen, wo er eine Art Museum für Jimi errichtet hatte. Kein Elternteil möchte ein Kind beerdigen müssen, und es war Als ungnädiges Schicksal, seinen Erstgeborenen um drei Jahrzehnte zu überleben. Die Wände seines Hauses waren bedeckt mit Goldenen Schallplatten und vergrößerten Fotografien von Jimi. Dort, zwischen den Familienfotos von Jimi als Baby oder in einer Armeeuniform, befanden sich auch mehrere Bilder, die in keiner Fotocollage über die Sechzigerjahre fehlen dürfen: Jimi, der beim Monterey Pop Festival seine Gitarre auf der Bühne anzündet, Jimi in seiner weißen Fransenjacke auf der Bühne in Woodstock, Jimi mit seinem samtenen Schmetterlingsanzug auf der Isle of Wight. Es gab wenige Bilder von Jimis Bruder Leon an der Wand, dafür aber bizarrerweise ein riesiges Gemälde von Als totem Schäferhund. An einer anderen Kellerwand hing ein Bild, das ich bereits kannte: Es war dasselbe Poster des in schwarzes Licht getauchten gottgleichen Jimi, das ich als Jugendlicher besessen hatte.

Ich habe Al Hendrix nie gefragt, weshalb das Grab von Jimis Mutter fast fünfzig Jahre nicht mehr aufzufinden war, und Al starb 2002. In den Jahren, die es gedauert hat, dieses Buch fertig zu stellen, starben mindestens fünf meiner Interviewpartner, darunter auch der Bassist der Jimi Hendrix Experience, Noel Redding. Ich stellte Noel bei fast einem Dutzend verschiedener Gelegenheiten Fragen. In dem Gespräch, das ich nur zwei Wochen vor seinem plötzlichen Tod im Mai 2003 mit ihm führte, sprach er zum letzten Mal ausführlich über seine Geschichte. Es gab Momente beim Schreiben dieses Buchs, in denen ich den Eindruck hatte, dass uns die Geschichten aus Jimis Zeit allmählich entgleiten und dass es gerade diese Flüchtigkeit ist, die umfangreiche Recherchen sowohl heikler als auch notwendiger macht.

Andererseits aber führte ich auch Unterhaltungen und besuchte Orte, an denen Jimi Hendrix lebendig wirkte. Auf der Jackson Street in Seattle, dem historischen Zentrum des afroamerikanischen Nachtlebens im Nordwesten, zwischen Ladenfronten, die vor fünfzig Jahren noch Clubs bargen, in denen Größen wie Ray Charles, Quincy Jones und Jimi auftraten, findet man Bruchstücke eines Lebens, das vielen noch deutlich in Erinnerung geblieben ist. In einer Straße, die von der Dreiundzwanzigsten Avenue abzweigt, steht auf einem ansonsten freien Baugrundstück das Haus, in dem Jimi aufwuchs. Es wurde erhalten, um es eventuell künftig unter Denkmalschutz zu stellen. Macht man Halt im Blumenladen an der Ecke, trifft man dort hinter dem Verkaufstresen auf ältere Damen, die sich noch aus der Leschi Elementary School an Jimi erinnern. Im Starbuck’s gegenüber sitzt ein grauhaariger Gentleman und schlürft jeden Morgen seinen Kaffee; er hatte einst mit Jimis Mutter Lucille den Jitterbug getanzt. Und im Altersheim an der Ecke sitzt die achtundachtzigjährige Dorothy Harding im Rollstuhl und erzählt, wie sie auf Jimi als Baby aufgepasst hat und von der stürmischen Nacht, in der er geboren wurde.

Innerhalb der schwarzen Gemeinde von Seattle kannten und kennen die meisten Jimi Hendrix als „Buster“ – sein Rufname in der Familie. Ich habe mir aus Gründen der Stringenz und um Verwechslungen mit seinem Jugendfreund Jimmy Williams zu vermeiden, der in dieser Geschichte eine wichtige Rolle spielt, die erzählerische Freiheit erlaubt und Hendrix konsequent in allen Lebensphasen „Jimi“ genannt. Hendrix schrieb seinen Namen erst ab seinem zweiundzwanzigsten Lebensjahr „Jimi“, doch für diejenigen, die ihn in Seattle kannten, blieb er stets „Buster“.

