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ОглавлениеKapitel sieben
Spanish Castle Magic
Seattle, Washington
November 1960 bis Mai 1961
„Das ‚Spanish Castle‘ war zur Zeit der Rock’n’Roll-Shows das Walhalla im Nordwesten. Wenn man es da geschafft hatte, hatte man es geschafft.“
— DJ Pat O’Day aus Seattle
Jimi Hendrix brauchte, anders als er es 1968 in seinem Song „Spanish Castle Magic“ schrieb, keinen „halben Tag“, um zum Spanish Castle, dem legendären Tanzclub, zu gelangen. Vom Central District aus dauerte die Autofahrt dorthin lediglich eine Stunde. Die Fahrt zu dem Club in Kent, Washington, war jedoch karriereentscheidend, denn das Castle war die wichtigste Tanzhalle im Nordwesten, und jeder Musiker aus der Gegend träumte davon, dort zu spielen. Hendrix besuchte den Club das erste Mal 1959, um die Fabulous Wailers zu sehen, die damals beliebteste Band im Umkreis, und er kehrte, so oft er konnte, zurück. Das Castle war 1931 zum Tanzsaal umgebaut worden und groß genug für bis zu zweitausend Gäste. Ausstaffiert mit schicken Neonlampen und einer Stuckfassade mit kleinen Türmchen, sicherte sich der Veranstaltungsort seinen Platz in der Geschichte des Nordwestens, als die Fabulous Wailers 1961 ihr Livealbum At The Castle herausbrachten. DJ Pat O’Day buchte die meisten großen Shows dort. „Das Spanish Castle war zur Zeit der Rock’n’Roll-Shows das Walhalla im Nordwesten“, sagt er. „Das war der angesagteste Laden, und jede Band aus der Gegend wollte auf dieser Bühne spielen.“
Das erste Mal stand Jimi auf der Bühne des Castle, als die Rocking Kings dort Ende 1960 im Vorprogramm einer anderen Band spielten. Der Auftritt selbst war nicht besonders bemerkenswert, da die Band nervös war, aber Ende 1960 bekamen die Rocking Kings schon einigermaßen interessante Engagements. Sie hatten auf dem Seafair-Festival in Seattle gespielt und den zweiten Platz bei einem Amateurwettbewerb belegt, dem „All State Battle of the Bands“.
Obwohl das Publikum im Castle größtenteils weiß war, war es ein gemischter Club, und viele der weißen Musiker aus der Gegend beschäftigten sich mit R & B und Jazzmusik. „Die Szene im Nordwesten war sehr stark von der afroamerikanischen Kultur beeinflusst“, erinnert sich Larry Coryell, der seine Karriere bei den Checkers begann, einer beliebten Gruppe aus dem Castle. „Die Musik im Nordwesten besaß Originalität, was vor allem daran lag, dass Seattle geografisch so isoliert war. Daher wurde der dreckige R & B der Wailers, der Frantics und der Kingsmen zu einem ganz eigenen Heimatsound.“
„Louie, Louie“ wurde zum Markenzeichen der Gegend und auf beinahe jedem Konzert gespielt, egal, welche Band auftrat. Der Text mag unverständlich gewesen sein, aber der energische Beat des Songs – der von Richard Berrys beinahe calypsoartigem Original abgeleitet worden war – war entschieden tanzbar. Der „dreckige“ Sound, von dem Coryell spricht, entstand teilweise durch das Low-Fi-Equipment, das auf höchste Lautstärke aufgedreht wurde, war aber auch Ergebnis einer gewissen Experimentierfreudigkeit. „Wir haben sogar die Röhren aus den Lautsprechern rausmontiert, sie mit Handtüchern umwickelt und Zahnstocher in die Basslautsprecher gesteckt, damit ein richtig fieses Feedback entsteht“, erinnert sich Jerry Miller, der später bei Moby Grape spielte. Jimis Experimente mit Verzerrern fingen ungefähr zu dieser Zeit an, als er einmal seinen Verstärker fallen ließ und feststellte, dass die Ruckelei den Sound seiner Gitarre beeinflusste.
