Читать книгу Leben - Erben - Sterben - Charlie Meyer - Страница 11
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ОглавлениеIch kaufte ein paar Aktenordner und einen Terminkalender - fürs Radiergummi reichte es nicht mehr - und verbrachte die nächsten Stunden mit Sortieren und Abheften. Gegen elf kam der Kontrollanruf von Ingeborg Schulze aus dem Jobcenter, die bei dem heiteren Ton meiner Stimme zunehmend mürrischer wurde. Ich bot ihr Sonderkonditionen an, falls sie sich für eine spätere Einbalsamierung vormerken lassen wollte und als Zugabe ein kostenloses Facelifting à la Cher. Sie hängte verschnupft auf. Ich hoffte, sie ließ Uwe für meinen Mangel an Verärgerung leiden.
Während ich sortierte und abheftete, plagte mich der Gedanke an James Dean im Hinterzimmer. Bestatter Koslowski hatte mir versichert, ihn gegen halb zwölf abholen zu lassen, und ich hatte per Computer bereits die formlose Quittung für eine Leichenrückerstattung erstellt, die ich ihn unterschreiben lassen wollte. Sollte eines Tages der Papierberg vor mir abgebaut sein, würde ich mich an die Erstellung von Formularvorlagen in Word wagen.
Um fünf vor halb zwölf hielt ich es nicht mehr aus und steckte meine Nase ins Hinterzimmer. An den Gestank aus Formaldehyd, Fett, Sandelholz und Leiche, der in wechselnder Intensität in jede Ecke des Ladengeschäftes zog, würde ich mich wohl schwerlich gewöhnen. Überall standen griffbereit Geruchsvernichter- und Raumluftsprays herum, doch die Einbalsamierungsmixtur schaffte sie alle.
James Dean lag unter einem Laken begraben, was meine Neugier nicht zu befriedigen vermochte. Alles, was sich von seinem Gesicht abzeichnete, war der Huckel der Nase. Ich schlich mich um den Stahltisch, griff mit spitzen Fingern nach der Ecke des Lakens, überlegte es mir jedoch in letzter Sekunde anders und verschanzte mich wieder hinter den Papierstapeln auf meinem Schreibtisch.
Eine Minute vor halb zwölf blickte ich James Dean dann doch ins tote Antlitz und ließ erschüttert das Laken wieder fallen. Von den Haaren bis zum melancholischen Ausdruck stimmte alles, Heribert Kuhn war zweifellos der begnadete Künstler, für den er sich hielt, auch wenn mir eigenmächtige Kreativität in der Thanatopraxis ein wenig pietätlos erschien. Vor allem, da unser James unter dem Laken altersmäßig mindestens als der Vater des echten Dean, wenn nicht gar als sein Opa durchgehen konnte.
Wie sehr Kuhn in erster Linie Künstler war, bewies mir eine ledergebundene Mappe auf seinem Instrumentenbord an der Wand. Sie enthielt Polaroidfotos von seinen Kunstwerken. Die grauen Leichengesichter von vorn und im Profil vor der Kuhn’schen Behandlung, und die Tom Cruises, Elvis Presleys und Jane Seymours, in die er sie verwandelte. Das bewährte Prinzip des Vorher/Nachher-Schocks. Als ich die Fotokartons einen nach dem andern umschlug, blieb mir förmlich der Mund offen. Es war mehr als nur pervers, es war einfach genial. Vor allem, da ich in dem Papierwust noch keinen Hinweis darauf gefunden hatte, dass irgendein erboster Angehöriger Kuhn jemals verklagt hatte. Ich fragte mich, ob er sich bei der trauernden Ehefrau, die ihren Mann bei ihm ablieferte, im Vorfeld nach ihrem Lieblingsschauspieler erkundigte, und ihn ihr dann - ein zweiter Doktor Frankenstein - einfach erschuf.
Als ich ins Büro zurückwankte, hielt mich die Gänsehaut in eisernem Griff, und beim Anblick des kleinen Grüppchens Besucher zuckte ich ertappt zurück. Zwei Männer und eine Frau standen, schwarz wie die Krähen, mitten im Raum, und im gleichen Moment wurde die Ladentür ein zweites Mal aufgerissen, und zwei ebenfalls schwarz gekleidete Burschen stürmten herein.
„Wer ist es diesmal? Jack Nickolson oder Schröder?“, dröhnte der Bass des einen fröhlich durch den Laden, während der zweite bereits die Tür zum Hinterzimmer aufstieß. Unmittelbar darauf ertönte schallendes Gelächter und ein paar anerkennende Pfiffe. Dann, als James offenbar in seinen Sarg verpackt wurde, begann es zu rumoren, und ich holte tief Luft, um mich der unerwarteten Kundschaft zu stellen. Ich hatte nicht damit gerechnet, mich gleich am ersten Tag auf dem schlüpfrigen Parkett der Beileidsbekundungen bewegen zu müssen. Der ältere Mann, mit struppigem Schnurrbart, Brille und blank polierter Glatze, mochte um die sechzig sein, der jüngere etwa in meinem Alter. Er trug die schwarzen Haare zu einem Zopf geflochten, der ihm den halben Rücken hinunterreichte. Obgleich auch die Frau, deren Alter ich auf Mitte fünfzig schätzte, mit ihrer metallicblau gefärbten Außenrolle und ihrem Übermaß an Schminke durchaus einen zweiten Blick wert war, konnte ich den meinen nicht von dem Mann mit dem Zopf lassen. Die bronzefarbene Haut, die schwarzen Augen, die markante Nase, wenn mich meine Fernsehbildung nicht trog, war Maestro Kuhn gerade ein waschechter Indianer ins Geschäft spaziert.
