Читать книгу Eines Morgens in Paris - Charles Scott Richardson - Страница 6

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Seinerzeit war der Vater des Bäckers ein gefeierter Mann gewesen, obwohl er keinen offiziellen Titel innehatte. Nie hatte an der Tür seines Ladens das Schild gehangen: SEHEN SIE ÉMILE NOTRE-DAME, DEN DÜNNSTEN BÄCKER VON PARIS! Ebenso wenig war ihm je eingefallen, sich diese Eigenschaft zunutze zu machen und im Schaufenster den Hinweis zu platzieren: UND DOCH, WIE RUND SIND SEINE BROTE!

Seine magere Erscheinung war Quelle endloser Debatten unter den Stammkunden, wenn sie um ihr täglich Baguette anstanden. Manche behaupteten, Monsieur könnte ebenso gut unsichtbar sein. Mit diesen Beinen ist unser lieber Émile mehr denn aller Ehren wert. Andere waren sicher, dass es unter den zahllosen Bäckern der Stadt auch dürrere Kandidaten geben musste. Daraufhin gab jemand zu bedenken, dass es nicht Monsieurs Statur war, die ihn ehrenwert mache. Unser Mann leistet einen vorbildlichen Dienst, sagte er, seinem Handwerk ebenso wie uns. Er steht zu unchristlichen Uhrzeiten auf, backt uns bei noch so schlechtem Wetter gutes Brot und reicht es mit einem Lächeln und einer Geschichte über den Ladentisch. Von mir aus könnte er aus Zahnstochern gebaut sein.

Am Ende waren sie sich alle einig, dass es – in Anbetracht der Lockungen von Butter, Hefe und Eiern – an ein Wunder grenzte, wie ein Bäcker in Frankreich überhaupt so schlank sein konnte.

Das Volumen der Bäckersfrau gab nie Anlass zu Diskussionen. Eine Frau von italienischer Abstammung und hitziger Religiosität, war Madame Immacolata Notre-Dame ansonsten von großzügiger Rundheit. Einzig ihr Kopf war klein: eine zierliche Kugel, bedeckt mit straff ins Genick gezogenem Haar, die durch die hochgeschlossenen Kragen von Madames Blusen umso kleiner wirkte. Niemand redete sie mit Immacolata an. Für alle war sie schlicht und fromm Madame; und ihr Émile war jedermanns Monsieur.

Die Bäckerei nahm das Erdgeschoss eines schmalen keilförmigen Gebäudes ein, das im ganzen Viertel als das Tortenstück bekannt war. So weit irgendjemand zurückdenken konnte, stand in verschnörkelten Holzbuchstaben über ihren Schaufenstern

BOULA GERIE NOTRE-DAME

, wobei das N schon immer gefehlt hatte.

Alle, die den Laden besuchten, waren sich darin einig, dass die Beschilderung ebenso charmant war wie das gequetschte Dreieck von Gebäude, das die Bäckerei beherbergte, und das Dick und Dünn von deren Besitzerehepaar. Dennoch gab es Forderungen, dass Monsieur eine Reparatur vornähme. Die aufgeregteren Stammkunden beharrten, Touristen könnten, wenn sie irgendwo falsch abbogen und sich außerstande sahen, Boula und gerie zu entschlüsseln, zum Herumlungern verlockt werden. Sie werden sehen, Monsieur, wie sich diese armen Geschöpfe zur Mutmaßung versteigen, das unterbrochene Wort könnte Kathedrale bedeuten. Was sie nur umso ängstlicher machen wird, weil sie sich fragen werden, ob sie überhaupt im richtigen Arrondissement sind. Dann werden sie ihre Koffer entleeren, auf der Suche nach Sprachführern und Stadtplänen. Und dann, Monsieur, wird das Unausweichliche geschehen: Unterwäsche und Strümpfe, und der Himmel weiß, was noch, werden über die ganze Straße verstreut.