Keine Band war besser darin, „schmutzig, aber cool“ zu sein, als die Fabulous Wailers aus Tacoma. Obwohl sie alle weiß waren, hatten die Wailers einen ausgefeilten eigenen, innovativen R&B-Sound geschaffen, und ihr Gitarrist Rich Dangel hatte großen Einfluss auf Jimi. Dangel erinnert sich, dass Jimi nach einem Auftritt im Castle zu ihm kam und ihm Komplimente wegen seines Gitarrenspiels gemacht habe. „Er war ein schüchterner Junge, aber er hat ganz klar versucht, mir zu schmeicheln“, sagt Dangel. „Er bot an, einzuspringen, wenn wir mal einen weiteren Gitarristen bräuchten.“ Oberflächlich betrachtet, war die Idee natürlich absurd, aber es wurde deutlich, dass der einst so schüchterne Jimi anfing, Werbung für sich selbst zu machen. Nicht viele afroamerikanische Gitarristen spielten im Castle, und Jimi wäre in diesem Zusammenhang sicherlich aufgefallen.
Die Geschichten darüber, wie Jimi backstage im Castle herumhing, sind legendär. Pat O’Day erzählt folgende am häufigsten: „Da war so ein schwarzer Junge, der da immer rumhing. Er kam zu mir und fragte sehr höflich: ‚Mister O’Day? Wenn bei jemandem der Verstärker kaputtgeht, ich hab einen im Kofferraum meines Wagens. Das ist echt ein richtig guter. Aber wenn ihr ihn benutzt, dann will ich auch spielen dürfen.‘“
Damals explodierten bei Verstärkern häufig die Röhren. Jimis Vorschlag kam einer kleinen Erpressung gleich: Wenn ihr meinen Verstärker haben wollt, dann müsst ihr mich dazunehmen. Wenn an der Geschichte etwas Wahres dran ist – O’Day buchte später Konzerte für die Jimi Hendrix Experience, und er und Jimi schwelgten oft in nostalgischen Erinnerungen an das Spanish Castle –, so ist diese mit Sicherheit stark übertrieben, da Jimi keinen Wagen besaß und sein einziger Verstärker sein Silvertone war, den kein Musiker als „echt gut“ bezeichnet hätte. Sein Freund Sammy Drain erinnert sich, dass einer der Jungs aus der Nachbarschaft einen steinalten Mercury hatte, mit dem sie manchmal zum Castle fuhren. „Als Jimi diese Zeile von wegen ‚half a day away‘ – einen halben Tag entfernt – schrieb, meinte er die Fahrten, bei denen das Auto liegen blieb, denn manchmal dauerte es tatsächlich einen halben Tag, um dorthin zu kommen“, sagt Drain.
Unzuverlässige Autos gehörten zum beunruhigenden Teil der Erfahrungen, die er mit den Rocking Kings machte. So hatten sie zum Beispiel kurz vor der kanadischen Grenze eine Autopanne, die sie wegen eines gut bezahlten Auftritts in Vancouver überqueren mussten. Schließlich gaben sie spontan ein Konzert in Bellingham, Washington, bis die örtliche Polizei die Vorstellung beendete. Trotz ihrer Anstrengungen kehrte die Band mit nicht mehr als dem Geld für den Bus nach Seattle zurück. Die ursprüngliche Gruppe löste sich nach dieser katastrophalen Beinahetournee auf, obwohl der Manager James Thomas die Band erneut gründete und Jimi dabei eine wichtigere Rolle zuwies, indem er ihn im Hintergrund singen ließ. Jimi hatte bis zu diesem Zeitpunkt kaum gesungen und behauptete, seine Stimme sei zu schwach. Thomas gab der Band den neuen Namen Thomas and The Tomcats und übernahm selbst die Aufgaben eines Frontmanns. In dieser Zusammensetzung bekam die Band ein paar Engagements in Städten auf dem Land, weit außerhalb von Seattle, wobei auch diese Auftritte wieder von Problemen mit dem Wagen gefährdet wurden. Bei einem Konzert im Osten Washingtons verdiente die Band fünfunddreißig Dollar, was für Jimi einen Anteil von sechs Dollar für ein Wochenende Arbeit bedeutete. Doch das ländliche Publikum liebte die Band, besonders Jimis Solo bei „Come On“ von den Earl Kings, das inzwischen Höhepunkt der Show der Tomcats war. Auf der Heimfahrt war die Band ausgelassener Stimmung, bis sie östlich von Seattle in einen Schneeschauer geriet. „Es war ungefähr vier Uhr morgens“, erinnert sich Lester Exkano, „und wir saßen im Neunundvierziger-Studebaker von James Thomas. Alle waren müde, also fuhren wir seitlich ran und schliefen ein bisschen, in der Hoffnung, es würde zu schneien aufhören. Als sie zwei Stunden später aufwachten, hatte sich der Schneeschauer in einen ausgewachsenen Schneesturm verwandelt, und sie fürchteten zu erfrieren, wenn sie nicht weiterführen. Exkano saß am Steuer, als der Wagen von der Straße abkam, in einen Graben rutschte und sich überschlug. Niemand wurde verletzt, aber die jungen Männer hatten einen Riesenschreck bekommen.