„Guten Tag, kann ich irgendetwas für Sie tun?“, fragte ich höflich und einen Moment lang narrte mich das Gefühl, ich sei in diesem Laden schon zur Welt gekommen. Die drei musterten mich in meiner roten Caprihose und dem grasgrünen, ärmellosen Shirt, dann die Papierstapel auf Boden und Schreibtisch, und wahrscheinlich narrte sie das Gefühl, im falschen Laden gelandet zu sein.
„Sind Sie der oder die Thanatodingsbums?“, fragte der ältere Mann ungläubig.
„Nein, ich ...“ Binde nur Penisse ab, wollte ich gerade antworten, als ich gegen diese Mauer von Schwarz blickte und mir der Ernst der Lage wieder einfiel. Außerdem hatte mich Kuhn gebeten, ihm keine Aufträge zu vermasseln. „Ich bin nur die Assistentin. Für Computer und Telefon zuständig. Herr Kuhn ist der, den Sie suchen. Er ist im Moment leider außer Haus, aber wenn Sie mir Ihr Anliegen kurz umreißen und vielleicht die Telefonnummer dalassen, wird er sich so schnell wie möglich mit Ihnen in Verbindung setzen.“ Ich klopfte mir auf die Schulter. Jedenfalls in Gedanken. Es war doch prima gelaufen.
„Gut, ich bin nur etwas verwirrt und hatte eine dem Anlass angemessene Umgebung erwartet.“ Sein Blick verriet, dass er mit der fehlenden angemessenen Umgebung übersetzt mich und mein Outfit meinte.
„Sehen Sie, die Kunst dieses Handwerks besteht doch darin, der Gestalt des Todes ein Schnippchen zu schlagen und den geliebten Verstorbenen optisch ins Leben zurückzurufen. Ich möchte in diesem Zusammenhang nicht gerade von einem Grund zur Freude sprechen, ich denke, positiver Kreativismus trifft es eher. Eine Unternehmensphilosophie, der sich stimulativ natürlich auch das Ambiente anzupassen hat.“ Improvisieren beherrschte ich etwas besser als Lügen, doch während mich drei Augenpaare verblüfft anstarrten, überlegte ich, ob es das Wort Kreativismus im offiziellen Wortschatz überhaupt gab, und wenn ja, was zum Teufel es dann bedeutete.
„Ich denke aber doch ein wenig Pietät ...“, erwiderte er mit gerunzelter Stirn und blinzelte nervös hinter seinen Brillengläsern.
„Ach Gott, lassen wir doch diesen müßigen Smalltalk. Komm zur Sache, Edgar, oder halt den Mund“, platzte die Frau plötzlich heraus, und mein Magen verkrampfte sich. Diese samtene Stimme hatte ich doch vor Kurzem erst gehört. „Am besten, du lässt mich das machen. Du bist zu dämlich, und unser kleiner Winnetou hier versteht doch nur Bahnhof.“ Sie holte tief Luft, doch der Herr namens Edgar war schneller, kam aber nicht allzu weit mit seinen Erklärungen.
„Wir wollen eine Aufbahrung. Das heißt, eigentlich brauchen wir zwei Aufbahrungen, denn ..:“.
„Lass sein, Edgar. So wird das nichts. Also, meine Mutter und ihr Ehemann sind vor Kurzem von uns gegangen.“ Edgar und sie blickten pietätvoll auf ihre Schuhspitzen, der kleine Winnetou vergewisserte sich, dass ihn niemand weiter beobachtete, und grinste mich breit an. Ihm war kein Schneidezahn abgebrochen, und sein Gebiss konnte jeden Bären in die Flucht schlagen. Meine Phantasie stellte ihn sich kniend in einem Kanu oder im Lendenschurz mit Pfeil und Bogen vor, wie er über die weiten Ebenen der Prärie in den Sonnenuntergang ritt. Im Anzug mit schwarzer Krawatte wirkte er verkleidet.
„Mein Beileid“, murmelte ich und versuchte, an den Zähnen vorbeizublicken. Woher kannte ich bloß diese samtene Stimme? „Ein Unfall? Ich meine, weil beide auf einmal ...“ Abgetreten? Abgenippelt? In eine bessere Welt gegangen sind? Himmelherrgott, was sagte man bloß. „... verstorben sind?“, stieß ich mit einer Erleichterung hervor, die bei meiner Kundschaft erneut Irritation auslöste. Man tauschte beredte Blicke aus. Nur die tiefschwarzen Augen des Indianers wandten sich nicht von mir ab. Mir schien, sie flirteten mit mir, doch durch mein Leben geisterten schon genug problematische Männer, einen grinsenden Indianer, der gerade seine Eltern verloren hatte, konnte ich keinesfalls brauchen.