Um diese Bedenken zu zerstreuen, dachte sich Monsieur dann eine Geschichte über das Verschwinden des Ns aus. Er fing etwa damit an, dass er behauptete, Napoleon selbst habe es geklaut. Der General erwachte dann in der Gestalt Monsieurs zum Leben: wie er eine wackelige Leiter hinaufkletterte, sich nach dem ersehnten Buchstaben reckte, störrische Nagelköpfe mit den Fingern herauspulte. Und mit jeder Nacherzählung änderte sich der Verbleib des verschollenen Konsonanten. Einmal tauchte er im Invalidendom auf, mit Tapetenkleister an den Deckel des Sarkophags des großen Mannes geklebt. Monsieur sprang von der letzten unsichtbaren Sprosse und verbeugte sich tief.

Sie dürfen es gern zurückholen, meine Freunde.

Dass die Bäckerei sich in einem Gebäude befand, das nach einem Süßgebäck benannt war, stellte eine Ironie dar, die niemandem entging. Seit Jahrhunderten herrschte in der Welt eine Ordnung, eine naturgegebene Aufteilung gastronomischer Handwerksberufe. Bäcker kneteten ihren Teig, Konditoren echauffierten sich über ihr Marzipan. Jeder blieb für sich, ärgerlich genug, wenn der Zufall ihn an des anderen Laden vorbeiführte. Wollte man seine Familie ernähren, ging man zur boulangerie. Das Gelüst nach einer Makrone bedeutete einen Gang zur pâtisserie, und zwar einen flotten. Die Ordnung war richtig: Jeder wusste, dass es Unsinn war, beim Obsthändler nach einem Kürbis zu fragen; Hunde und Katzen im selben Wurf bedeuteten das Ende der Zivilisation.

Aber wir leben in modernen Zeiten, beeilten sich die Stammkunden zu erinnern. Wir müssen uns ändern, so wie die Welt es tut, Monsieur.

Viel zu leichtfertig für Monsieurs Geschmack. Brot war der Stoff des Lebens, für ihn der Stoff von Generationen: Die Notre-Dames waren so lange schon Bäcker, wie es überhaupt Notre-Dames gab. Wir haben Könige und Waschfrauen gespeist, pflegte er zu verkünden. Unsere Brote haben zahnende Säuglinge beruhigt und Revolutionen ausgelöst. Ich frage Sie: Würden Sie etwa das Cassoulet Ihrer Großmutter mit einer Handvoll Aprikosenmarmelade auftunken? Ich hoffe, doch wohl nicht.

Nein. Monsieur würde eine Zunft, die älter als die Pyramiden war, nicht dadurch verraten, dass er mit Crèmes und Glasuren herumalberte. Andere mochten ihre Éclairs neben ihren Bauernbrötchen anbieten – um Himmels willen nicht in derselben Vitrine! –, aber derlei Verbrüderung war nicht sein Fall. Eher lasse ich mich mit Mousse ausstopfen, knurrte er, als dass ich anfange, Eischnee in eine Torte zu löffeln und als Erfolg meiner Bemühungen vier Wochen verdorbenen Magen auftische.

Die gesamte Kundschaft hielt treu zu diesem Glaubensbekenntnis, wenngleich es vorkam, dass, sollte Monsieur sich eine Pause von den Öfen gönnen und zu seiner Frau nach oben begeben, einem Stammkunden eine leise Anspielung auf Himbeertörtchen entschlüpfte.

Die Wände des Bäckerladens waren mit Allegorien geschmückt: Eine rotwangige Frau drückte ein Bukett von Weizenähren an ihren Busen; ein lachender Bäcker schniefte Duftwölkchen aus einem glühenden Backofen; geflügelte Kleinkinder stemmten Tabletts von Pains au Chocolat für die Frühstückstafel der Götter. Eine Vitrine zog sich über die ganze Länge des Ladens hin, die Reihen von Hefezöpfen, wie Liebende, Kurve für Kurve aneinander geschmiegte Croissants, mit den eingeritzten Initialen N-D versehene Landbrote und Baguettes in zweierlei Längen zur Schau stellte. Neben dieser Vitrine thronte die Registrierkasse, ein eisernes Ungetüm, das zum Öffnen der Schublade einen ordentlichen Fausthieb erforderte. Weidenkörbe standen überall herum, in ständiger Gefahr, umgestoßen zu werden, und überquellend von verschiedenerlei Roggenbrot, Weizenbrötchen mit süßen versteckten Rosinen und Monsieurs sanft würzigen Kräuterbrioches.

