Читать книгу Leben - Erben - Sterben - Charlie Meyer - Страница 7
5.
ОглавлениеIm Notarztwagen kämpfte ich mit einem Rettungssanitäter, der mir, wie einer einzubalsamierenden Leiche, einen intravenösen Zugang legen wollte. Ich gewann erst nach panischem Herumgebrülle, und er zog sich schmollend an die frische Luft zurück und warf nur ab und an einen Blick in den Wagen, offensichtlich in der Hoffnung, mich kollabieren zu sehen. Doch den Gefallen tat ich ihm nicht, eine Beule am Kopf reichte mir für den heutigen Tag vollauf aus. Ich rupfte mir die EKG-Elektroden von der Brust, pfiff über Handy ein Taxi heran und stieg um, ohne den geschwärzten Scheiben der Kuhn’schen Thanatopraxis auch nur einen letzten Blick zu gönnen.
Der Meister aller Leichen ließ sich ohnehin nicht blicken, und ich schwor mir, in Zukunft abgebundene Penisse und zugenähte Münder ebenso zu meiden wie Schläuche, aus denen geronnenes Blut tropfte. Mir persönlich hatte man erst einmal aus einem Infusionsschlauch etwas in die Adern tropfen lassen, und kurz darauf war Eiko aus meinem Bauch geflutscht. Momentan reichte mir diese Erfahrung als nicht wiederholenswert.
Im Taxi füllte ich die Rückseite der Jobzuweisung aus - Grund der Ablehnung: gesundheitliche Unverträglichkeit - und fügte den Unfallbericht aus dem Notarztwagen bei. Dann ließ ich beim Jobcenter halten und wankte zum Briefschlitz in der Tür.
Den Rest des Abends surfte ich in einem masochistischen Anfall mit meinem Bier kreuz und quer durchs Internet und las alles über die fachgerechte Einbalsamierung von Leichnamen. Nicht ohne Stolz stellte ich fest, dass ich dank Herrn Kuhns knapper Einführung bereits Expertin war und bei Papst Johannes Paul II am dritten Tag seiner Aufbahrung mangels Embalming Flower die ersten Totenflecke aufgetreten seien. Kuhn wäre diese Schlamperei nicht unterlaufen.
Thanatologie stellte sich als das Studium aller todbezogenen Gedanken, Gefühle, Verhaltensweisen und Erscheinungen heraus, Modern Embalming als die mir schon bekannte Leichenkonservierung im Dialyseverfahren - Einbalsamierungstinktur rein, Blut raus - und ein Thanatopraktiker war der Experte auf diesem Gebiet. Er sorgte dafür, dass bei der Aufbahrung alle Gliedmaßen an den ihnen zugedachten Stellen saßen. Wenn nicht, tauschte er sie aus und nähte sie da wieder an, wo sie hingehörten. Da auch Pathologen Flüchtigkeitsfehler unterliefen, drehte er Schädeldecken um und wechselte vertauschte Zehen aus. Darüberhinaus trug er dafür Sorge, dass eine Leiche weder zum Himmel stank noch in der Erde versickerte, bevor ihre Angehörigen einen letzten Blick auf sie geworfen hatten. Im Idealfall war ein Thanatopraktiker oder praktischer Thanatologe ein Bestatter mit einem breit gefächerten Expertenwissen. Er war Anatom, Pathologe, Bakteriologe, Chemiker und Biologe in einer Person, ein Menschenkenner und Psychologe par excellence und beherrschte alle Kniffe der restaurativen Wiederherstellung aus dem Effeff.
Was dieser Kuhn unter Creative Restoration verstand, konnte ich auf keiner Internetseite finden, und ich schloss das Thema Leichen mit einem Achselzucken ab.