Bei Jimi jedoch saß der Schreck noch tiefer. Er verkündete, er habe die Nase voll davon, mitten in der Nacht in abgewrackten Autos herumzufahren. „Ich hab genug von der ganzen Scheiße“, erklärte er seinen verblüfften Bandkollegen. Und damit legte er sich in den Schnee und ruderte mit Armen und Beinen. Die anderen trotteten die Straße hinauf, auf der Suche nach einem Abschleppwagen. Als sie eine Stunde später wiederkamen, lag Jimi noch immer im Schnee, hatte den Mantel über den Kopf gezogen und schien leblos. „Wir haben im Ernst gedacht, er sei erfroren“, erinnert sich Exkano. Als Lester prüfen wollte, ob Jimi noch Lebenszeichen von sich gab, sprang dieser auf und schrie: „Reingelegt! So leicht bringt ihr mich nicht um!“
* * *
Die meisten von Jimis Freunden machten im Frühjahr 1961 ihren Highschoolabschluss. Für junge Afroamerikaner gab es nur wenige freie Stellen, die meist auf das Dienstleistungsgewerbe beschränkt blieben. Und selbst dort waren viele – Verkäufer im Warenhaus zum Beispiel – tabu für Schwarze. Erst in den Fünfzigerjahren durften Schwarze Kleidung in einem Kaufhaus in der Innenstadt von Seattle kaufen, sie aber nicht vorher anprobieren. Da ihre Zukunftsaussichten bescheiden waren, gingen mehrere von Jimis Freunden, darunter auch Terry Johnson und Jimmy Williams, wie die meisten afroamerikanischen Männer aus dem Viertel nach der Highschool zur Armee.
Da er ohne Abschluss von der Schule abgegangen war, waren Jimis Berufsaussichten noch bescheidener als die der Meisten. Er hatte keinerlei Arbeitserfahrung, sieht man von seiner Aushilfstätigkeit an der Seite seines Vaters und den Engagements mit Bands einmal ab. Wenn er zufällig in jenem Frühjahr Freunde traf, die ihn fragten, ob er einen Job habe, erwiderte er stets, die Tomcats seien sein Job. Außer seiner Gitarre und seinem Verstärker besaß er nichts, doch diese beiden kostbaren Güter reichten ihm, um sich eine Karriere als Gitarrist auszumalen. Als Hank Ballard and The Midnighters im Rahmen einer Tournee in die Stadt kamen, ergatterte Jimi Freikarten und besuchte das Konzert mit seiner Gitarre auf dem Schoß. Danach stellte er Ballards Gitarristen nach, weil er Licks von ihm lernen wollte, und lief ihm so lange hinterher, bis dieser schließlich nachgab. Jimi hatte angefangen, seine Karriere ernsthaft voranzutreiben. Er mochte knapp bei Kasse sein, doch an Ehrgeiz und Mut fehlte es ihm nicht. Selbst zur erfolgreichsten Zeit mit den Tomcats verdiente Jimi weniger als zwanzig Dollar monatlich, und der Großteil seines Verdiensts floss in Ausrüstung und Bühnenklamotten. Jimi war achtzehn und vor dem Gesetz erwachsen, finanziell jedoch war er noch immer von seinem Vater abhängig.