Über der Tür zum Keller und seinen Öfen hing ein Kalender, der ein einzigartiges, himmlisches Bier bewarb. Der Kalender zeigte ein in Rosa- und Violetttönen gehaltenes Porträt der Heiligen Maria höchstpersönlich mit ekstatisch verdrehten Augen und orangefarbenen Lichtstrahlen, die aus ihrem Kopf hervorbrachen. Eine goldene Flasche schwebte, in der heiligen Wärme schwitzend, in den Wolken über ihr.

Sobald der letzte Kunde bedient und verabschiedet war, stiegen Monsieur und Madame die Treppe zu ihrer Wohnung ins oberste Stockwerk des Tortenstücks hinauf. Morgen für dunklen Morgen runter und die Öfen anfeuern, den Marmor polieren, die Körbe aufstellen. Abend für Abend rauf nach Haus und ins Bett.

Der Notre-Dame’sche Haushalt war tragfähig, aber leicht abschüssig, ein auf Grund gelaufenes Boot bei Ebbe. Küche und Wohnzimmer waren ein einziger Raum, mit zwei abgewetzten Sesseln ausgestattet. Der Esstisch stammte aus einem Café in der Nähe des Tortenstücks, ein Hochzeitsgeschenk des Eigentümers. Der Badezimmerfußboden neigte sich zu einem Schlafzimmer hin, wo Monsieur mit Vergnügen das Bett verrückte, wann immer Madame die Kleiderschrankschublade aufzuziehen wünschte. Der Dachboden, zu erreichen über eine Wendeltreppe, die unerklärlicherweise von der Mitte der Wohnküche aufstieg, war eine Stätte ungehobelter Balken und mauselöchriger Ecken. Wenn sich Monsieur in einem bestimmten Winkel aus dem Dachbodenfenster lehnte und die Versammlung von Tauben verscheuchte, konnte er einen Ausblick über die Schornsteine des Arrondissements hinweg genießen.

St. Honoré, der Schutzheilige der Bäcker, starrte aus Gebetszetteln, die überall in der Wohnung angebracht waren. Eine von Papierstreifen, die Madames Lieblingsverse markierten, schon ganz aufgequollene italienische Bibel machte die komplette Notre-Dame’sche Bibliothek aus.

Wer erstmals, am hinteren Ende der morgendlichen Schlange, vor der Boulangerie Notre-Dame stand, konnte sich gut ablenken, bis er an die Reihe kam. Wenn er endlich den Laden betreten hatte, konnte er etwa die bemalten Kacheln bewundern. Oder zusehen, wie der Vorrat an Baguettes vor seinen Augen dahinschwand, und bangen, ob noch welche übrig sein würden, wenn er den Verkaufstisch erreichte. Oder seine Aufmerksamkeit auf Monsieur und Madame richten, die sich hinter der Vitrine tummelten. Ein ungleiches Paar, dachte der Neuankömmling dann vielleicht bei sich, tippte seinem Vordermann auf die Schulter und fragte, wie dieser merkwürdig magere Bäcker und seine gewichtige bessere Hälfte sich kennengelernt hatten. Köpfe drehten sich um, Kehlen räusperten sich, und das Bienenhaus der Bäckerei kam zum Stillstand.

Ein Stammkunde sagte dann, es war Erdbeer. Ein anderer erwiderte: Nein, es war Himbeer.

Wie Sie meinen, aber ich weiß genau, dass es nah beim Fluss geschah.

Im Park, wollen Sie sagen.

Monsieur legte dann vielleicht den Arm um Madames Taille. Wenn ich mich recht erinnere, waren wir auf dem Boulevard, sagte er.

Na dann, Monsieur, war es gewiss an einem Samstagabend.

Sonntagmittag, entgegnete darauf Madame, mit dem Anflug eines Lächelns, und legte den Kopf an die Schulter ihres Mannes. Ohne darauf zu achten, schlossen die Diskutierenden dann einen Kreis um den Neuen.