„Nein“, entgegnete die Frau finster. „Sie sind erschossen worden. Alle beide, und zwar aus nächster Nähe. Wollen Sie mir etwa weismachen, Sie hätten von dem Doppelmord an unserer Mutter und ihrem Mann nichts mitgekriegt? Es ist eine Schande. Man sollte meinen, die ganze Welt nimmt Anteil an der brutalen Ermordung von Fiona McCullen, doch wo sind sie denn, die Reporterscharen, die Hamelns Gassen verstopfen? Wo sind die Kameraleute, die mir und meinen Geschwistern die Bude einrennen?“
Ich war froh, bereits zu sitzen, sonst hätte ich mir auf dem harten Boden mit Sicherheit das Steißbein gebrochen. Es war, als hätte mir jemand von hinten in die Kniekehlen getreten. Mein Mund wurde trocken, die Stimme blieb mir weg. F.C.! Deshalb war mir die Stimme der Frau so unangenehm vertraut vorgekommen. Vor mir standen die Hinterbliebenen von F.C. und Bruno. Einen Moment lang geriet ich in Panik. Falls ich so schuldig aussah, wie ich mich fühlte, würde gleich die Tür aufspringen und eine Hundertschaft Polizisten das Büro stürmen. Da sitzt sie, die Frau vom Steckbrief. Greift sie euch!
Und nicht nur das. Ich verbarg etwas, was dem Erben gehörte. Doch wer von den Dreien war denn der Erbe? Eine Klausel meines Vertrages mit F.C. lautete: abwarten, bis sich der rechtmäßige Erbe mit der rechtmäßigen Legitimation bei mir meldete. Und schon rückte ich den Hund heraus. Außerdem besaß Churchill kaum mehr als einen nostalgischen Wert, sodass von Unterschlagung oder einer ähnlichen Straftat wohl kaum die Rede sein konnte. Trotzdem fühlte ich mich wie ein Kaufhausdieb, der mit seinen vollen Taschen gerade flüchten will und zwischen sich und dem Ausgang einem Detektiv ins finstere Antlitz blickt.
„Natürlich habe ich von den schrecklichen Morden in der Zeitung gelesen“, krächzte ich mühsam. „Aber aus welchem Grund sollte ich gerade Sie mit dem Drama in Verbindung bringen? Ich sehe selten fern, ich lese keine Zeitung, und begegnet sind wir uns meines Wissens nach auch noch nicht. Außerdem sterben bei uns hier in der Provinz auch Leute, die nicht erschossen werden. Die Medien waren übrigens da, sie sind nur schon wieder weg.“
Edgar und die Frau mit den metallicblauen Haaren blickten sich an, als berieten sie in einer stummen Konferenz über Sinn oder Unsinn des Gehörten. Der Indianer nutzte ihre wortlose, vertrauliche Zwiesprache für ein erneutes breites Grinsen, das er allein mir widmete. Es war, als explodiere eine Leuchtrakete am nachtschwarzen Himmel, und ich fuhr unwillkürlich zurück. Doch unmittelbar darauf verwandelte er sich wieder in einen offiziell trauernden Indianer. Züchtig gesenkter Blick, geschlossene Lippen. Während das Grinsen noch auf meiner Netzhaut brannte, widmeten mir Edgar und die Frau wieder ihre volle Aufmerksamkeit. Im Laufe unserer Unterhaltung hatte ich mehrfach mit dem Gedanken gespielt, ihnen mit weltmännischer Geste einen Platz anzubieten, doch wir hatten nur zwei Besucherstühle, und ich wollte mit den Dreien nicht unbedingt Reise nach Jerusalem spielen.
Edgar meldete sich nach einer Reihe bronchienbefreiender Räusperer blinzelnd zu Wort. „Ich“, er tippte sich auf die Brust, „bin Apollonius McCullen, Fionas Erstgeborener, und das hier ist meine Schwester Zoe. Der Kerl auf meiner anderen Seite dürfte der letzte Bastard sein, den sie zur Welt gebracht hat. Zumindest konnte die Polizei keine weiteren ausfindig machen. Angeblich ist er ein halber Cheerokee-Indianer. Dancing Wolf oder Crying Coyote, was weiß ich? Er ist der jüngste McCullen und wurde ein knappes Jahr nach der Haftentlassung unserer Mutter geboren. Sie hatte sich mit irgendeinem Häuptling aus irgendeinem Reservat eingelassen. Aber wie üblich verschwand sie nach der Geburt, und es gehen merkwürdige Gerüchte um, ob der Kerl hier tatsächlich Fionas kleiner Indianerbastard ist oder ihr nach dem Tod des echten Kindes nur untergeschoben wurde. Wie auch immer, er hat jedenfalls eine Geburtsurkunde, auf der McCullen steht, also kann man ihm nichts Gegenteiliges beweisen.“
„Heutzutage lässt sich alles fälschen“, warf seine Halbschwester ein. „Ein guter Scanner, ein Farbkopierer, mein Gott, Edgar, siehst du nie fern?“
Das mit dem Scanner stimmte, wie Uwe anhand unserer Mietvertragskopie für den Hartz IV-Antrag bewiesen hatte.
