Читать книгу Eines Morgens in Paris - Charles Scott Richardson - Страница 10

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In einer überfüllten Genfer Trambahn blickten die Abendpendler, deren Ellbogen angestoßen, Zeitungen zerknittert wurden, ärgerlich auf und sahen jemand zur hinteren Tür eilen. Sie wandten sich ohne einen weiteren Gedanken wieder ihrer Lektüre zu. Der junge Mann stolperte auf die Straße.

Er sammelte sich, gab dem quer vor seiner Brust hängenden Rucksack einen Klaps und vergrub die Hände in seinen Manteltaschen. Erleichtert darüber, nichts vergessen zu haben, stemmte er die Schulter gegen eine Windböe, während die Tram in die Dämmerung davonfuhr.

Er fand in einem nahe gelegenen Park eine Bank. Eine Frau und ein kleines Kind, beide eingemummt gegen die Kälte, hasteten vorbei. Er schaute ihnen nach, während er das Kinn in seinen hochgeklappten Kragen senkte. Die beiden bogen um die Ecke und verschwanden.

Er zog seine Handschuhe aus und blies sich auf die Finger. Er holte ein Skizzenbuch aus dem Rucksack und legte es sich, behutsam, als könnte schon die bloße Luft das Papier zersetzen, auf den Schoß. Er kramte in seinen Taschen nach einem Federmesser, zog einen Bleistift aus seinem Jackett, ließ den Blick noch einmal durch den Park gleiten. Er fing an, den Bleistift anzuspitzen.

Während er das Resultat mit dem Daumen prüfte, schloss der junge Mann die Augen und malte sich seine linke Hand aus, wie sie über einem frischen Blatt schwebte.

Eine zaghafte Linie, die beginnende Kurve einer liegenden Gestalt.

Zwei weitere Striche, sich spiegelnde Bogen: einer für die Schultern, einer für die Taille, in gegensätzlichen Winkeln zur Körperlinie gezogen.

Die Beine. Eine Linie, die von der Hüfte abzweigt, die andere erhoben und zu einem Gipfel gebogen. Arme: der rechte angewinkelt, um das Gewicht des Oberkörpers zu stützen, der linke ausgestreckt, auf dem künftigen Knie ruhend. Dann rasche Striche, Andeutungen von schlanken Fingern, die sich von entspannten Händen fortsetzen.

Und jetzt der Kopf. Ein einfaches Oval: entspannt, leicht zur Seite geneigt. Wie ins Gespräch vertieft.

Der junge Mann steckte seine Zeichenhand in die Achselhöhle. Er betrachtete mit zusammengekniffenen Augen das Oval, neigte seinen Kopf entsprechend, spürte die Steifheit seines Nackens.

Er lechzte nach Anatomieunterricht. Nach einer Staffelei und einem Platz in einem Kreis von Mitschülern. Danach, dass ein Lehrer ihm, während er malte, über die Schulter sah: ihm Zuspruch bot, einen behutsamen Ratschlag zu seiner Technik gab, oder vielleicht sogar seine Kurskameraden aufforderte, einen Kreis zu bilden und einem künftigen Mitglied der Akademie bei der Arbeit zuzuschauen.

Der junge Mann dachte an seine Mutter, an ihr sorgenvoll verkniffenes Gesicht, sollte sie von seinen Ambitionen erfahren. Und an seinen Vater, der anderer Leute Konten führte und sich für seinen Sohn ein vornehmes Leben erträumte.

Das Gesicht. Eine Mittellinie senkrecht durch das Oval, für die Augen eine Horizontale. Zwei weitere: die Linie des Mundes; die Spitze einer Nase, die zuletzt gerade und schön werden sollte. Radiergummistriche, um die Kieferpartie zu schärfen und die Wangen zu höhlen. Und die Augen. Tief liegend, von der Stirn beschattet. Kräftige Striche bezeichneten die Lidfalten; dünne Linien wurden zu Wimpern. Jede Pupille wird Schicht um Schicht immer dunkler, ein winziger Fleck bleibt ausgespart für den Lichtreflex.

Er lechzte nach Kunst. Danach, dass die Zeichnungen in seinem Skizzenbuch irgendwie zum Leben erwachten. Dass seine Energie, seine Sinneseindrücke auf einer Leinwand wirbelten und kreisten. Nach einer Traumstadt, die er über seinem Bett angepinnt hatte: Postkartenparks, von einem Malerlicht gewärmt.

Der junge Mann signierte das Blatt in der Ecke.

Jacob Kalb, Dezember 1907.

Ein Sonnabend im folgenden August. Der Paris-Express aus Genf fuhr mit zwanzigminütiger Verspätung ein. Der Himmel konnte nicht mehr an sich halten, ein Sommerregen prasselte in Wellen über das verglaste Dach des Bahnhofs. Die Waggons der dritten Klasse blieben draußen im Wolkenbruch stehen.

