Читать книгу Leben - Erben - Sterben - Charlie Meyer - Страница 10
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ОглавлениеDoktor Reimann vom Gesundheitsamt blies am Montagmorgen um acht meine Hochstimmung vom Vortag in Nullkommanichts weg. Ich musste mich bis auf BH und Slip ausziehen, vom Fenster zur Tür und wieder zurückwandern - wobei mir ein Zahnarzt aus dem Haus gegenüber interessiert zusah - Kniebeugen machen und mir mit geschlossenen Augen an die Nase tippen. Ich musste meinen Morgenurin abgeben, mir Blut abzapfen, mich wiegen und vermessen lassen und durfte mir dann zur Belohnung die Liste meiner körperlichen Verfehlungen anhören: Übergewicht, Senkfüße, eine Rückgratverkrümmung aufgrund schiefer Hüften (oder umgekehrt?), dazu noch eine leichte Gelbverfärbung meiner Iris, die auf übermäßigen Alkoholgenuss schließen ließ.
Anschließend hockten wir an seinem Schreibtisch, er dahinter in einem ledernen Chefsessel, ich davor auf einem Holzstuhl, und er fragte mich, warum ich beim Bestatter umgekippt sei. Ich erklärte es ihm in allen grausigen Einzelheiten, und er nickte verständnisvoll und erzählte mir, dass er im ersten Semester Pathologie dreimal hintereinander zu Boden gegangen wäre. Bei seinem Verständnis schöpfte ich neuen Mut, doch da fügte er hinzu, manchmal sei die Bewältigung Körper und Geist herausfordernder Situationen ein wenig mühsam, aber nichts sei Befriedigender, als sich durchzubeißen. Der schönste Sieg sei der Sieg über sich selbst.
Ich blickte in sein müdes, verhärmtes Gesicht, das Gesicht eines lebenslangen Verlierers gegen sich selbst, und wusste, dass ich verloren hatte. Leute wie er schickten unter dem Mäntelchen armseliger Ehrbarkeit ihre Nachbarn auf den Elektrischen Stuhl, nur um zu verhindern, dass es ihnen im Leben besser erging als ihnen.
„Ich hätte gern ein psychologisches Gutachten“, entgegnete ich fest. „Außerdem friere ich.“ Jeans und T-Shirt hingen noch immer in der Umkleidekabine am Haken, und mir war wiederholt Doktor Reimanns Blick aufgefallen, der wie fasziniert an meinem Nabel zwischen BH und Slip klebte.
„Sie bekommen Ihr Gutachten, keine Bange. Und wenn Sie sich anziehen wollen, tun Sie’s um Gottes Willen, niemand will, dass Sie hier nackt herumsitzen. Außerdem dürfen Sie gehen, wir sind fertig.“ Er seufzte, nahm die Brille ab und wischte sich mit einem Taschentuch über die Augen. Bei meinem Anblick im halben Evakostüm waren ihm offenbar die Tränen gekommen. Mir auch, und ich nahm mir vor, endlich auf Diät zu gehen.
„Wann?“, fragte ich und stand auf.
„Das Gutachten? Oh, sobald ich es getippt habe“, entgegnete er matt.
„Entschuldigung, das muss ein Missverständnis sein, ich dachte, wir sprächen von dem Gutachten eines Facharztes.“
„Tun wir auch. Ich bin nicht nur Allgemeinmediziner, sondern auch Psychiater, also durchaus in der Lage und befugt, ein derart simples Gutachten zu erstellen.“ Er setzte die Brille wieder auf und blinzelte an mir vorbei zum Fenster. Er war nur ein kleiner Mann im weißen Kittel, der zusammengesunken in seinem Chefsessel hockte, ohne dass es in diesem Leben seinen Füßen noch einmal erlaubt sein würde, bis auf den Boden zu reichen. Ich sah in ihm mein Spiegelbild in zwanzig Jahren, wenn ich mich und mein Leben weiterhin so herabwürdigte.