Sie müssen sich unseren Bäcker da vorstellen, wie er an seinem Ruhetag dahinschlendert, den Kopf –

wie üblich in den Wolken, damit beschäftigt, eine neue Geschichte zu ersinnen, als –

er an einer Konditorei vorübergeht und –

den Blick abwendet, wie es sich für einen anständigen Bäcker gehört, und –

so die junge Schönheit übersieht, die gerade aus dem Geschäft herauskommt.

Madame sah dann ihren Mann an. Ich aß gerade ein Törtchen, nicht wahr?

Monsieur küsste seine Frau auf die Wange. Eine Leckerei, sagte er dann. Nach der Messe.

So ereignete sich der unvermeidliche Zusammenstoß: durch den Monsieur im Rinnstein landete, Madame den größten Teil des Törtchens über das Gesicht geschmiert bekam. Er sprang auf, kampfbereit, und wandte sich seinem Gegner zu. Und da stand sie, richtete ihr Schultertuch, wischte sich Vanillepudding vom Kleid und stieß errötend ein Sortiment italienischer Flüche aus. Sie war das schönste Geschöpf, das er je gesehen hatte. Er strich sich die Haare glatt und kramte in seinen Taschen nach einem Taschentuch. Als er es gefunden hatte, wartete er kurz ihr Nicken des Einverständnisses ab. Er wischte einen Tropfen Himbeermarmelade von ihrem Mundwinkel. Sie starrte unverwandt in seine strahlend grauen Augen.

Da haben Sie’s, schloss dann einer. Ich wusste doch, dass es Himbeer war.

Was zählt, fügte Monsieur dann hinzu, ist, dass es rot war.

Auf jenem Gebäck bauten Émile und Immacolata ihr gemeinsames Leben auf, wenngleich keiner, der sie kannte, die Kühnheit besaß anzumerken, dass dieses Glück, ausgerechnet!, vor einer Konditorei seinen Anfang genommen hatte.

Es folgten die Sonntagnachmittage in einem kleinen Café nah der Boulangerie Notre-Dame: stets derselbe Außentisch, zu jeder Jahreszeit, ein paar Tische weiter ihre Mutter als Anstandsdame. Émile kam immer mit der Sonntagszeitung unter dem Arm an, breitete schwungvoll die Titelseite aus und spann ein Märchen um die vielen Bilder. Immacolata verdrehte die Augen oder hielt den Atem an, immer an den richtigen Stellen, ohne sich daran zu stören, dass ihr gutaussehender Bäcker seine Geschichten nie damit begann, dass er die Schlagzeile las.

Einmal war auf der Titelseite die Enthüllung einer gigantischen Marmorstatue in einem fernen Museum abgebildet. Émile sprach vom Marmor in seiner Bäckerei, erklärte mit tiefer Stimme und zahlreichen Kunstpausen, dass die Platten und Fliesen über ein – von Haien und Meerjungfrauen wimmelndes – Meer gekommen waren, direkt von den Steinbrüchen Siziliens.

Aber auf Sizilien gibt es gar keinen Marmor, sagte Immacolata. Die haben einen Vulkan. Dort gießen sie ihre Statuen aus geschmolzener Lava.

Aber ich bin mir sicher, dass mein Marmor aus Italien gekommen ist. Ganz sicher – per Schiff – übers Meer – wimmelnd –

Dann hat seine Seereise in der Toskana begonnen. Wie ich.

Und die Haie – die Meerjungfrauen?

Immacolata warf einen Blick hinüber zu ihrer Mutter, die ein paar Tische weiter saß, legte dann ihre Hand auf Émiles.

Sie schwimmen noch heute, soweit ich weiß. Ich war damals noch klein, aber ich erinnere mich, dass ich sie durch die Stäbe der Reling beobachtete, während wir davonsegelten.