Später, als der Mond über meine Dachfenster zu wandern begann, kramte ich das Hausbuch deutscher Balladen aus dem Bücherregal und stürzte mich auf die traurigsten. Mir den Tag von der Seele heulen konnte ich jedoch erst bei Conrad Ferdinand Meyers Die Füße im Feuer. Just an der Stelle Gemordet hast du teuflisch mir mein Weib! rollte ich mich auf dem Sofa zu einem Fötus zusammen und schluchzte die Lehne an. Einmal war mir, als bellte es tröstend in meinem Rücken, doch da ausgestopfte Hunde selten bellen, musste das Geräusch wohl vom Storchengrund hoch durchs offene Fenster gekommen sein.
Als die Sonne den Mond im Wandern ablöste, schlug ich die Augen wieder auf, faltete meine Gliedmaßen auseinander und wankte für zwei weitere Stunden ins Bett. Gegen zwölf trottete ich über die Weserbrücke zur Stadtbücherei, doch nach Straßen und Hausnummern geordnete Adressbücher gab es nur im Archiv nebenan, und an der Tür des Archivs nebenan hing ein Zettel: Wegen Renovierungsarbeiten vorübergehend geschlossen. F.C. zeigte mir huldvoll eine lange Nase, aber eine meiner bestechendsten Tugenden heißt Neugier. Ob es galt, das Geheimnis der Thanatopraxis zu lüften, unter die Bettlaken toter Greise zu spähen oder F.C.‘s ausfindig zu machen, Delia A. Pusch spitzte Augen und Ohren und kippte ab und an um. Ich freute mich schon darauf, Uwe in allen Einzelheiten zu berichten, was der Bestatter mit seinem kleinen Lümmel anstellte, sobald ich ihm - meinem Ex - den Hals umgedreht hatte.
Ich erwischte einen Bus Richtung Aerzen, stieg an der B1 in Wangelist aus und schlug mich mit dem Pusch’schen Ortungssystem, Marke Zickzack, zum Gamsstieg durch. Eigentlich nur bis zum Habichtswinkel nebenan, einer kleinen bogenförmigen Straße, die an beiden Enden wieder auf den Murmeltierpfad traf. Ich wanderte geduldig im Kreis, bis ich ein Opfer fand. Einen mittelalten Mann mit einer geschulterten Tasche voller Golfschläger. Um nicht gleich mit der Tür ins fragliche Haus zu fallen, bat ich ihn erst um die Uhrzeit, und erst dann, zehn Sekunden später, um Auskunft über F.C. und ihre Villa im Gamsstieg.
Er musterte mich stumm von den Sandalen bis zum fahlblonden Haar, und ich beeilte mich weiterzureden. „Sehen Sie, ich kenne die derzeitigen Bewohner. Nicht näher natürlich, einfach so, wie man sich vom Sehen und Grüßen eben kennt. Die alte Dame im Rollstuhl meine ich und ihren Butler Bruno. Jedenfalls habe ich mich gefragt, ob sie das Haus wohl verkaufen würde. Ich hätte sie natürlich anschreiben können, aber am Tor stehen nur ihre Initialen, F.C., und ich fürchte, es hört sich ein wenig unglücklich an, den Brief an eine Sehr geehrte F.C. zu richten. Einfach ins Haus platzen möchte ich auch nur ungern, und da dachte ich, ich erkundige mich vorher bei einem ihrer Nachbarn.“
Unbotmäßig langes Schweigen macht mich immer kribbelig, aber sein Schweigen, in Kombination mit diesem Blick, ließ mich ein Stoßgebet zum Himmel senden, er möge sich am ersten Wort seiner Antwort verschlucken und tot umfallen. Ich jedenfalls wollte nicht hören, was zu sagen er im Begriff stand. Auf das, was kam, war ich allerdings am wenigsten vorbereitet.