„Okay, dann würde ich gern meine Gründe wiederholen, warum ich die Stelle ablehne.“ Ich setzte mich wieder und schlug die nackten Beine übereinander. „Ich konnte schließlich nicht ahnen, dass Sie zwei in eins sind.“
Er seufzte erneut, beugte sich vor und stützte die Ellenbogen auf den Schreibtisch und das Kinn in die Hände. „Es steht an der Tür: Amtsarzt und Amtspsychiater“, stieß er gequält hervor. „Und es gibt nichts mehr zu besprechen. Sie haben mir Ihr Kümmerchen erzählt, ich habe Ihnen zugehört und werde nun den Bericht fürs Jobcenter schreiben.“
„Wenn Sie mich zwingen, verklage ich Sie.“
„Woraufhin? Sie sind eine stabile, gesunde Person, die psychisch wahrscheinlich mehr wegstecken kann als die meisten anderen. Sie ...“
„Das stimmt nicht, ich leide unter starken Depressionen und kann nicht schlafen. Mein Leben ist zurzeit eine einzige Katastrophe, mein Sohn ist obdachlos, mein Ex ein wandelnder Racheengel, und ich fühlte mich einfach nicht in der Lage, Leichen ihr geronnenes Blut abzuzapfen.“ Ich schrie plötzlich, und hinter mir öffnete sich eine Tür und eine weibliche Stimme fragte: „Alles in Ordnung, Herr Doktor?“
Er nickte, bevor er einen Bogen Papier aus seiner Schublade kramte und eine Art Zehnpunkteprogramm herunterratterte. „Schlafstörungen und Appetitlosigkeit?“
„Ja, sage ich doch.“
Er blickte demonstrativ auf die Fettrolle zwischen Busen und Bauchnabel und murmelte etwas, das wie Lange wohl noch nicht klang.
„Herz- und Atembeschwerden? Zum Beispiel Herzjagen oder Atemnot?“
„Ständig.“
„Mundtrockenheit oder Verstopfung?“
„Sind mir nicht fremd.“ Ich nickte so leidvoll ich konnte.
„Minderwertigkeitsgefühle?“ Die erste Frage, die ich mit einem klaren Ja! beantworten konnte, ohne lügen zu müssen.
„Halten Sie sich für selbstmordgefährdet?“
Ich zögerte und schätzte die Folgen ab.
„Wenn ja“, kam mir Doktor Reimann zuvor, „muss ich Sie aufgrund einer endogenen Psychose in die Psychiatrie einweisen lassen. In diesem Fall bräuchten Sie den Job, der Ihnen angeboten wurde, nicht anzunehmen. Jedenfalls nicht gleich. In vier Monaten vielleicht, wenn Sie als geheilt entlassen werden, und der Posten noch immer frei ist, aber keineswegs sofort. Wenn nein, handelt es sich um vorübergehende Depressionen aufgrund häuslicher Unstimmigkeiten, und ich muss Sie nicht einweisen. In diesem Fall empfehle ich gegen die Schlaflosigkeit Baldriandragees und zur allgemeinen Aufhellung Johanniskraut. Noch irgendwelche Fragen?“
„Ich verlange ein zweites Gutachten“, knurrte ich und faltete meine Hände auf den nackten Oberschenkeln, um mich davon abzuhalten, ihm ganz langsam die Kehle zuzudrücken. Danach würde ich mich gern einweisen lassen.