„Die Amis haben Satelliten in den Weltraum geschossen“, fuhr sie fort, „die können von ganz da oben runter den Rattenfänger knipsen, wie er mit den Ratten durch die Straßen dieses netten kleinen Ortes zieht, und dann tauschen die hier und da ein paar digitale Pixel aus, und schon sieht er nicht mehr wie der Rattenfänger, sondern wie Rumpelstilzchen oder der Weihnachtsmann aus.“
„Also erstens machen das mit den Satelliten alle, Zoe. Die Russen, die Japaner, sogar wir. Die ganze Welt jagt da oben rum und bespitzelt sich gegenseitig. Außerdem ist die digitale Verfälschung eines Fotos im Computer doch mittlerweile so alt wie Methusalem“, warf Edgar mürrisch ein. „Die sehen übrigens nich‘ nur den Rattenfänger, diese Satelliten, o nein, die sehen sogar den nassen Fleck auf dem Schnabelschuh des Rattenfängers, da, wo ihm die Spucke aus der Flöte getropft ist. Den Fleck auf seinem Schnabelschuh, ich sag’s dir.“
„Halt die Luft an, Edgar, und denk nach, bevor du so einen Unsinn von dir gibst. Und hör endlich auf, dich als Apollonius McCullen vorzustellen, in deinem Pass steht Edgar Kamm, und du bist der Sohn aus ihrer ersten Ehe mit diesem Nazi. Wie du dich den Zeitungsfritzen gegenüber nennst, interessiert niemanden. Apollonius, ich bitte dich! Übrigens bin ich nach dieser Küsschen-rechts-Küsschen-links-Szene im Fernsehen beinahe auf dumme Gedanken gekommen. Vielleicht, mein Lieber, heißt du gar nicht Kamm, und dein Vater war in Wirklichkeit dieser kleine Kerl mit dem Nasenbärtchen ...“ Sie lächelte süffisant.
Das Gesicht ihres Halbbruders verfinsterte sich. „Noch ein Wort in dieser Richtung, ein einziges Wort, und ich verklage dich auf eine Million Schadenersatz wegen Rufmord. Und zwar in Dollars!“
„Tu das. Das zeigt nur, wes armseligen Geistes Kind du bist. Der Euro steht viel höher im Kurs.“
„Aber Ihr Name ist wirklich Zoe?“, wagte ich eine Zwischenfrage, um einem ernsthaften Streit vorzubeugen.
„Allmut van Heeren, aber bleiben wir bei Zoe. Allmut klingt nach Kuhglockengebimmel. Zwischen diesem Nazi und ihrem amerikanischen Produzenten versteckte sich Fiona in Südafrika vor der negativen Publicity wegen dieser Hitlerszene und noch einigem sonst. Wir waren gewissermaßen das uneheliche Zwischenspiel, bis es ihr bei den Buren zu langweilig wurde. Da färbte sie sich die Haare blond, flog nach Amerika und versuchte es noch einmal als Filmstar. Alles, was sie für ihre Kinder jemals getan hat, außer sie nach kurzer Zeit zu verlassen, war, ihren Namen in den Geburtsurkunden eintragen zu lassen, sodass wir alle gleichermaßen erbberechtigt sind. Wie man sieht, konnte keiner der Versuchung widerstehen, sich das McCullen-Gold unter den Nagel zu reißen. Der Häuptling hier kommt extra aus seinem amerikanischen Reservat, ich aus Südafrika und der liebe Edgar aus Esens in Ostfriesland. Der Häuptling ist Gott sei Dank so stumm wie Edgar schwatzhaft, nicht wahr, du kleiner, dummer Plattfußindianer?“ Sie zupfte ihn am Anzugärmel.
Der Schwarzhaarige nickte freundlich, dann, als sich Edgar und Zoe ansahen und ihre Augen verdrehten, schoss erneut dieses grandiose Grinsen über sein Gesicht, und er zwinkerte mir zu. Offenbar verstand er jedes Wort, war aber entweder ein Mensch mit seltsamem Humor oder ein gerissener Taktiker, der die Konkurrenz bluffte, um an Informationen heranzukommen, die ihm sonst vorenthalten wurden. Edgar und Zoe schienen sich als Halbgeschwister mehr oder minder miteinander abgefunden zu haben, doch den Schiller’schen Wunsch eines amerikanischen Indianers - Ich sei, gewährt mir die Bitte, in eurem Bunde der Dritte - als Zumutung zu empfinden.
„Hatte Fiona noch mehr Kinder?“, fragte ich neugierig.