„Guten Tag.“ Er nickte mir kühl zu und stapfte mit den Golfschlägern auf der Schulter seines Armanihemdes an mir vorbei. Sie landeten auf dem Rücksitz eines silbernen Cabriolets, ein satter Motor brummte auf, und während ich noch verblüfft und mit offenem Mund dastand, kam er auf mich zugebraust und bremste abrupt. „Auf diese plumpe Masche fällt bei uns hier oben niemand rein. Ich dachte, ich hätte das heute Morgen schon dem ganzen Rudel dieser Hyänen klargemacht, die mir mit ihren Kameras und Mikrofonen vorm Gesicht rumfuchtelten. Kein Tratsch, keine Interviews, keine Stellungnahmen. Von mir und meinen Nachbarn erfährt niemand auch nur ein einziges Wort und sollte mein Name in irgendeinem Zusammenhang mit dieser Geschichte in irgendeinem Schmierenblatt erscheinen, verklage ich Sie. Ist das klar?“ Er wandte sich erst ab und mir dann doch noch einmal zu, während er den Motor wie ein Pubertierender mehrmals aufheulen ließ. „Ach ja, falls Sie vom Hamelner Kurier sind, wovon ich beinahe ausgehe, weil Sie das Drama ganz offenbar verschlafen haben, richten Sie Ihrem Chefredakteur netterweise aus, er kann sich unser Golfspiel am Samstag in dieselbe Örtlichkeit schieben wie meine Einladung zum Barbecue nächste Woche.“ Dann brauste er endgültig davon, und ich hätte dringend eines Thanatopraktikers mit Nadel und Faden bedurft, meinen Mund wieder zuzukriegen. Während ich mich umblickte, unsicher, ob ich einen neuen Versuch wagen sollte, floh eine kleine, drahtige Frau, die mit einer Heckenschere bewaffnet die Rosen in ihrem Vorgarten anvisierte, eiligst ins Haus zurück. Also ließ ich es. Irgendjemand, so schien mir, verwechselte mich mit einer aufdringlichen Reporterin. Nur warum?
Das warum eröffnete sich mir an der Ecke zum Gamsstieg. Der Übertragungswagen eines Fernsehsenders brauste an mir vorbei, und die Straße war mit Zigarettenkippen und zerdrückten Coladosen übersät, offenbar die Hinterlassenschaften einer dieser schnellebigen Medienmeetings, die immer dort abgehalten werden, wo Dramen den Alltag sprengen. Ein vergessenes Kabel schlängelte sich den Rinnstein entlang. Gelbe Bänder mit der Aufschrift Achtung - Polizeiliche Ermittlungen sperrten Grundstück und Haus von F.C. ab. Ich blieb mit wackligen Knien am Tor stehen und starrte über das Unkraut, das nun an mehreren Stellen plattgetrampelt war, zum Haus hinüber. Es wirkte plötzlich, als wäre es nach hundert Jahren aus seinem Dornröschenschlaf erwacht. Die Jalousien waren hochgezogen, und die Fenster blinzelten freundlich in die Sonne. Friedlich und einladend sah die Villa aus, und doch musste hinter ihren Mauern Entsetzliches geschehen sein.
F.C.‘s Prophezeiung ihres baldigen Endes fiel mir ein. Hatte sie Selbstmord begangen? Vielleicht war sie krebskrank gewesen, mit so unerträglichen Schmerzen, dass sie sich nicht mehr anders zu helfen wusste, als Tabletten zu schlucken oder ein Rasiermesser an den Handgelenken anzusetzen. Doch warum dann das Medienaufgebot? Während mir die Sonne auf den Scheitel knallte, fühlte ich Trauer und Wut in mir aufsteigen. Ich sah sie klein und verloren in ihrem viel zu großen Rollstuhl und wütete gegen mich selbst, dass ich nicht mehr als einen halbherzigen Versuch unternommen hatte, Anteil an ihrem Schicksal zu zeigen. Andererseits hatte ich es immerhin versucht, und war auf Granit gestoßen. Trotzdem war mein ganzes Trachten nur auf eins ausgerichtet gewesen: her mit Scheck und Hund und dann nichts wie weg. Arme F.C.! Armer Bruno!