„Kein Problem“, entgegnete er, lehnte sich wieder zurück und sackte endgültig in sich zusammen. „Es kostet Sie im günstigsten Fall ein- bis zweitausend Euro, und da es dann gewissermaßen eins zu eins mit den Gutachten steht, wird der Richter wahrscheinlich noch ein drittes Gutachten in Auftrag geben, dessen Kosten Ihnen bei einem Urteil zugunsten des Jobcenters wohl ebenfalls angelastet werden. Und glauben Sie wirklich, einer meiner Kollegen wird sich in einer überschaubaren Stadt wie Hameln und in einer Zeit wie heute so weit aus dem Fenster lehnen, mit einer dubiosen Diagnose einen Drückeberger vom Arbeiten abzuhalten? Wäre das nicht ein gefundenes Fressen für die Presse? - Ihre Urin- und Blutergebnisse können Sie in vier oder fünf Tagen abfragen. Bitte melden Sie sich umgehend bei Ihrem neuen Arbeitgeber. Guten Tag, Frau Pusch.“
Damit war ich entlassen und gleichzeitig eingestellt. Keine Frage, ich war eine Marionette und hatte zu tanzen, wenn der Staat an den Fäden zog. Die alte Binsenweisheit stimmte: Wer zahlt, bestimmt. Einer zweiten Weisheit gedenkend - leerer Magen bringt Zittern und Zagen - ging ich erst mal im Globus frühstücken, und stattete anschließend meinem neuen Arbeitgeber einen Besuch ab.
Herr Kuhn empfing mich diesmal nicht mit einem Willkommenslachen, sondern aus misstrauischer Distanz. Es war ein Machen-Sie-mir-bloß-keinen-Ärger-Blick, den ich gnadenlos zurückgab.
„Herr Kuhn“, begann ich und hockte mich, Ingeborg Schulze als Vorbild, auf die Kante seines Schreibtisches, während er bei meinem Anblick auf halbem Weg zwischen Hinterzimmer und Ladentür stocksteif stehengeblieben war. „Ich bin letzten Mittwoch zu diesem Vorstellungsgespräch bei Ihnen erschienen, weil Sie mir am Telefon weismachten, Ihr Geschäft sei es, für alte Leutchen zu sorgen, die sich selbst nicht mehr helfen können. Das haben Sie doch gesagt, oder?“
Er nickte, besann sich jedoch eines Besseren: „Mich deucht, ich habe nicht alt gesagt.“
„Leider führten Sie mich insofern irre, dass Ihre Klientel - ob jung oder alt - nicht nur hilflos ist, sondern bereits mausetot. Wenn Sie mich fragen, ein Paradebeispiel für eine arglistige Täuschung. Und von dieser arglistigen Täuschung habe ich eine Riesenbeule am Kopf davongetragen.“ Ich betastete meinen Kopf. „Sie können von Glück sagen, dass ich Ihnen nicht durch Kreislaufversagen unter den Händen weggestorben bin, sonst müssten Sie einer weiteren Leiche den Mund zunähen. Da ich meinen Unterkiefer jedoch noch frei bewegen kann, dachte ich, ich komme mal vorbei und sage Ihnen Bescheid, dass ich keinesfalls die Assistentin eines Thanatopraktikers werden möchte. Nicht einmal die eines Thanatopraktikers Ihres Formats. Dummerweise jedoch fahren Jobcenter und Gesundheitsamt ausgesprochen schwere Geschütze auf, um mich in die Stelle hineinzuzwingen und drohen andernfalls mit einer Streichung der Gelder. Also sollten wir ...“
Seine Miene hellte sich auf. Ich blieb hängen und starrte ihn verdattert an.
„Sie können unmöglich wollen, dass ich gezwungenermaßen bei Ihnen anfange?“, brachte ich, völlig aus dem Konzept geraten, über die Lippen.
„Ich brauche aber eine Assistentin“, murmelte er und blickte zu Boden. Seine skelettartigen Finger verschränkten sich ineinander, und einen Augenblick lang schien es, als bekäme er sie nicht wieder auseinander.
„Sehen Sie, ich sage es Ihnen ganz ehrlich. Ich hasse diese Arbeit, ich verabscheue sie, und ich werde sie nicht lange ausüben können, weil ich einen schwachen Magen habe und ganz bestimmt ständig kotzen muss. Entschuldigung, aber so ist es nun mal. Sie tun weder mir noch sich mit meiner Einstellung einen Gefallen, und wenn ich auch nur ein einziges Mal ohnmächtig werde und mir vielleicht etwas breche - und sei es nur der kleine Finger - oder mir eine zweite Beule hole, dann verklage ich Sie höchstpersönlich. Und zwar mit Pauken und Trompeten.“ Ich stoppte abrupt und wartete auf die Wirkung.