Der Frühling 1901 erlebte die Trauung Émiles und Immacolatas in einer Seitenkapelle der Kirche von Saint-Augustin. Es folgte eine kleine Feier in der Bäckerei. Émile hatte die Windbeutel für das Dessert selbst gebacken, ohne einer Menschenseele zu verraten, dass er sich – unter dem Vorwand eines nächtlichen Spaziergangs – mit einem Konditor im Neunten zusammengetan hatte, um die Crèmefüllung für die Gebäckstücke anzurühren.

Ein paar Kunden hatten ein Duo von Cello und Violine engagiert. Natürlich drängelten sich die Stammkunden ganz vorn in der Schlange um einen Tanz mit Madame.

Jeden Sonntagmorgen zog sich Madame einen Schal über den Scheitel, legte die flache Hand auf den nächstliegenden St. Honoré und brach zur Kirche auf. In schlankeren Jahren hätte man sie auf den Knien zur Messe rutschen sehen können, und einmal machte sie, freudig wie eine Märtyrerin, die Pilgerfahrt nach Chartres auf die gleiche Weise, indem sie ab dem Bahnhof Montparnasse den Gang des Waggons kniend vor und zurück kroch. Während der Messe betete sie ununterbrochen, die Hände ringend, die Knöchel weiß, zum Erzengel Gabriel um Kindersegen.

Sobald seine Frau zum Gottesdienst gegangen war, zog Monsieur seinen einzigen schwarzen Anzug an, stieg von den Pantoffeln in seine Sonntagsschuhe, kämmte sein unbändiges Haar, knöpfte sich seinen einzigen Kragen zu und stieg hinunter in die Bäckerei. Nachdem er den Verkaufstresen mit dem Ärmel blank poliert hatte, trat Monsieur ins Freie, inhalierte einen mehlstaubfreien Morgen und platzierte sein knochiges Gesäß auf den Bordstein. Erst dann lehnte er sich gegen die blaue Tür des Bäckerladens und begann, die Bilder in seiner Zeitung zu studieren.

An einem Nachmittag im Dezember 1907 – ein Nordwind stach auf die Schaufenster der Bäckerei ein – erhielt Madame eine Antwort auf ihre Gebete. Hinter dem Tresen stehend, legte sie sich eine Hand an die Wange und bekreuzigte sich. Dann klemmte sie sich die Finger in der zuschnappenden Schublade der Registrierkasse ein.

Der Nächste?, sagte sie, möglicherweise zu laut.

Während des folgenden Sommers schien Madame ihren Umfang zu verdoppeln. Der Morgen des achten August fand sie kreißend im Keller der Bäckerei, auf demselben Tisch, auf dem, wäre es ein beliebiger anderer Samstag gewesen, Monsieur seinen zweiten Schwung Baguettes hätte in Arbeit haben müssen. Trotz der frühen Stunde versprach der Tag bereits der heißeste des Sommers zu werden.

Backöfen auf voller Hitze, gehende Teige, die aus ihren Blechformen überquollen, oben ein Laden voll Kunden, die sich besorgt fragten, ob jemand einen Arzt holen gegangen war, während die Klatschmäuler unter ihnen sich für heißes Wasser und kalte Tücher aussprachen und so viele Fenster wie möglich öffneten oder schlossen – alles zusammen trug dazu bei, die Bedingungen in der Bäckerei schwieriger zu machen, als irgendwer hätte erwarten können.

Gegen Mittag war ein leiser Schrei vom Keller her zu vernehmen. Alle im Laden grinsten und klopften sich gegenseitig auf die Schulter, machten sich dann auf die Suche nach Champagner und den guten Kristallgläsern. Monsieur legte seinen neugeborenen Sohn in eine Schüssel voll ruhendem Teig. Er wischte seiner Frau die Stirn und strich ihr das Haar glatt und schmunzelte über seinen eigenen Spruch.

Ein ganz schöner Laib, den du da gebacken hast, mein Liebes.

Alles in Madames Kopf löste sich und verwirbelte in Schwärze. Halbnackt, aufgeschwemmt und zerrissen jedem Blick preisgegeben, geriet sie wegen der plötzlichen Leere in ihrem Inneren in Panik. Wegen der Tatsache, dass sie für das zitternde Ding, dessen rosa Fäustchen über den Rand der Schüssel neben ihr schwankten, nichts empfand. Sie wartete auf das Glücksgefühl, die Erleichterung, die Erregung, den Frieden.