Arme Delia! Den Hund war ich schneller wieder los als gedacht. Aus der Traum vom bequemen Reichtum. Tausend Euro, und das war’s dann auch schon. In den nächsten Tagen würde sich der Erbe bei mir melden und den Hund abholen. Mit einem mulmigen Gefühl in der Magengrube und von Zweifeln und Selbstvorwürfen geplagt, trabte ich zur Wangelister Straße zurück und wartete auf einen Bus.
Zuhause schob ich mir eine tiefgefrorene Lasagne in den Backofen und schaltete den Fernseher ein. N3, das Programm für Niedersachsen, und es dauerte nicht einmal eine Dreiviertelstunde, da flatterte auf dem Bildschirm vor F.C.‘s Villa das Absperrband im gestrigen Abendwind. Das Haus war hellerleuchtet, und Spurensicherer in weißen Schutzanzügen wuselten im Garten herum. In einer Einblendung wurden zwei Särge in einen Leichenwagen ohne Aufschrift geschoben. Die Reporterin kam mit einem Mikro ins Bild, das nicht weniger flauschig aussah als Churchill in meiner Ecke: „In dieser Villa im niedersächsischen Hameln ereignete sich ein schreckliches Drama. Ein Anwohner, der den ganzen Abend über Licht im Keller des Hauses Gamsstieg 3 sah, versuchte über längere Zeit hinweg vergeblich, seine Nachbarn telefonisch zu erreichen. Als er gegen Mitternacht hinüberging, um nach dem Rechten zu sehen, war die Haustür zwar zu, jedoch nicht abgeschlossen. Aufs Äußerste beunruhigt betrat er das Haus. Im Flur entdeckte er die Leiche eines zweiundachtzigjährigen Mannes, der als Bruno Cassebohm identifiziert wurde und im Wohnzimmer eine tote Fünfundachtzigjährige in einem Rollstuhl. Beiden war aus nächster Nähe in den Kopf geschossen worden. Die Frau werden die älteren Zuhörer unter ihnen vielleicht noch aus den Tagen ihrer Filmkarriere in Erinnerung haben. Es handelt sich bei der Ermordeten um Friederike Kamm, die während der NS-Zeit unter dem Namen Fausta Karmatin ein UFA-Star war und in vielen Spielfilmen die Hauptrolle spielte. Nach Ende des Zweiten Weltkrieges verschwand sie vorübergehend in der Versenkung und tauchte erst 1952 in dem MGM-Spielfilm Verlorene Tage in Hollywood wieder auf, wo sie sich Fiona McCullen nannte und eine zweite vielversprechende Karriere begann. Doch auch diese Karriere endete abrupt. Am Abend des 18. Juli 1959 stürmte Fiona McCullen auf eine Party des berühmten Schauspielers Gregory Peck und erschoss unter den Augen von zweihundert hochkarätigen Gästen ihren Gatten, den amerikanischen Produzenten Roger Nelson, durch fünf Schüsse in die Brust. Nach ihrer Tat floh sie, stellte sich jedoch auf Anraten ihrer Anwälte zwei Wochen später freiwillig der Polizei. Vor Gericht gab sie zu, ihren Gatten erschossen zu haben, weil er wenige Stunden zuvor den gemeinsamen Hund durch Rattengift getötet hatte ...“
Der Rest war mehr oder minder beitragfüllendes Geplänkel, aber viel mehr hätte ich auch nicht verkraften können. Ich starrte das Foto auf dem Bildschirm an, ein PR-Bild aus den Vierzigern, und konnte es kaum fassen. Eine berühmte Filmdiva. Ich erinnerte mich vage, Verlorene Tage gesehen zu haben, eine melodramatische Schnulze aus den Südstaaten, wenn mich nicht alles täuschte, aber der Name Fiona McCullen sagte mir nichts.