„Ich bin versichert“, murmelte Herr Kuhn. „Außerdem können Sie mich gar nicht verklagen.“
„Und ob ich das kann!“, improvisierte ich mit Nachdruck. „Mir fallen da auf Anhieb zwei Paragrafen ein, die infrage kommen. Außerdem ist mein Nachbar Rechtsanwalt. Da ich Sie auf meine potenzielle körperliche Gefährdung aufgrund unkontrollierter Bewusstseinsausfälle hingewiesen habe, habe ich alles Recht der Welt auf meiner Seite, und ich werde mich nicht scheuen, jedes Fitzelchen davon genüsslich auszukosten.“ Wenn ich Multimillionärin wäre, würde ich eine Armee von Anwälten aufmarschieren lassen, selbst bei nur zehntausend Euro Ersparnissen könnte ich in Erwägung ziehen, mir wenigstens einen Anwalt zu kaufen, aber blank, wie ich war, konnte ich nur bluffen. Ich verschränkte die Arme vor der Brust und mühte mich mit einem Gesichtsausdruck ab, der in die Kategorie gelassen drohend fallen sollte.
Er brauchte eine Weile, um meine Worte in sein Gehirn sickern zu lassen und zu eigenen Überlegungen umzumodeln. „Sie würden mich doch nicht wirklich verklagen, oder? Sie bluffen doch nur.“ Sein Versuch eines belustigten Auflachens misslang aufs Kläglichste.
Ich zog meine Mundwinkel zu einem freudlosen Lächeln auseinander und wartete stumm ab.
„Hören Sie, gute Frau“, flehte er dann. „Was soll ich denn tun? Es ist noch keine Viertelstunde her, da hat mich das Jobcenter angerufen, und mir unmissverständlich zu verstehen gegeben, dass ich Sie einstellen muss, verstehen Sie denn nicht?“
„So ein Unsinn. Sie sind der Arbeitnehmer, Sie bestimmen letztendlich, wen Sie einstellen und wen nicht.“
Herr Kuhn geriet ins Jammern und rang noch immer die knochigen Hände. „Wenn es bloß so einfach wäre. Aber doch nicht in meinem Gewerbe. Bestatter sein ist schon schlimm genug, aber wenn sie Einbalsamierer sind und sich mit postmortaler Leichenrekonstruktion nach schweren Unfällen beschäftigen, denken Sie, da klopft freiwillig jemand an und fragt: Haben Sie nicht eine nette kleine Stelle für mich, guter Mann? Leichenwaschen vielleicht oder das Zunähen von Mündern? Nichts ist! Glauben Sie, Aushilfen zu bekommen, wäre so einfach wie in anderen Berufen? Ha! Sobald die paar Männeken, die sich auf meine Anzeigen melden, einen Blick ins Hinterzimmer tun, brüllen sie Zeter und Mordio. Neun laufen weg, der zehnte kippt um, bevor Sie Embalming Flower sagen können. Sie dürfen’s mir ruhig glauben, mein Laden ist für den Notarztwagen keine unbekannte Adresse. Gute Frau, es ist mir ein Rätsel - alle jammern, wie dreckig es ihnen finanziell geht, aber sich ein wenig zusammenreißen für einen neuen Job will niemand. Jedenfalls nicht bei mir. Wozu auch? Vater Staat zahlt ebenso fürs Nichtstun. Und jetzt sehen Sie mich an. Seit meiner Geschäftseröffnung vor vier Jahren schufte ich achtzehn Stunden pro Tag und sieben Tage die Woche. Und Aufbahrungen im offenen Sarg kommen gerade erst richtig in Mode. Einbalsamierungen und das Herrichten Verstorbener sind das Geschäft der Zukunft, doch wie soll es mit mir persönlich weitergehen? Ich habe fünfundzwanzig Kilo abgenommen, oder haben Sie ernsthaft geglaubt, ich sei schon immer so ein Skelett gewesen? Und jetzt kommen Sie und wollen mich zu allem Überfluss auch noch verklagen!“
„Es tut mir sehr Leid für Sie, aber auch ich weigere mich, Leichen zu waschen oder Münder zuzunähen. Auf dieser Basis kann ich rein gar nicht für sie tun.“ Ich betonte auf dieser Basis, aber er war zu sehr in seiner Verzweiflung gefangen, um sprachliche Nuancen mitzukriegen.