Irgendwann im Frühjahr geriet Jimi in den Dunstkreis einer anderen künftigen Berühmtheit: Bruce Lee. „Das war im Imperial Lanes unten auf der Rainier Avenue“, erinnert sich sein ehemaliger Mitschüler Denny Rosencrantz. Damals war Lee wegen seiner Karatevorführungen und dafür bekannt, dass er gern auf dem Parkplatz vor der Bowlinghalle Schlägereien vom Zaun brach. Jimi war ebenfalls dort, um seinen Freunden beim Bowlen zuzusehen – er selbst hatte nicht genug Geld. Doch abgesehen davon, dass er Lee die Hand schüttelte, hatte er wahrscheinlich mit dem Mann, der schon bald zur Kampfsportlegende werden sollte, wenig zu tun.
Jimis Verhältnis zu seinem Vater blieb auch in diesem Frühjahr schwierig. Al hatte den Eindruck, sein Sohn sei faul, und man konnte es drehen und wenden, wie man wollte, Jimi war inzwischen ein Mann, weshalb Al seine Kritik auch immer lauter formulierte. „Mein Dad fand Jimis Vorstellung, Musik zu machen, scheiße“, erinnert sich Leon. „Er sagte wortwörtlich, Musik sei ‚Teufelswerk‘.“ Al wollte noch immer, dass ihm sein ältester Sohn in die Gärtnerei folgte. Jimi aber hasste die körperlich anstrengende Arbeit, und die Vorstellung, Assistent seines Vaters zu werden, war ihm ein Gräuel. Wenn er seinem Vater doch einmal widerwillig half, so schuf die gemeinsame Arbeit dennoch kein Band zwischen ihnen, und Jimi beschwerte sich, dass Al ihm immer nur einen Dollar auszahlte. Jimi und Leon ahmten beide die raue Stimme ihres Vaters nach und sagten: „Da hast du einen Dollar.“ Im Frühjahr 1961 beobachtete einer von Als Kunden in der Gärtnerei, wie Al Jimi schlug. In einem Interview von 1967 sprach Jimi über den Vorfall: „Er hat mich ins Gesicht geschlagen, und ich bin abgehauen.“ Leon erinnert sich, dass Jimi auch noch mit achtzehn Jahren von Al mit dem Gürtel „ausgepeitscht“ wurde.
Selbst in den Augen der anderen Mitglieder der Rocking Kings – von denen keiner aus einem privilegierten Elternhaus kam – war Jimi außergewöhnlich arm. Terry Johnson arbeitete in einem Burger-Laden direkt gegenüber der Garfield High, und Jimi kam öfter vorbei, um sich etwas umsonst zu essen zu holen. Jimi erfuhr von Terry, dass nicht verkaufte Burger und Fritten nach Ladenschluss einfach weggeworfen wurden. Selbst wenn Terry nicht arbeitete, ging Jimi kurz vor der Schließung hin und fragte nach, ob Essen übrig geblieben sei, das weggeworfen würde. Zunächst waren die Angestellten erschüttert, weil ein Junge, den sie aus der Schule kannten, bei ihnen bettelte. Aber schon bald begriffen sie, in welch bedauernswerter Situation Jimi sich befand, und legten täglich nicht verkaufte Burger für ihn zur Seite. Manchmal hatte Jimi das Glück, ein halbes Dutzend Burger mit nach Hause nehmen zu können. Bei zahlreichen anderen Gelegenheiten jedoch verschlang er gierig wie ein verhungerndes wildes Tier, das, was er bekommen hatte, gleich dort auf dem Parkplatz. Beim Essen blickte er auf die Highschool, die er nicht mehr besuchte.
Jimi war weiterhin mit Betty Jean Morgan zusammen, obwohl er sie meistens nur in den Park ausführen konnte. Dennoch fragte Jimi sie im Frühjahr, ob sie ihn heiraten wolle. Es war ein spontanes Ansinnen, und weder Betty Jean noch ihre Eltern zogen eine solche Möglichkeit ernsthaft in Betracht. „Meine Mutter sagte, ich würde warten müssen, bis ich meinen Abschluss hätte, und das bedeutete mindestens bis 1963“, erinnert sie sich. Obwohl ihre Eltern Jimi mochten, hofften sie aller Wahrscheinlichkeit nach, er würde einen Job finden, bevor er mit ihrer Tochter den Bund der Ehe schloss.