„Wer weiß? Es gehen da so Gerüchte um.“ Zoe klang nicht weniger verbittert als ich, wenn ich mit dem Spiegel über mein verpfuschtes Leben debattierte. „Schätzungsweise zwischen eins und einem Dutzend.“
„Und was ist mit den Vätern?“
„Was soll damit sein? Meiner ertränkte sich nach ihrem Verschwinden im Genever, bis man ihn mit seiner eigenen Leber hätte erschlagen können. Ein Jahr und er war mausetod. Bei dem von unserem Häuptling hier gibt es zwischen Selbstmord und lebt noch etliche Versionen. Und Edgars Nazi-Papa ... Tja, mein Lieber, irgendeine Ahnung, wo er stecken könnte? Peru? Brasilien? Wo ist er wohl abgeblieben?“
„Das entzieht sich meiner Kenntnis“, entgegnete Edgar steif. „Ich war erst wenige Monate alt, als er spurlos verschwand. Wahrscheinlich haben ihn die Alliierten an die Wand gestellt und erschossen. Meine Mutter wird mehr darüber gewusst haben, denn nach allem, was ich hörte, wollten bei Kriegsende beide gemeinsam ins Ausland fliehen, doch nur sie kam an. Mich ließen sie übrigens auf den Altarstufen einer Klosterkirche zurück. Ich bin in einem Waisenhaus aufgewachsen, das von Nonnen geleitet wurde.“ Er sah einen kurzen Moment lang fromm gen Decke, bevor er mit einem Schauder den Kopf wieder senkte.
Ich blickte den Amerikaner fragend an, doch er fiel auf den Trick nicht herein. Zurzeit war er wieder nichts als ein schweigender, trauernder Indianer mit unergründlichen Augen. Irgendwie fing ich an, mich an ihn und sein Blitzgrinsen zu gewöhnen, hoffte aber, gleich nach Feierabend wieder zur Vernunft zu kommen.
In diesem Moment stieß ein Fuß beherzt die Tür vom Hinterzimmer auf, und auf einem Aluminiumgestell mit Rädern rollten die beiden Abgesandten des Beerdigungsinstituts Koslowski James‘ Sarg vorbei.
„Hey, ihr beiden“, begehrte ich gereizt auf, während sich Fionas Söhne verschreckt an die Wand drückten, und Zoe dem Sarg ungerührt einen freundschaftlichen Klaps verabreichte, als er vorüberrollte. „Ging das nicht auch über den Hof?“ Ich hatte keineswegs vor, mich an einen Leichendurchgangsverkehr zu gewöhnen.
„Der Heribert sagt, wir können vorn raus, wenn keine Kundschaft da ist“, erklärte der vordere der beiden.
„Und? Seid ihr blind, oder sind wir unsichtbar? Ich habe Kundschaft!“ Das Interessante an meiner Einstellung zur Arbeit ist, dass ich es hasse sie anzutreten, mich aber sofort mit ihr identifiziere, sowie ich drin bin. Egal, in welchen Job es mich verschlägt. Letzten Weihnachten entdeckte ich meine außergewöhnliche Begabung im Straßenverkauf von Tannenbäumen.
„Als wir kamen, war da noch niemand“, nörgelte der Hintere.
„Dass ihr nichts gesehen habt, liegt an den Mach3, mit denen ihr hier durchgesaust seid. Ein ICE sieht die Ameise auch nicht, die auf den Schienen hockt. Das nächste Mal geht’s vielleicht etwas zivilisierter, und ein nettes kleines Hallo zur Begrüßung wäre auch nicht verkehrt.“
Sie verschwanden mitsamt der Leiche, und die Atmosphäre im Raum lockerte sich wieder ein wenig auf. Der Indianer tastete sich an einen der Stühle heran, und Edgar tat es ihm gleich und begann umständlich seine Brille zu putzen. Somit war die Platzfrage geklärt. Ich stand auf, rollte Zoe meinen Bürostuhl um die Ecke und hockte mich ein weiteres Mal an diesem Tag auf die Schreibtischkante, während ich auf meinen Gedankenzettel unter die Rubrik Kuhn abknapsen Stuhl schrieb.
„Eins verstehe ich nicht“, begann ich erneut, ohne auch nur im geringsten zu ahnen, dass die beiden Bestattergehilfen von Koslowski gerade meinen neuen Spitznamen Xanthippe in die Welt hinaustrugen. „Ich möchte natürlich nicht indiskret sein, aber keiner von Ihnen scheint für Fiona Sympathie oder gar Liebe aufzubringen. Warum dann der Umstand mit der Aufbahrung? Ich meine, mit einem Loch im Kopf und diesen Gräulichkeiten, die die Pathologen wahrscheinlich mit ihr und Bruno angestellt haben, ist es doch seltsam, solchen Aufwand zu betreiben. Mal davon abgesehen, dass es auch ein paar Euros kostet?“ In diesem Moment schoss mir siedend heiß durch den Kopf, dass ich gerade Brunos Namen genannt hatte, obgleich er bisher nicht ein einziges Mal gefallen war. Ich merkte, wie mir die Farbe aus den Wangen wich, und ich merkte, wie Zoe es bemerkte. „Tut mir Leid“, stieß ich hastig hervor. „Ich habe mich immer noch nicht an den Gestank dieser Einbalsamierungstinktur gewöhnt.“
Der Indianer sah aus, als würde er gleich vom Stuhl kippen, und Edgar begann trocken zu würgen. Ich wurde noch blasser und kramte aus dem Papierkorb die Schnapsflasche, die ich bei der Durchsicht der Schubladen ausgegraben hatte. Sie wanderte von Mund zu Mund, und ich hoffte inständig, dass sie wirklich Schnaps enthielt und kein Embalming Flower mit einem Schuss Sandelholz. Doch was auch immer uns durch die Kehle rann, es wirkte dahingehend, dass sich meine Kundschaft wieder beruhigte. Ich mich ebenfalls.