„Aber Sie müssen.“ Er sah aus, als wolle er auf der Stelle zu einem undefinierbaren Knochenberg in sich zusammenfallen. „Ich habe mich genau informiert. Seit es das Jobcenter gibt, dürft ihr Hilfeempfänger einfach keine zumutbare Arbeit mehr ablehnen, die euch angeboten wird. Na ja gut, vielleicht doch, hier und da oder dann und wann, aber es ist schwierig. Sehr schwierig sogar. Euer Wohl und Wehe hängt von der Fallmanagerin ab. Ich meine von ihrem guten Willen und ob man mit ihr kann. Ob sie mit eisernem Besen kehrt oder im Büro einfach nur ihre Zeit absitzt. Ob sie ein Mensch ist. Und jetzt sehen Sie sich Ihre Fallmanagerin an. Frau Schulze. Hat sie guten Willen? Nein! Können Sie mir ihr? Niemand kann mir ihr! Kehrt sie mit eisernem Besen? O nein, eine derartig Untertreibung wäre vermessen. Sie pustet einen weg. Sie richtet die Kanone aus, schiebt eine Zehnpfundkugel vorn rein und zündet eigenhändig die Lunte. Oder haben Sie ernsthaft geglaubt, sie mag mich und will mir einen Gefallen tun? Sie mag nicht nur mich nicht, sie mag niemanden. Sie zwingt mich, Sie zu nehmen, ich habe doch gar keine andere Wahl. Entweder Sie oder das Jobcenter schickt mir bis an mein Lebensende nicht einmal mehr den Zipfel eines Rocks vorbei. Ach, gute Frau, so sehen Sie mich doch an: Ich bin ein menschliches Wrack. Meine Leichen sehen besser aus als ich, und die meisten haben sogar mehr Fleisch auf den Rippen. Lassen Sie mich nicht hängen, ich flehe Sie an. Kein menschliches Wesen hält auf die Dauer achtzehn Stunden ohne Pause durch. Um Himmels willen erbarmen Sie sich meiner.“
Er sah in der Tat erbarmungswürdig aus. Noch immer rangen seine Hände miteinander einen privaten Ringkampf aus, und sein Gesicht war gramzerfurcht. Ich unterdrückte nur mit Mühe ein grimmiges Lächeln. Der erste Teil meines Plans war geglückt, ich hatte ihn am Boden, zu allen Kompromissen bereit. Hoffte ich jedenfalls.
„Okay. Ich sehe schon, Sie sind wirklich zu bedauern, und ich möchte nichts weniger, als Sie aufgrund meiner Weigerung in einen frühen Erschöpfungstod zu treiben. Es ist doch so, Herr Kuhn. Sie und ich, wir sitzen quasi im selben Boot. Beiden hängt uns die Schulze im Nacken. Obgleich ich das Ruder natürlich eher herumreißen könnte als Sie, in dem ich gegen das Jobcenter und natürlich auch gegen Sie persönlich klage“, setzte ich hastig hinzu. „Aber vielleicht brauche ich das gar nicht. Vielleicht können wir beide die Sache auch außergerichtlich regeln, denn ich kann mir kaum vorstellen, woher Sie die Zeit für all die Verhandlungen nehmen wollen. Und so ein Streitfall kann sich über Jahre hinziehen.“
Ich musste mich mit meinen Ausführungen beeilen, sonst wäre vom Thanatopraktiker Kuhn nichts als eine Pfütze Wasser übriggeblieben.