Meine Suche nach Buster führte mich viele Male in die Jackson Street und auch in die finsteren Ecken von London, San Francisco, Los Angeles, Harlem, Greenwich Village und anderen Orten überall auf der Welt. Sie führte mich in biernasse Tanzsäle in Nordengland, wo die Experience einst spielten, und in feuchte Keller in Seattle, in denen Jimi Hendrix mit den Jungs aus dem Viertel Gitarre übte. Sie führte mich zu den staubigen Akten des Einwohnermeldeamts und auf Friedhöfe wie den Greenwood Memorial, wo ich zusah, wie die Schaufel schließlich auf Lucille Hendrix’ Stein von der Wohlfahrtsbehörde stieß – kein Grabstein, sondern wirklich nur ein Backstein, über dem eine gut dreißig Zenti­meter dicke Schicht Erde lag. Nachdem der Friedhofsarbeiter lange genug gegraben hatte, war das Grab von Jimis Mutter zum ersten Mal seit mehreren Jahrzehnten wieder freigelegt. Als Jimis Bruder Leon den Stein, der die Totenstätte kennzeichnete, zum ersten Mal sah, weinte er. Leon hatte nie den genauen Ort gekannt, an dem die Überreste seiner Mutter bestattet waren.

Im Keller von Al Hendrix gab es ein anderes Erinnerungsstück an Jimi Hendrix, das auf gewisse Weise beerdigt war. Es lag versteckt in einer Ecke und wurde nur für die wahrhaft Gläubigen hervorgezogen. Es war ein sechzig mal einhundertzwanzig Zentimeter großer Spiegel, den Jimi selbst gebastelt hatte. Al konnte sich Daten schon immer schlecht merken, aber auch Jimis Bruder Leon behauptete, Jimi habe den Spiegel irgendwann 1969 gebastelt. „Der war in Jimis New Yorker Wohnung“, erinnert sich Leon, „und wurde, nachdem Jimi gestorben war, zu meinem Vater geschafft.“

In dem Rahmen sitzen zirka fünfzig in Gips eingelassene Spiegelscherben, genau so, wie sie in dem Moment, in dem der Spiegel brach, angeordnet gewesen sein mussten. Die Scherben deuten alle in die Mitte, wo ein unversehrtes, tellergroßes, rundes Spiegelstück angebracht war. „Das“, sagte Al Hendrix, als er das an Salvador Dalí erinnernde Kunstwerk aus der Ecke zog, „war Jimis ‚Room Full Of Mirrors‘.“

„Room Full Of Mirrors“ ist der Titel eines Songs, den Hendrix 1968 zu schreiben begann. Er notierte mehrere frühe Textentwürfe zu der Melodie und nahm verschiedene Fassungen davon auf. Zu Jimis Lebzeiten wurde der Song nie offiziell veröffentlicht, aber Hendrix dachte daran, ihn auf sein viertes Studioalbum zu nehmen. Wie dieser Song zeigt, besaß Jimi ein außergewöhnliches Maß an Selbsterkenntnis und eine fast unheimliche Fähigkeit, emotionale Wahrheiten in Musik auszudrücken. Obwohl das Publikum bei Hendrix-Konzerten seine theatralischen Hits wie „Purple Haze“ forderte, zog es Jimi privat eher zu nachdenklicheren, stilleren Songs wie „Room Full Of Mirrors“ oder den Bluesstandards, mit denen er aufgewachsen war.

Der Song „Room Full Of Mirrors“ erzählt die Geschichte eines Mannes, der in einer selbstreflexiven Welt gefangen ist, die er als so überwältigend empfindet, dass sie ihn bis in seine Träume hinein verfolgt. Er befreit sich, indem er die Spiegel zerschlägt, verletzt sich dabei allerdings und wendet sich an einen „Engel“, der ihm die Freiheit schenken kann. Hält man den greifbaren Ausdruck dieser Vorstellung in Händen – den zerbrochenen Spiegel, den Jimis Vater im Keller aufbewahrt –, denkt man unwillkürlich an die Komplexität des Mannes, der diesen Song schrieb, und an den Tag, an dem Jimi Hendrix sein Spiegelbild in jenen fünfzig Scherben betrachtete. „All I could see was me“, sang er in dem Song, „alles, was ich sehen konnte, war ich selbst.“

Charles R. Cross

Seattle, Washington, April 2005

Jimi Hendrix

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