Als Jimi Anfang Mai in Polizeigewahrsam genommen wurde, war von Heirat keine Rede mehr. Am 2. Mai 1962 wurde er verhaftet, weil er einen gestohlenen Wagen fuhr. Er wurde in den Jugendknast gesteckt, genau gegenüber der Wohnung, in der er ein Jahr zuvor noch gewohnt hatte. Als Al kam, um ihn auszulösen, erzählte er seinem Vater, er habe nicht gewusst, dass der Wagen gestohlen war, und dass er zum Zeitpunkt seiner Verhaftung geparkt hatte. Al schrieb in seiner Autobiografie, die Angelegenheit sei rasch ausgebügelt worden, und Jimi habe „keine Strafe absitzen“ müssen. Die Polizeiakten erzählen allerdings eine andere Geschichte: Jimi verbrachte wegen dieses ersten Vergehens einen Tag im Gefängnis, er wurde entlassen und nur vier Tage später erneut verhaftet, weil er wieder in einem gestohlenen Wagen erwischt worden war. Die zeitliche Nähe zwischen beiden Verhaftungen gab nicht gerade Anlass zur Nachsicht, als Jimi das zweite Mal dem Haftrichter vorgeführt wurde. Die folgenden acht Tage verbrachte er im Jugendgefängnis. Die Woche im Knast war nicht das Ende der Angelegenheit, da Jimi noch eine Gerichtsanhörung bevorstand, bei der er offiziell zu einer empfindlichen Strafe verurteilt werden sollte.
Der Polizeibehörde in Seattle wurde wiederholt vorgeworfen, es damals vorwiegend auf schwarze Männer abgesehen zu haben. „Die Bullen haben einen angehalten, wenn man bloß die Straße langgelaufen ist“, erinnert sich Terry Johnson. 1955 hatte der Bürgermeister von Seattle einen Untersuchungsausschuss gebildet, um gewaltsame Verstöße der Polizei im Central District zu untersuchen. In seinem Bericht kam der Ausschuss zu dem Schluss, dass bei der Polizei die Ansichten „alle Neger haben Messer“ und „ein Neger in einem Cadillac ist entweder Zuhälter oder Drogendealer“ weit verbreitet seien. Jimi schwor, er habe keinen der beiden Wagen gestohlen, noch habe er gewusst, dass sie gestohlen waren. Dennoch blühten ihm für jedes der beiden ihm vorgeworfenen Vergehen jeweils fünf Jahre Haft.
Obwohl Jimi ein Träumer war, konnte er sich doch selbst in seinen wildesten Träumen nicht vorstellen, wie er in Seattle als Musiker seinen Lebensunterhalt verdienen sollte. Er hatte bereits Interesse signalisiert, der Armee beizutreten, und als sein Gerichtstermin bedrohlich näher rückte, zog er diese Möglichkeit ernsthaft in Erwägung, da die Staatsanwaltschaft eine Verpflichtung bei der Armee strafmildernd wertete. Jimi hatte bereits im Frühjahr zuvor versucht, mit Anthony Atherton der Air Force beizutreten. „Die haben uns im Büro nur einmal kurz angeguckt“, erinnert sich Atherton, „und gesagt, wir besäßen nicht die körperlichen Voraussetzungen, um der Fliehkraft in einem Flugzeug standzuhalten.“ Ausschlaggebender war wahrscheinlich, dass die beiden jungen Männer schwarz waren. Damals gab es nur wenige afroamerikanische Piloten in der Air Force.
Jimis zweite Wahl war die Armee. Er ging in ein Rekrutierungsbüro und erkundigte sich, ob er zur One Hundred and First Airborne Division kommen könnte, sollte er sich entschließen, sich zu verpflichten. Er hatte in Geschichtsbüchern über die One Hundred and First gelesen und das berühmte „Screaming Eagle“-Abzeichen in sein Notizbuch gezeichnet. „Immer wieder hat er gesagt, dass er sich so ein Abzeichen verdienen wollte“, erinnert sich Leon. Das Abzeichen selbst wurde für Jimi zur fixen Idee, da es seinem Träger eine Identität versprach. Für einen Jungen, der in seiner Kindheit kein stabiles Zuhause gekannt hatte, stellte die Insignie eine starke Verlockung dar.