„Also - hier kommt mein Vorschlag zur Güte.“ Die Schreibtischkante bohrte sich in meinen Oberschenkel, doch ich zwang mich, in derselben überlegenen Position hocken zu bleiben: Arme verschränkt, Kinn hoch, Blick lauernd nach unten. „Ich fange in Ihrem Geschäft an. Natürlich nur aus reiner Nächstenliebe und unter bestimmten Bedingungen.“
Kuhn richtete sich ein wenig auf, und Hoffnungsfünkchen glitzerten in seinen hellen Augen. „Was ... was für Bedingungen?“ Jedes Wort kostete ihn hörbar Kraft, und ich hoffte, er wartete mit seinem Zusammenbruch, bis ich weg war.
„Das Hinterzimmer und die Leichen gehören Ihnen. Ich werde weder Münder zunähen noch Penisse abbinden, noch dabeistehen, wenn gestocktes Blut in einen Eimer klumpt. Meine Wenigkeit beschränkt sich ausschließlich auf den Büroteil Ihres aufstrebenden Unternehmens. Mein Reich ist das hier.“ Ich schlug mit der flachen Hand auf die Schreibtischplatte. „Ich erledige Ihnen den gesamten Papierkram. Korrespondenz, Ablage und was sonst noch alles dazugehört. Da ich in diesen Dingen gewissermaßen Expertin bin, arbeite ich für ihre 400 Euro im Monat keinesfalls länger als zwölf Stunden die Woche. Das ergibt ohnehin nur den jämmerlichen Stundenlohn von 8 Euro und ein paar Zerquetschten. Sollten Sie nicht einverstanden sein, wende ich mich von hier aus direkt an den besten Anwalt der Stadt. Also haben Sie jetzt entweder eine Assistentin für den Bürokram oder einen ersten Prozess am Hals, in dem ich wegen meiner Beule am Kopf - Sie wissen schon, die arglistige Täuschung - auf Schmerzensgeld klage. Und für jede weitere Beule und jeden erneuten Kreislaufzusammenbruch klage ich aufs Neue.“
Wir wurden uns handelseinig, und ich begann meine neue Tätigkeit damit, Herrn Kuhn in der Miniküche, gleich neben der Minitoilette, eine Suppe zu kochen und sie ihm mit weiteren Drohungen Löffel für Löffel einzuflößen. Diesen Job würde ich keineswegs dadurch aufs Spiel setzen, dass ich meinen Chef verhungern ließ. Immerhin verdiente ich zwei Euro pro Stunde mehr als das Gros meiner Kollegen.
Ich war stolz auf meinen Sieg und stürzte mich mit Eifer auf Kuhns Papiere. Mein Eifer erlahmte ein wenig, als ich die Schubladen mit einem bunten Gemisch an Korrespondenz, Rechnungen und allen möglichen Broschüren vollgestopft fand. Es waren acht Schubladen, an jeder Seite des Schreibtisches vier, und als ich Kuhn auf das wüste Durcheinander ansprach, wies er stumm aber mit leidender Miene auf das halbhohe Sideboard mit seinen zwei Klapptüren in meinem Rücken. Ich bückte mich und streckte die Hand aus. Eine Flut von Papieren stürzte mir entgegen und begrub meine Füße unter sich. Kuhn wagte nicht aufzusehen.
Er fädelte Katgut in eine gebogene Nadel, die mich an eine Teppichnadel erinnerte, und sah glücklich aus. „Ich bin ein hervorragender Näher, wissen Sie. Schnell, sauber und für die Ewigkeit gedacht. Beim nächsten Selbstmörder, der sich auf die Schienen legt, zeige ich Ihnen mal, was wirkliche Kunst ist. Besonders die Tabaksbeutelnaht macht mir so schnell keiner nach, aber auch mein Matratzenstich kann sich sehen lassen. Manchmal finde ich es jammerschade, wissen Sie? Da bahren die Bestatter die Leichen auf, die ich Ihnen kunstvoll wieder zusammengeflickt habe, und alles, was die Angehörigen zu sehen bekommen, sind das Gesicht und die Hände des Toten. Wäre es nicht viel tröstlicher für sie, die Feinheit meine Nähte und das Wunderwerk eines rekonstruierten Schädels zu bewundern? Zu sehen, aus wie vielen Knochenstückchen ich ihren geliebten Hermann wieder zusammengesetzt und ihm mit Wachs und Schminke ein neues Kinn, eine neue Nase geschaffen habe?“
„Ich glaube kaum“, brachte ich einsilbig über die Lippen.
