Читать книгу Eines Morgens in Paris - Charles Scott Richardson - Страница 8

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Ein mit Eis und Messern bewaffneter Dezemberwind raffte in einer nordischen See seine Röcke. Er stieg bei Calais an Land, schwankte, bis er die Straße nach Paris fand, stöhnte sich südwärts durch dichte, alte Wälder, zog auf der Hauptstraße in Beauvais ein, hielt inne vor der Kathedrale, kreiste um den Marktplatz, lüpfte dann seinen steifgefrorenen Rocksaum und schlüpfte ungebeten unter der Tür des einzigen Bekleidungsladens der Stadt durch.

Um dann die kräftigen Schenkel Pascal Normandes zu umspielen, der hinter der Tür kniete und in einer mit Pfauen bestickten Weste, einem makellosen Anzug, Vatermörder, Seidenkrawatte und Perlennadel steckte. Er strich mit den Fingern entlang des Türrahmens, um die Zugluft zu messen. In einer solchen Haltung erglühte sein Gesicht in einem besorgniserregenden Dunkelrosa. Seine fülligen Lippen verzerrten sich zu einem höhnischen Lächeln.

Zum Teufel mit diesen gottverdammten Bauern, sagte er.

Ächzend stand er auf, klopfte sich die Hosenknie ab, zog seine Weste glatt, zupfte an seinem Kragen und spähte durch ein frostgeblümtes Fenster auf den menschenleeren Platz.

Zum Teufel mit ihnen allen.

Pascal hatte an diesem Tag nicht mehr Kundschaft gehabt als am Vortag, oder am Tag davor, oder im vergangenen Monat, oder im ganzen Jahr, seitdem er das Atelier Normande eröffnet hatte. Dennoch vergewisserte er sich mit einem Rundblick, dass alles bereit war. Parat, hätte er vielleicht gesagt, wäre das Wetter nicht so kalt gewesen.

Zergliederte Kleiderpuppen lehnten an den eisigen Wänden. Regalböden bogen sich unter der Last von Textilien: Ballen von Braun- und Grüntönen, eine Auswahl von irischen Tuchen, seltene Satins, safranrote Kattuns aus den Färberkesseln Marokkos. Im Schaufenster trug ein Chor von Köpfen eine Kollektion von, so verkündete das Reklameschildchen, CHAPEAUX MERVEILLEUX!, deren aeronautische Krempen von dickem Landstaub bedeckt waren. Eine Reihe von Damenschuhen stand, die Spitzen akkurat ausgerichtet, längs der Ladentischfront.

Hinter welcher: Madame Céleste Normande. Durch die Temperaturen im Geschäft genötigt, von ihrer gewohnten Kleiderordnung abzuweichen, war sie in eine kratzige Decke gehüllt, die sicher einen Ausschlag hervorrufen würde. Sie sah zu ihrem Mann hin, und ein Wölkchen von Dampf entfloh ihren zusammengebissenen Zähnen.

Paris, sagte sie.

Pascal Normande war im 20. Arrondissement der Metropole als der uneheliche Sohn einer Lohnschneiderin zur Welt gekommen. Sie hatte ihren Jungen vergöttert, nur um sich im Hinterzimmer eines muffigen Modegeschäfts zu Tode zu nähen. Der erste Anzug, den er besaß, war derjenige, den er zu ihrem Begräbnis getragen hatte. Er hatte ihn selbst geschneidert, waren doch diese dunklen Tage und Nächte an ihrer Seite nicht spurlos an ihm vorübergegangen; seine Knopflochnähte waren ein so würdiger Tribut wie die schönste Totenrede. Er gelobte an ihrem Grab, dass er der Normande sein würde, an dem das Schicksal der Familie genesen sollte.

Céleste Renault war die Tochter eines Dienstmanns, der durch die besseren Hotels der Boulevards die Runde gemacht hatte. Als Mädchen hatte sie immer ihr sauberstes Kleidchen an, zog den Saum hinunter, um ein Loch im Knie ihrer Strümpfe zu verdecken, und holte ihren Vater am Ende seiner Schicht ab. Sie saß in seinen Foyers unter den Kübelpalmen und übte erwachsene Posen, bewunderte die Gäste, die kamen und gingen. Die Haufen von Reisekoffern lösten stets einen Kicheranfall aus, wenn sie die Drehtüren verstopften. Auf dem Heimweg fragte sie dann ihren Vater, wo das Gepäck hergekommen war. Die messingbeschlagenen Überseekoffer, die Leder-Schrankkoffer, die so hoch waren wie sie, die wie Geburtstagstorten dekorierten Hutschachteln.

Wie viel würde da hineinpassen, Papa?

Eine ganze Welt, sagte dann ihr Vater immer. Eine, wie du und ich sie nie zu Gesicht bekommen werden.