Das Ausmaß der Tragödie wurde mir erst klar, als mein Blick auf den Polski Owczarek Nizinny fiel. Ob sein Frauchen nun Filmdiva oder Toilettenfrau gewesen war, spielte keine Rolle, wohingegen ich mir über die Tatsache, dass man sie aus nächster Nähe geradezu hingerichtet hatte, ein paar Gedanken machen sollte. Wer schoss einer kleinen, alten Frau in einem viel zu großen Rollstuhl und ihrem achtzigjährigen Butler einfach so eine Kugel in den Kopf? Antwort: ein in die Enge getriebener Einbrecher, versehentlich auf frischer Tat ertappt. Doch von Einbrecher und Diebstahl war im Fernsehbericht keine Rede gewesen. Mögliche Alternativen: ein Perverser mit Lust am Töten oder jemand, der gekommen war, etwas zu holen, was es im Haus nicht mehr gab, woraufhin er in Wut geriet. Zum Beispiel einen ausgestopften Hund. Churchill. In diesem Fall würde es einen Sinn ergeben, dass Fiona McCullen ihn auf so merkwürdige Art von mir außer Haus schaffen ließ. Und in diesem Fall liefen ihre kryptischen Anspielungen bezüglich der Aufmerksamkeit, die die Öffentlichkeit ihrem Tod schenken würde, auf das Wissen um ihre mögliche Ermordung hinaus. Selbst Brunos letzte Worte ergaben plötzlich einen Sinn. Erzählen Sie niemandem von dem Hund. Trauen Sie keinem.
Ich starrte Churchill an, und er starrte mit hängender Zunge zurück. Wurde er tatsächlich von einem skrupellosen Mörder gesucht? Und ich vielleicht mit ihm?
Wie auch immer, Delia A. Pusch, eine vorsichtige Frau, die am Leben hing - trotz allem - würde sich auf der Stelle den Hund unter den Arm klemmen und ihn bei der Polizei abliefern. Einen Moment lang spielte ich mit dem Gedanken, den Scheck zu unterschlagen, schließlich lebten die Einzigen, die von unserem Geschäft wussten, nicht mehr, aber dass ich den ausgestopften Hund einer mir völlig Unbekannten aus reiner Herzensgüte hütete, klang selbst in meinen Ohren unglaubwürdig. Nein, ich würde die tausend Euro wohl wieder herausrücken müssen. Außer Spesen nichts gewesen, ein Spruch, den ich mir gestickt an die Wand hängen sollte. Oder treffender noch: Die Dummen sterben niemals aus.
Als ich loszog, den Hund in seinem Kopfkissenbezug geschultert, hofften meine Nachbarn bestimmt, der Vermieter habe mich vor die Tür gesetzt, und ich suchte mir nun mit dem Rest meiner Habe ein gemütliches Plätzchen unter einer der Weserbrücken. Frau Reschke unter mir beschwerte sich alle paar Tage. Der Fernseher, die Stereoanlage, vor allem aber mein Herumgerenne Tag und Nacht irritiere sie, und Frau Müller, die ihr gegenüber wohnte, pochte immer dann an meine Tür, wenn ich mir mit meinem Spiegelbild erbitterte Wortgefechte lieferte.
Ich kam mit dem Hund tatsächlich nur bis unter die Thiewallbrücke. Kaum fünfhundert Meter von meiner Wohnung entfernt, wurde mir bewusst, mit dem Einschalten der Behörden finanziellen Selbstmord zu begehen. Ich würde die ganze Story haarklein erzählen müssen, schon allein deshalb, um nicht als Spinnerin in die Landesklinik eingewiesen zu werden: meine Anzeige in der DEWEZET, Service AG. Aufträge aller Art. Diskretion garantiert, Fiona McCullens Anruf, unser geschäftliches Abkommen, der Scheck, der Hund. Die Polizei würde mich routinemäßig überprüfen, da ich vielleicht sogar die letzte Person im Universum war - außer dem Mörder natürlich - die F.C. und Bruno lebend gesehen hatte.
Ich befürchtete nicht, auf der Stelle als Doppelmörderin in Ketten gelegt zu werden, o nein, aber die polizeiliche Recherche würde ergeben, dass ich eine aus jener Schar war, die der Staat so großzügig unterstützte, während sie es ihm mit Schwarzarbeit dankte. Eine aus der Schar der betrügerischen Hartz IV-Empfänger, der unverzüglich die Unterstützung zu streichen ist.