Monsieur flüsterte, dass der Junge einen Namen brauchen würde.

Madame wandte sich ab, ihre Gedanken taumelten in tausend Richtungen. Sie hatte sich die Knie wund gebetet. Sie war so genau, so achtsam, so übervoll von Glauben an Gabriels Güte gewesen. Sie konnte sich keines Tages entsinnen, an dem sie nicht vom Muttersein geträumt hatte. Sie hatte sich dieses Kind schon gewünscht, als sie selbst noch ein Kind gewesen war. Jetzt wollte die Angst nicht verschwinden. War das Gabriels Vergeltung für ihre Selbstsucht? Eine Gabe zu gewähren, nur um ihr zugleich jeden Wert zu nehmen? Madame starrte ihren Mann an, und Tränen füllten ihre Augen, flossen über ihre Wangen und bildeten Pfützen auf dem Marmor unter ihr.

Ich gebe mir solche Mühe, sagte sie.

Monsieur rang sich ein Lächeln ab. Ruh dich jetzt aus, mein Liebes. Ich werde mir etwas überlegen.

Der Junge verbrachte seine erste Nacht, in Windeln gewickelt, in der Schublade des elterlichen Kleiderschranks. Er schlief, wie bei Neugeborenen üblich, friedlich und ahnungslos.

Am nächsten Morgen zeigte Monsieurs Zeitung den Moment, nachdem ein Zug mit einem Elefanten kollidiert war. Das verdutzte Tier sauste durch die Luft, während der Lokomotivführer den Kopf aus dem Lokfenster reckte und mit rot geblähten Backen in seine Trillerpfeife blies. Die Schlagzeile erklärte: SELTSAMES EISENBAHNUNGLÜCK IN SIAM!!

An jedem anderen Sonntag hätte Monsieur eine fantastische Geschichte zustande gebracht – und er hätte es nicht erwarten können, sie seiner Frau nach ihrer Rückkehr von der Messe zu erzählen. Tiere, Vögel, mythische Kreaturen: Das waren seine Spezialitäten. Der Elefant hätte sich in einen wahnsinnigen Ausreißer verwandeln können, einem afrikanischen Wanderzoo entsprungen. Oder zu einem, durch ein Missgeschick am Stadtrand aufgehaltenen, Geschenk des Maharadschas von Kalkutta für den Bürgermeister von Paris werden können. Er hätte Madame eingeladen, sich zu ihm auf die Türstufe des Bäckerladens zu setzen, und sich dann in einen zappeligen Kommunalbeamten verwandelt, der seine Uhr schüttelte, um festzustellen, ob sie noch lief, oder in einen würdevollen und aufgeblasenen indischen Fürsten, der sich, Entschuldigungen stammelnd, verbeugte und dabei versuchte, seinen Turban auf dem Kopf zu behalten.

Doch der Kopf eines frischgebackenen Vaters ist von anderen Träumen und anderen Sorgen erfüllt. Monsieur bekam gerade mal das Datum der Zeitung mit: 88.08.

Monsieur hastete durch den Bäckerladen und die Treppe hinauf bis zum obersten Stock des Tortenstücks. Er hörte schon das Quäken und Japsen seines heulenden Sohnes. Er fand seine Frau im Schlafzimmer vor, wie sie, das Gesicht zur Decke gewandt, den Säugling zu stillen versuchte.

Octavio, sagte er, wobei er das avio zu einem ahhvio dehnte und die Zeitung über seinem Kopf schwenkte. Verstehst du, mein Liebes? Achter Tag, achter Monat, achtes Arrondissement.

Madames Augen waren verquollen; ihr Haar hing in klitschnassen Strähnen herunter.

Dein Sohn, sagte sie.

Unser Sohn.

Seine Frau gab keine Antwort, als Monsieur das Zimmer verließ, um ein Fläschchen Milch aufzuwärmen. Draußen hing der Himmel in der Sommerhitze über dem Tortenstück durch, drohte einen Wolkenbruch an.

Eines Morgens in Paris

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