Sie wuchsen im 20. auf, Céleste oben auf dem Hügel von Bellerive, Pascal an dessen Fuß. Doch ihre Wege kreuzten sich erst auf der Weltausstellung von 1900.

Die zentralen Ausstellungshallen und Pavillons umrundend, war die große Attraktion der Expo die »Straße der Zukunft«: Der Ausstellungskatalog beschrieb sie als DER BIS HEUTE UNERFÜLLTE WUNSCHTRAUM EINER EPOCHE! Die Konstruktion bestand aus zwei Laufbändern aus Holz, die mit unterschiedlichen Geschwindigkeiten dahinglitten. Langsam und behäbig, war die innere Bahn als diejenige für Menschen mit schwacher oder gebrechlicher Konstitution – Frauen, Kinder, Geistliche – ausgewiesen. Die Außenbahn bewegte sich doppelt so schnell.

Zu einem jungen Mann herangewachsen, stand Pascal an der Außenseite, hielt sich am Geländer fest und versuchte, trotz seines Tempos entspannt auszusehen. Nahe dem russischen Pavillon überholte er einen gigantischen schwarzen Hut auf dem langsameren Laufband, dessen Krempe das Gesicht Célestes beschattete. Zwar hatte der Hut schon ein, zwei Saisons auf dem Buckel, doch was dem Kenner Pascal ins Auge fiel, waren die orangefarbenen Fasanenfedern, die über die Hutkrone ragten. Er erkannte sie sofort als einen Trick, einen kostengünstigen Kniff, der, auf dem richtigen Kopf angewandt, den Betrachter daran hindern konnte, weniger modische Details eines Ensembles zu bemerken. Und er merkte, dass es bei ihm gewirkt hatte: Er begann, langsam rückwärts zu gehen, um auf einer Höhe mit dieser Erscheinung zu bleiben. Er lüftete seine Melone und beglückwünschte die junge Dame zu ihrer Kleidung. Céleste musterte das penibel gescheitelte Haar, die athletischen Schultern, die schmalen Hüften, die schimmernden Schuhe. Sie reichte ihm ihre Hand. Pascal ergriff sie, und ohne einen Augenblick zu zögern, stieg Céleste von der langsameren Bahn auf die seinige um. Gemeinsam zogen sie davon, auf den Palast der Elektrizität zu, während die langen, spitz zulaufenden Enden der Federn sich im Fahrtwind wiegten.

Céleste glaubte einst, dass ihr Mann das tun würde, was er an dem Tag gelobt hatte, an dem endlich ein winziger Smaragdring aus seiner Tasche aufgetaucht war: Er, der enthusiastische Pascal, würde ein Leben für sie aufbauen, in dem an jedem ihrer Finger ein Edelstein blitzen würde. Sie, sein liebstes, liebstes Herz, würde unter wolkenlosen Himmeln leben. Sie, die frisch verlobten Normandes, würden mit Eleganz und Stil ins zwanzigste Jahrhundert eintreten. Sie würden vielleicht gezwungen sein, diese Wanderung außerhalb von Paris zu beginnen, da die Mieten nun einmal so waren, wie sie waren, aber früher oder später würde die Metropole sie anflehen zurückzukehren.

Spätestens am Abend ihres ersten Tages in Beauvais war einst für sie ein Wort aus dem Märchenbuch geworden.

Madame Céleste raffte die Decke fester um ihre Schultern und warf Pascal seinen Schal und Handschuhe zu. Ein Lächeln, so kalt wie ihre Finger, knitterte ihr Gesicht.

Paris –, war alles, was sie sagte.

Schon Ende der Woche waren die Normandes ausgezogen; verlassen knallten die Fensterläden im Winterwind. Den Verlust eines guten Schneiders nahmen die Bürger von Beauvais, wie einst die Ankunft der Armeen, die im Mittelalter ihre Felder zu Matsch getrampelt hatten, mit charakteristischem Stoizismus und trockenem Humor. Der Dezember 1907 ging in die Stadtgeschichte als wettermäßig ungewöhnlich ein.

Das Atelier Normande feierte seine Wiedereröffnung am ersten Tag des neuen Jahres mit der Enthüllung seiner Schaufenster in einer Pariser Nebenstraße nahe, aber nicht nah genug, den renommierten Modehäusern. Eine Sommerkollektion wurde vorgestellt – die meisten Rezensionen nannten sie wunderlich –, Petits Fours wurden gereicht, Pascal wieselte umher.

Eine Zeitung immerhin kommentierte Madame Célestes Kleid. Während Madame den Artikel überflog, blickte sie immer wieder an sich hinab:

das Ensemble der Gastgeberin – ein furchtloser Schlag gegen die Konvention – Kaskaden von Samt und Seide – magnifique, magnifique – gefährlich aufregend – geschmeidige Terrains um Schulter und décolletage – die Pariser – Londoner – New Yorker Damenwelt wird ihre trostlosen Garderoben gründlich überdenken – brava!, wird sie ausrufen, während sie ihre schlaffen Nähte aufreißt – ihre Taillen und Rocksäume überarbeitet – brava, Madame Céleste!