Bei einer Anhörung vor dem Jugendgericht am 16. Mai 1961 wurde Jimi von einem Pflichtverteidiger vertreten. Der Staatsanwalt stimmte einer zweijährigen Bewährungsstrafe unter der Bedingung zu, dass sich Jimi bei der Armee verpflichtete. Die Verurteilung wurde in sein polizeiliches Führungszeugnis aufgenommen. Am Tag darauf verpflichtete sich Jimi für drei Jahre. Am 29. Mai sollte er mit dem Zug nach Fort Ord in Kalifornien reisen und dort seine Grundausbildung antreten. Mit etwas Glück würde er bei der sagenumwobenen One Hundred and First Airborne Division aufgenommen, jener Division, die am D-Day mit Fallschirmen hinter den feindlichen Linien gelandet war. Abgesehen von ein paar Ausflügen als Kleinkind, hatte sich Jimi nie weiter als dreihundert Kilometer von Seattle entfernt. Er hatte noch nie in einem Flugzeug gesessen, geschweige denn, dass er aus einem herausgesprungen war.
Am Abend vor seiner Abreise zur Grundausbildung gab Jimi ein letztes Konzert mit den Tomcats. Die Band spielte bei einem Straßenfest auf der Madison Street auf einer Bühne unter freiem Himmel, direkt gegenüber dem Birdland, jenem Club, in dem Jimi beinahe drei Jahre zuvor mit den Velvetones angefangen hatte. Leon befand sich unter den Zuschauern, da er den letzten Auftritt seines großen Bruders mit der Band sehen wollte, ebenso wie Betty Jean Morgan. Nach dem Konzert schenkte Jimi Betty Jean einen billigen Ring mit einem Strassstein, den er gekauft hatte, und verkündete, es sei ein Verlobungsring. Er bat Betty Jean, auf seine geliebte Gitarre aufzupassen, bis er sie sich würde schicken lassen können – eine Bitte, die wahrscheinlich mehr Zuneigung und Hingabe verriet als der Ring.
Zu dem Straßenfest erschienen mehrere hundert Leute, darunter auch eine Reihe von Schulfreunden und Kumpel aus dem Viertel, mit denen Jimi in den achtzehn Jahren zu tun gehabt hatte, die er in Seattle gelebt hatte. Eine davon war Carmen Goudy, die mit ihrem neuen Freund kam. Es gab kein böses Blut zwischen Carmen und Jimi, auch beobachtete sie ihn auf der Bühne keineswegs mit gemischten Gefühlen. Als einer der wenigen Menschen jedoch, die seinen allerersten öffentlichen Auftritt im Keller einer Synagoge miterlebt hatten – jener Veranstaltung, bei der er gefeuert wurde –, konnte sie nicht umhin, anerkennend zur Kenntnis zu nehmen, wie sehr sich sein Können in so kurzer Zeit verbessert hatte. Er spielte inzwischen mit großer Selbstsicherheit, und obwohl seine Soli noch immer viel zu protzig wirkten, spielte er mit einem Elan, der das Publikum zwang, hinzuhören. „Er spielte noch immer sehr wild“, erinnert sie sich, „aber er war gut. Er war richtig gut.“
Am nächsten Tag fuhr er mit dem Nachtzug nach Kalifornien. Fünfzehn Jahre zuvor hatte er mit seiner Großmutter Clarice und seiner Mutter Lucille auf dem Weg nach Berkeley dieselbe Strecke zurückgelegt. Für den damals Dreijährigen war der Zug eine wundersame Kraftmaschine gewesen, als Erwachsener fühlte er sich bereits einsam, noch bevor der Zug den Bahnhof verlassen hatte. Jimi hatte seine gesamte Jugendzeit in Laufweite des Bahnhofs verbracht, und nun sollte ihn der Zug in den Süden bringen, weit entfernt von dem einzigen Ort, den er je Heimat hatte nennen können.