„Sie erwähnten vorhin Bruno“, begann Zoe das Gespräch von Neuem, während die Männer den Schnaps noch unter sich kreisen ließen. „Kannten Sie ihn?“
„Nein!“ Ich versuchte so glaubwürdig wie möglich zu klingen und fragte mich, ob Zoe die Beschreibung von der etwas übergewichtigen Mordverdächtigen, die per Fahrrad flüchtete, gelesen hatte und gerade ihre Vergleiche anstellte. „Aber der Name stand ein paar Tage lang jeden Morgen in der Zeitung, genauso wie der von Frederike Kamm alias Fiona McCullen. Aber bei Bruno konnte ich mir nur den Vornamen merken. Vom Nachnamen ist mir so, als ob er mit C anfing, aber mehr bekomme ich nicht zusammen.“
„Cassebohm“, sagte Zoe, musterte mich aber immer noch aufmerksamer, als mir lieb war. „Hatten Sie nicht gerade erwähnt, Sie läsen keine Zeitung? Na ja, wie auch immer - wie heißen Sie eigentlich?“
„Pusch! ... Amaryllis Pusch.“ Ich nuschelte das Pusch zu einem Psch zusammen und beglückwünschte mich zu meiner Geistesgegenwart, nicht Delia gesagt zu haben.
„Amaryllis, was für ein wunderschöner Name. Ein Name, so außergewöhnlich, dass ich ihn bestimmt nicht wieder vergesse. Woher kommt er?“
Scheiße, dachte ich spontan. Bloß das nicht. Vergiss ihn ganz schnell wieder.
„Als ich geboren wurde, waren meine Eltern gerade in ihrer Flower-Power-Phase, hörten Peter, Paul and Mary und guckten Woodstock im Fernsehen. Damals wollten sie aus ihrem Bauernhof eine Landkommune machen, aber die anderen Bauern waren dagegen, und so mussten sie sich damit begnügen, ihren Kühen Blumenkränze umzuhängen und ihr Kind Amaryllis zu nennen.“ Eigentlich war ich auf den Namen Amaryllis Magnolia Pusch getauft worden, hatte mich aber schon mit fünf Jahren in Delia umbenannt. Die Lieblingskuh unseres Nachbarn hieß so, aber mir half der Name wenig. Ich buhlte nach wie vor vergeblich um die Gunst meiner Eltern. Sie waren zu sehr mit sich selbst beschäftigt. Als ich auszog, hatte sie das Dorf bereits zu biederen, abgekämpften Bauern umerzogen, die mit den Sorgen um die Gerstenernte zu Bett gingen und mit den Sorgen um die Heuernte wieder aufwachten. Als ich ihnen Eiko ankündigte, schien mir einen Moment, als erwögen sie, mich unter der Dorflinde vor dem Feuerwehrhaus steinigen zu lassen, doch dann begnügten sie sich damit, uns die Tür zu weisen.
„Tragisch, sein Lebensziel den äußeren Zwängen opfern zu müssen.“ Zoe betrachtete melancholisch ihre knochigen Finger. Auch sie trug jede Menge Ringe, und ich fragte mich, ob das Bedürfnis, sich mit Gold und Silber zu behängen, wohl in den McCullen’schen Genen verankert war. „Aber wenigstens waren die Kühe glücklich. Und Sie sind mit Papa und Mama aufgewachsen und nicht mit einem Trinker oder im Waisenhaus. Womit wir wohl wieder bei Ihrer Frage nach dem Warum das alles? wären, nicht wahr?“
Ich nickte. Wenn der zwinkernde Edgar und sein Halbbruder nicht bald die Flasche zur Seite stellten, würden sie Arm in Arm aus dem Laden torkeln.
„Die Sache ist die: Fiona und Bruno sind tot, und wir hier, weil wir erben wollen. Sie wissen schon,“ an dieser Stelle holte sie tief Luft und summte die Melodie zu dem Marilyn Monroe-Song Money makes the world go round, the world go round ...
„Zoe, bitte, hör mit dieser Summerei auf. Du bist nicht deine Mutter, du hast zwar ihre Stimme, aber der liebe Gott hat vergessen, dir eine Tonleiter mit in die Wiege zu legen.“ Edgar klang gequält. In seiner Gegenwart hatte sie vielleicht schon das eine oder andere Mal gesummt.