„Aber die meisten Leute sind eben Kunstbanausen. Sie wollen nur diesen widerwärtig friedvollen Ausdruck auf dem Gesicht der Leiche sehen. Guckt mal, Oma, Opa und Cousine, wie friedlich unser Kläuschen schläft auf seiner Wolke da oben im Himmel, wo die Engelein über ihn wachen.“ Kuhn schnaufte und machte in das eine Ende vom Katgut einen dicken Knoten. „Alles, was sie von uns wollen, ist unsere Hilfe, sich selbst zu belügen.“ Er hob in einer abrupten Geste die Hände, und Nadel und Katgut verschwanden in seiner Einsteinfrisur.
„Au, verdammt.“
Ich half ihm, sich zu befreien, was hieß, dass ich ihm die Spitze der Nadel aus dem Ohrläppchen ziehen und das Blut stillen musste. Ihn kümmerte es nur am Rande. „Welches Kläuschen stirbt schon friedlich, wenn es unter die Räder eines Sattelschleppers gerät, he? Stattdessen könnten sie doch auch sagen: Guckt mal, Oma, Opa und Cousine, wie gut der Onkel unser Kläuschen wieder hingekriegt hat. Alles sitzt wieder da, wo es mal gesessen hat. Das Ohr, die Nase und sogar das Bein sind wieder dran. Und guckt mal, was für zierliche Stiche. Viel ordentlicher als die von Tante Rosa auf dem Kreuzstichdeckchen.“
An dieser Stelle prustete ich los. Der wild herumfuchtelte Kuhn, der sich die Nadel ins eigene Ohr rammte, seine flammende Rede über die Nichtwürdigung seiner Kunst und Tante Rosa mit ihrer Kreuzstichdecke - ich drehte durch. Die nächsten Minuten hing ich wie ein schlaffer Sack über dem Schreibtisch und tat, was ich schon zwölf Monate zuvor hätte tun sollen. Ich lachte. Hysterisch zwar, doch dafür aus vollem Herzen und bis mir die Tränen kamen. Die erste Minute starrte mich Kuhn entgeistert an, und über seine Miene huschten in raschem Wechsel Missbilligung, Ärger und Kränkung, doch dann begann es auch um seine Mundwinkel zu zucken, und nur Sekunden später hallten die Wände seines kleinen Leichenschauhauses von unserem gemeinsamen Lachen wider.
Als wir uns schließlich wieder in den Griff bekamen, mit tränennassen Gesichtern, hockte Kuhn auf dem Boden, mit dem Rücken zur Wand und umklammerte mit seinen knochigen Armen die Knie. Er japste nur noch kläglich. Ich ebenfalls. Mir war, als hätte jemand mein Innerstes nach außen gestülpt und in der Waschmaschine durchgekocht, sodass ich nun - fleckenlos rein - mein Leben neu beginnen konnte. Hier, am Schreibtisch des Thantaopraktikers Kuhn, war ich auf dem Boden des ultimativen Lochs angekommen.
Dachte ich jedenfalls.
Kuhn rappelte sich nur mühsam auf die Beine, der Lachanfall hatte seine letzten Energiereserven aufgebraucht, und sein Akku war so leer wie sein Gesicht.
„Was war das?“, fragte er matt.