Jacob Kalb, eine vollgestopfte Reisetasche unter den Füßen und die Knie unter dem Kinn, fertigte noch rasch eine letzte Skizze der alten Frau jenseits des Mittelganges. Seit der französischen Grenze hatte er eine passable Darstellung der pockennarbigen Wangen, der Falten um ihren geschürzten Mund hinbekommen. In kleinen Vignetten hatte er Studien ihrer Hände und arthritischen Finger angefertigt. Auf dem Blatt sahen ihre Haare aus wie eine Explosion von Drahtleitungen, die unter ihrem Hut hervorquoll.

Der Zugbegleiter versicherte allen, dass der Regen jeden Moment aufhören würde; in die Bahnhofshalle sei es nur ein kurzer Fußweg. Jacob überprüfte den Inhalt seiner Taschen. Das Geld aus der Blechdose unter seinem Bett und die Adresse einer Pension, die er in einem alten Reiseführer gefunden hatte, waren noch immer da, wohin er sie an dem Morgen gesteckt hatte. Er schob sich das Skizzenbuch in den Mantel. Der Schaffner griff an den Schirm seiner Mütze.

Willkommen in Paris, Monsieur. Vorsicht, Stufe.

Vor dem Bahnhof standen Pferdeomnibusse herum; ein, zwei Motorwagen schnauften vorüber. Jacob blickte in geschätzt westliche Richtung und hielt nach Wahrzeichen Ausschau, nach etwas, das er von der Wand seines Schlafzimmers her wiedererkannte. Der Regen hörte so abrupt auf, wie er angefangen hatte; schon dampfte das Kopfsteinpflaster. Er zog den Stadtführer aus der Manteltasche, versuchte, das Labyrinth von Straßen zu entwirren.

Als die bevorzugte Fortbewegungsart des typischen Parisers, gab der Führer zu bedenken, gilt das Zu-Fuß-Gehen. Jacob zog seine Schnürsenkel straffer, schulterte seine Reisetasche und stieg über einen frischen Haufen Pferdemist.

Mittlerweile hatte seine Mutter das Kuvert – an ihren kostbarsten Besitz, die Fotografie eines verkrampften, unglücklichen Kleinkindes, gelehnt – vermutlich gefunden. Jacob erinnerte sich, wie sie den Nachbarinnen wieder und wieder erzählt hatte, wie kostspielig die Fotografie gewesen war.

Jetzt las sie wohl den Brief: mit ihrer gewohnten stoisch gefurchten Stirn, mit einem an Tränen erstickten Räuspern, nach einem Taschentuch kramend. Jacob konnte ihre Stimme hören, so als sei sie ihm aus dem Bahnhof gefolgt. Aber warum hier, Jacob? So ein Wahnsinn. Diese Stadt ist kein Ort für einen Jungen. Und wer wird dir zu essen geben? Wo wirst du schlafen? Kannst du deine Bilder nicht auch zu Hause zeichnen? Dein Vater und ich könnten dich nach Paris schicken, wenn du ein, zwei Jahre älter bist, wenn es wirklich dein Wunsch ist.

Jacob rückte die Last auf seiner Schulter zurecht und wünschte, er könnte den Brief neu schreiben, noch etwas hinzufügen: Er sei schon älter, er würde sich melden, sobald er sich eingerichtet hatte, er würde schon jetzt ihren Spekulatius vermissen, er sei jetzt ein Mann, sie und Papa hätten ihn gut erzogen.

Er wusste, dass sein Vater, von der Bank heimgekehrt, zunächst schweigen würde; in seiner halbdunklen Ecke sitzen, taub für die Klagen seiner Frau, und sich fragen, wie er seinem besten Kunden erklären sollte, dass der Empfehlungsbrief, den er ihm zum Unterschreiben vorgelegt hatte – Sie werden sich an meinen Sohn erinnern, Monsieur. Seine Lehre in Ihrer Firma –, nicht mehr nötig sein würde.

Der Junge kommt schon zurecht, meine Liebe.

Jacob wünschte, sein Vater wäre da und würde seine Mutter am Arm ziehen, sie sanft zum Bahnhof zurückführen, damit er allein durch die Menschenmassen auf dem Boulevard gehen könnte.

Er widerstand der Versuchung, den Reiseführer wieder hervorzuholen. Und kein Freund des strebsamen Marsches ist unser Sohn der Lichterstadt, sondern jemand, der das größte Ergötzen darin findet, um seiner selbst willen zu flanieren, ohne Zuhilfenahme eines Stadtplans oder eines Kompasses, ja sogar ohne ein Ziel, welcher Art auch immer.

Nachdem er der Frau des Pensionsbetreibers eine Monatsmiete im Voraus für eine Dachkammer ausgehändigt und sich, zwei Stockwerke tiefer, in einen Trog erleichtert hatte, der das Klosett darstellte, stieg Jacob über das Bett und drapierte seine feuchten Sachen über einen Balken. Dann ließ er sich auf die dünne Matratze fallen und schlug sein Skizzenbuch an einer leeren Seite auf.

8.8.08. Angekommen. Am Montag in die Akademie.

Er skizzierte die Reste der Tapete, die abblätternden Überbleibsel dessen, was einmal ein freundliches Blumenmuster gewesen war. Irgendjemandes Vorstellung von einem Hauch von Heimeligkeit für müde Gäste.

Eines Morgens in Paris

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