„Du bist ein humorloser Holzklotz, Edgar Kamm. Aber bitte, wie du willst. Der langen Rede kurzer Sinn. Es gibt nichts mehr zu erben. Was immer es gewesen ist, und die Gerüchte reichen von einem mit Centstücken vollgestopften Sparstrumpf bis hin zu Obligationen im Wert von mehreren Millionen, jetzt es ist weg. Entweder hat es nie existiert, oder aber die Mörder haben gründlich aufgeräumt. Kein Bargeld, kein Sparbuch, nicht einmal ein einziger goldener Kerzenständer. Wir sind um die halbe Welt gejettet, jedenfalls der eine oder andere von uns, und stehen nun vor dem Nichts. Also haben wir unsere tote Mutter verkauft.“ Sie beugte sich plötzlich vor, riss Edgar die Schnapsflasche aus der Hand und trank in zwei, drei großen Schlucken den Rest aus. „Ich bin nicht stolz darauf, ganz bestimmt nicht, aber andererseits kann sie wenigstens nach ihrem Tod was für uns tun.“
„Ich verstehe nicht.“
„Ganz einfach, Schätzchen. Wir verkaufen die Fotos von Fionas und Brunos Leiche an alle, die sie haben wollen. Die Regenbogenpresse und die großen Boulevardzeitungen werden sich wohl kaum lumpen lassen. Dazu liefern wir ihnen exklusiv unsere eigenen Geschichten. Verlassene Kinder, trunksüchtige Väter, das Waisenhaus. Rabenmutter Fiona McCullen. Eine Story in Fortsetzungen. Man wird sie uns aus den Händen reißen, glauben Sie mir. Unter hunderttausend Euro weigere ich mich ganz einfach, wieder in der Versenkung zu verschwinden. Und Edgar auch, nicht wahr, Edgar?“
Edgar nickte, zwinkerte jedoch stärker und sah peinlich berührt aus. „Sie müssen das verstehen, es ist nicht so, dass uns keine Skrupel plagen ...“
„Red keinen Stuss, Edgar, Skrupel würden mich plagen, wenn es sich um meine Mutter handelte. Ich meine im Sinne von - ach, ihr wisst schon. Wegen einer Fiona McCullen plagt mich nicht einmal der Anflug eines schlechten Gewissens. Zugegeben, dass ich mich auf ein derart tiefes Niveau begeben muss, ärgert mich natürlich, aber Skrupel wären absolut fehl am Platz. Du bist doch genauso pleite wie ich, oder etwa nicht? Wo ist denn das große Erbe? Wo klimpern die Millionen, hä? Nix is‘, außer dass uns die Kripo stundenlang verhört hat. Geradeso, als wäre einer von uns der Mörder. Dann, im nächsten Moment heißt es: Tut uns Leid, es war wohl doch der Einbrecher. Aber danke für Ihr Kommen und Auf Wiedersehen. Wir wünschen Ihnen eine gute Heimreise. Pah! Aber nun gut, wir sind hier, wir bleiben und machen das Beste aus dieser Tragikomödie. Wir verkaufen zwei Leichen, was soll’s? Selbst von läppischen hunderttausend Euro lässt sich eine Weile recht nett leben. Keine angemessene Bezahlung für das, was Fiona uns angetan hat, aber hunderttausend pro Nase sind besser als eine lange Nase von ihr.“
Edgar hatte angefangen, nervös mit seinem Fuß zu wippen und knabberte an der Unterlippe, während er jeglichen Blickkontakt mied. Eine Weile schwiegen wir alle und hingen unseren Gedanken nach. Ich konnte mich nicht zwischen Verständnis und moralischer Entrüstung entscheiden und war in dem Sumpf dazwischen steckengeblieben.
„Vielleicht sollten wir zum Geschäftlichen kommen“, zog mich Zoe wieder auf festen Boden.
Edgar hörte auf zu wippen und sah erleichtert aus. In den schwarzen Pupillen des Indianers spiegelte sich die Schnapsflasche wider. „Was wir wollen ist Folgendes. Wir wollen eine Leiche, in der man den Hollywoodstar Fiona McCullen wiedererkennt. Bruno ist unwichtig. Er sollte vielleicht etwas aufgebessert werden, aber letztendlich kommt es nur auf sie an. Sie soll wie eine Diva aussehen. Glauben Sie, Ihr Boss bekommt das hin?“
Ich lächelte unwillkürlich. „Er ist ein Künstler, soviel kann ich Ihnen versprechen. Möchten Sie vielleicht ein paar Vorher-Nachher-Fotos sehen?“
„Bloß nicht!“, stieß Edgar hervor und begann erneut mit seinem Fuß zu wippen.
„Her damit!“, forderte Zoe resolut, und ich ging die Ledermappe aus dem Hinterzimmer holen.