„Medizin!“, entgegnete ich. „Und wenn Sie mit Ihrer Leiche fertig sind, dann Abmarsch nach Hause mit Ihnen. Sie müssen schlafen. Und was essen.“
Er hielt die gebogene Nadel mit dem Katgut in die Höhe und musste sich zweimal räuspern, bevor er einen Satz über die noch immer bebenden Lippen brachte. „Der Mund“, krächzte er schließlich. „Ich muss erst noch den Mund machen und dann den Bestatter anrufen, dass er James abholt. Heute Nachmittag ist die Aufbahrung.“
„James?“
„James Dean. Ich hab‘ da hinten einen Klienten, der eine gewisse Ähnlichkeit mit James Dean hat. Wissen Sie, wenn ich einen von denen geliefert bekomme, die einem berühmten Filmschauspieler oder Politiker ähneln, helfe ich hier und da gern ein wenig nach, um die Ähnlichkeit zu verstärken. Nur so ein Hobby von mir, nichts von Bedeutung“, fügte er hastig hinzu, als er meinen ungläubigen Gesichtsausdruck sah. „Ich nenne es Creative Restoration mit Betonung auf kreativ, verstehen Sie?“
„James Dean, ja? Okay, warum auch nicht? Tot ist er ja sowieso.“ Ich dachte kurz nach und versuchte die Vorstellung abzuschütteln, wie sich unter Kuhns begnadeten Händen ein kleines graues Mäuschen auf dem Stahltisch in Marilyn Monroe verwandelte. „Den Anruf beim Bestatter kann ich übernehmen, sofern Sie mir einen kleinen Hinweis darauf geben könnten, wo in diesem Papierwust ich James‘ Papiere finde. Steht heute sonst noch etwas an? Wobei mir einfällt, wo ist eigentlich Ihr Terminkalender?“
Er tippte sich mit dem Zeigefinger gegen die Stirn. „Da drin“, murmelte er, verschwand im Hinterzimmer und kam gleich darauf ohne Nadel aber mit einem zerknitterten Blatt Papier zurück, das streng roch und braune Flecken aufwies, deren Herkunft ich keinesfalls wissen wollte. Es war die Auftragsbestätigung zur Präparation der Leiche von Herrn Rolf Brüning, ausgestellt auf den Thanatopraktiker Heribert Kuhn und unterschrieben vom Bestatter Koslowski. Die Telefonnummer stand drauf.
„Gut, dann brauche ich etwas Geld, um Büromaterial zu besorgen. Einen Terminkalender, ein paar Aktenordner und was mir sonst noch als nicht existent aber notwendig auffällt.“
Kuhn nestelte mit dem Ausdruck von Pein in seinem Gesicht einen Zwanziger aus dem Portemonnaie.
„Sehr großzügig, verbindlichsten Dank. Glauben Sie, Sie können sich noch einen Euro für ein Radiergummi aus den Rippen schneiden?“
Heribert Kuhn mochte zwar ein begnadeter Künstler sein, war jedoch aus tiefster Seele geizig und nahm, wenn es ihm in den Kram passte, Ironie buchstäblich für bare Münze. Ich bekam noch einen Euro für Radiergummis, doch sein finsteres Gesicht deutete unmissverständlich an, dass ich die Grenze seiner finanziellen Belastbarkeit überschritten hatte und jeder weitere Versuch auf eine Substanz härter als Diamant stoßen würde.
„Gegen Mittag bin ich wieder da“, knurrte er. „Das tote kleine Mädchen ist zwar gecancelt worden, aber man weiß ja nie, wem es plötzlich einfällt, seinen Hugo doch noch ausstellen zu lassen. Es gibt jede Menge Bestatter im Landkreis, aber ich, Heribert Kuhn, bin der einzige Thanatopraktiker, der sein Geschäft kreativ betreibt, wenn Sie wissen, was ich meine. Bevor Sie also einen Auftrag vermasseln, rufen Sie mich an. Hier ist meine Handynummer.“ Er fischte eine zerknitterte Visitenkarte mit einem blutigen Daumenabdruck aus seiner Kitteltasche.
Kurze Zeit später knatterte und knallte es mörderisch, und als ich aus dem Laden stürzte, schob sich der Kühlergrill eines schwarzen Leichenwagens von Anno dazumal aus der schmalen Lücke zwischen den Häusern, die auf unseren Hinterhof führte. Unter vollem Körpereinsatz gelang es Kuhn, sich auf die Großehofstraße zu kurbeln, dann verschwand er in einer blauen Auspuffwolke im Gewirr der Hamelner Gassen.