Sie wandte sich zu ihrem Mann. Das will ich ihnen aber auch geraten haben, sagte sie.

Der Augusthimmel hatte aufgeklart. Pascal Normande zupfte einen Schlüssel aus seiner Weste, schloss den Laden ab und überließ die Zuschneiderinnen und Näherinnen und Büglerinnen ihrer Nachtarbeit. Eine neue Saison nahte, und Bereitsein war alles.

Wie Pascal glaubte, erwartete eine Kundin des Ateliers Normande Pünktlichkeit, andernfalls wechselte sie augenblicklich ihr Revier. Der Bequemlichkeit halber vergaß er, dass seine Kundinnen nicht diejenigen der großen Häuser waren. Sie waren pragmatischere Menschen, denen ihre Geldbörse ebenso wichtig war wie die Aktualität ihrer Garderobe. Er vergaß auch der Bequemlichkeit halber, wie seine Mutter ihre Nächte zugebracht hatte.

Er zog sein Taschentuch aus dem Ärmel und wischte sich das Gesicht ab. Er verfluchte die feuchte Hitze, die vom Fluss herauf, den Boulevard entlang, um die Ecke und durch seine Ladentür kroch. Davon überzeugt, der Tag sei der heißeste des Sommers gewesen, machte er sich auf den Weg nach Hause.

Man hätte das durchweichte Taschentuch, das fleckige Hutband, die geröteten Wangen glatt übersehen können; solcherart war der einstudierte Schwung von Pascals Spazierstock. Voilà, ein gentilhomme, konnte man vermuten, dem Wetter nicht angemessen gekleidet, aber dennoch mit sich und der Welt in Frieden, wunschlos glücklich. Pascal Normandes Metier war die Illusion.

Es war ein kostspieliges Metier. Die letzten Francs in seiner Beauvaiser Tasche waren in den Umzug zurück in die Stadt geflossen. Alles Geld ging seither in himmelschreienden Steuern und mysteriösen Gebühren auf. Jeder Franc, der nicht für die Löhne seiner Arbeiterinnen ausgegeben wurde oder mit Müh und Not die Miete für seine Wohnung deckte, oder an den Ohrläppchen seiner Ehefrau baumelte, jeder aufgenommene, geborgte oder erbettelte Centime drohte sein Ende an.

Und doch. Gerüchten zufolge stapelte sich eine Ladung preisgünstiger chinesischer Seide ungenutzt in Le Havre. Einfach das Geld anweisen, und eine Herbstkollektion würde wie aus dem Nichts die Boulevards erobern. Man munkelte von einer Baronin, die eine Serie von Kostümbällen für das kommende Frühjahr plante. Je einen Franc-Schein in die Schürzen des Küchenpersonals gesteckt, und Aufträge für einen ganzen Winter würden, wie Asse aus dem Ärmel, Gestalt annehmen.

Pascal stieg vom Trottoir hinunter, um eine Gouvernante und ihre jungen Schutzbefohlenen vorbeigehen zu lassen. Er berührte seine Hutkrempe. Ein paar Schritte weiter blieb er stehen und schaute zurück; sein gerötetes Gesicht erhellte sich.

Eine Kinderkollektion, dachte er.

Mit ein paar Müttern als Kunden würde kein Geschäft auf Erden märchenhafter sein als das Atelier Normande.

In diesem Moment war Madame Céleste zu Hause dabei, einen Hut für den abendlichen Opernbesuch auszuwählen. Carmen, Loge elf. Die Neigung der Krempe justiert, die Hand durch ein Nest von Schleifen geführt, probte sie ihren Ausstieg aus der Droschke, das diskrete Heben des Rocksaums, um den vom Regen an diesem Nachmittag hinterlassenen Pfützen zu entgehen, ihren Aufstieg die prächtige Treppe hinauf, den Schwung ihrer Halskette, ihr Innehalten, ihre Pose, die Geste, mit der sie einer Bekanntschaft zuwinkte, die Stellung ihrer Füße, während sie darauf wartete, dass der Stuhl unter ihr Kunstseidengesäß geschoben wurde, das Funkeln in ihrem Auge und die Wölbung ihrer Braue ob der geflüsterten Zumutung des Logendieners: Wären Madame so freundlich, Ihren Hut abzunehmen?

Vor jedem Spiegel in der Normande’schen Wohnung hielt sie inne und betrachtete sich prüfend. Die Eintrittskarten hatten Pascal bestimmt ein Vermögen gekostet.

Ihr Lächeln, entschied sie, war pure Vollendung.

Eines Morgens in Paris

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