In den Augen des Indianers spiegelte sich keine Flasche mehr, als ich wiederkam. Er hielt sie geschlossen und schien mit verschränkten Armen ein Nickerchen zu machen. Edgar beobachtete demonstrativ einen Weberknecht, der halb tot in einer Zimmerecke hockte. Kurzzeitig fühlte ich mich an eine Schmierenkomödie erinnert. War die Welt wirklich so theatralisch, wie sie mir momentan vorkam, oder stimmte etwas mit meiner Wahrnehmung nicht?
Zoe blätterte die Fotokartons um. „Meine Fresse!“, murmelte sie andächtig. „Der könnte aus mir glatt einen Edgar schminken. Vielleicht sogar den Häuptling. Ein begnadeter Künstler, in der Tat. Jungs, ich glaube, wir sind hier goldrichtig. Wie teuer?“
„Den Preis“, entgegnete ich mit Würde, „sollten sie mit dem Maestro am Telefon aushandeln. Für eine echte Herausforderung kommt er Ihnen bestimmt entgegen. Sie haben nicht zufällig ein Bild aus Fionas Hollywoodzeit dabei?“
Zoe hatte, und zwar nicht nur eins, sondern ein Dutzend Bilder. Das früheste Foto zeigte Fiona beim Bruderkuss mit Hitler, das neuste war ein Standbild aus Verlorene Tage. Mir fiel etwas ein.
„Diese herrliche alte Villa. Erben Sie nicht das Haus?“ Erneut versuchte ich mein Erschrecken zu verbergen. Wenn ich weiterhin so ausrutschte, brach ich mir unweigerlich die Nase, und den Bruch konnte ich dann im Knast auskurieren. „In der Zeitung stand, sie wohnten in einem großen Haus irgendwo da oben am Hang des Klüts, und ein Freund sagte mir, es sei eine herrliche alte Villa aus der Gründerzeit. Können Sie das Grundstück samt Villa nicht verkaufen und den Erlös unter sich aufteilen?“
Unter dem energischen Zuklappen der Ledermappe zuckten wir alle zusammen. Die Augen des Indianers öffneten sich einen Spalt, spähten misstrauisch umher, und taten sich dann, als er sah, dass die Luft rein und die Mappe zu war, ganz auf. Ich konnte mir nicht vorstellen, dass sein Stamm die Feinde noch am Pfahl marterte. Er schien mir sehr zart besaitet.
„Das Haus? O Gott, Schätzchen, das verdammte Haus gehörte ihnen ja nicht einmal. Schlimmer noch, stellen Sie sich diese Frechheit vor, der Eigentümer verlangt von uns das Geld für eine komplette Renovierung. Ausgerechnet von uns. Da lachen ja die Hühner.“ Sie legte den Kopf in den Nacken und lachte schallend. Es hörte sich in etwa so fröhlich an wie das Geheul eines einsamen Wolfs.
„Ach du Sch ... Schande. Und da denke ich die ganze Zeit, ich hätte Probleme.“
„Wollen Sie darüber reden? Ich ziehe Ihnen für die Therapiestunde auch zehn Prozent Rabatt ab.“
„Nein, besten Dank, aber ich könnte vielleicht meinen Sohn und meinen Ex an Sie weitervermitteln. Sind Sie wirklich Psychotherapeutin? In Südafrika?“
„Ein Platz ist da so gut wie jeder andere, oder glauben Sie, am Kap gibt’s keine Mynheers mehr, die sich für den Nabel der Welt halten, und daran verzweifeln, dass die Schwarzen sie nicht mehr Bwana nennen und vor ihnen im Staub kriechen? Nein, Psychotherapie ist wohl der einzige Job, den man sogar bei den Eskimos ausüben könnte, wenn man denn Waltran oder eine tote Robbe als Bezahlung akzeptiert. Allerdings hatte ich in letzter Zeit etwas Pech und bin daher ein wenig knapp bei Kasse.“
„Tut mir Leid zu hören.“
„Meine Schuld, Schätzchen“. Sie zupfte ihre Außenrolle in Form. „Ich hätte dem Sohn des Vizepräsidenten eben nicht das Knie tätscheln dürfen. So etwas bringt nur Verwirrung. In meinem Fall auch Berufsverbot.“
An dieser Stelle schoben sich die klappernden Knochen meines Chefs durch die Tür und stürzten sich mit einem wilden Seitenblick in meine Richtung auf die Kundschaft. Ich hing noch eine Weile an meinem Schreibtisch herum und lauschte ungeniert. Als F.C.‘s Erben gegangen waren, ging ich ebenfalls. Drei Stunden den Vormittag, vier Tage die Woche, so lautete unser mündlicher Arbeitsvertrag. Der schriftliche Ausdruck fürs Jobcenter unterschied sich in wesentlichen Punkten vom mündlichen Original, ich hatte ihn eigenhändig verfasst. Extra für Ingeborg. Demnach bestanden meine Hauptaufgaben aus Leichenwaschen, dem Zunähen von Mündern, dem Tamponieren aller übrigen Körperöffnungen und natürlich - dieser Passus war Uwe gewidmet - dem Abbinden von Penissen.