Ich sah Ingeborg Schulzes dämonisches Grinsen förmlich vor mir, den Blick, den sie mit einem gewissen Uwe Brickenrodt tauschte und den großen roten Stempel, der nur ein einziges Wort auf meine geschlossene Akte donnerte: Erledigt! Natürlich konnte ich versuchen, mich mit Unwissenheit, Vergesslichkeit oder einfach damit zu rechtfertigen, dass ich den Scheck noch gar nicht eingelöst hatte, doch meine Glaubwürdigkeit lag nun mal im Ermessen einer gewissen Ingeborg Schulze im Jobcenter, die sich an jede meiner Gemeinheiten aus der Schulzeit erinnerte. Die neuralgischen Stellen auf meiner Kopfhaut fielen dabei bestimmt nicht in die Waagschale. Ingeborg Schulze, soviel stand fest, würde mich durch die behördliche Walze drehen, bis mir mein schwarz verdientes Geld zu den Ohren wieder herausquoll. In den vergangenen Monaten hatte ich eine ganze Latte von Nebenbeiarbeiten verrichtet.
Egal, von welcher Seite ich es gedanklich durchspielte, und egal, wie sehr ich mir einen großen, starken Beamten mit Totschläger und Pistole an meiner Seite wünschte, blieb mir der Schoß der Polizei doch verwehrt.
Also trug ich Churchill zähneknirschend in den Storchengrund zurück und schenkte mir ein Glas Beaujolais ein, um die kleinen, grauen Zellen bei Laune zu halten. Es galt, einen Plan zu schmieden, wie ich auch ohne Polizei mit heiler Haut aus der Sache herauskam. In der DEWEZET, die ich Paul, dem schüchternen jungen Mann aus der ersten Etage, von der Türmatte stibitzte, fand ich den gesuchten Artikel bereits auf der Titelseite in einem schwarz umrandeten Kästchen. Dort, wo sonst die Katastrophen der Welt vermeldet wurden.
Unter der Überschrift Hollywoodstar in Hameln brutal ermordet stand nichts, was ich nicht bereits wusste, mit Ausnahme der Tatsache, dass die Polizei nun doch von einem Einbruchsdelikt ausging, da ein Nachbar zur vermuteten Tatzeit eine verdächtige Person mit einem Sack über der Schulter aus dem Haus kommen und flüchten sah. Mir fiel ein Stein vom Herzen. Kein Mord wegen des ausgestopften Churchills sondern ein Mord aus reiner Habgier. Die goldenen Kerzenhalter musste ich wohl im Dämmerlicht übersehen haben. Meine Paranoia atmete tief durch und löste sich in Wohlgefallen auf. Bis ich die Zeitungsseite raschelnd umblätterte und das Phantombild entdeckte. Eine dickliche Person mit verkniffenem Gesicht und einem prallen Sack über der Schulter, die auf einem Fahrrad saß. Unter dem Bild stand die Beschreibung:
„Eine übergewichtige Frau zwischen fünfunddreißig und vierzig, mit schulterlangen fahlblonden Haaren, braunen Augen und einer langen geraden Nase. Bekleidet war die Verdächtige mit einer hellen Sommerhose und einer längs gestreiften Bluse. Sie flüchtete mit der Beute auf einem alten, verrosteten Fahrrad. Bei dem Fahrrad handelt es sich nach Angaben des Augenzeugen um ein Hollandrad der Marke ... (es folgte eine genaue Beschreibung). Hinweise, die zur Ergreifung der Verdächtigen führen, bitte an die folgende Telefonnummer der Soko Fiona ... oder die nächste Polizeistation. Die Stadt Hameln hat für Hinweise, die zur Ergreifung der mutmaßlichen Täterin führen, eine Belohnung von 10.000 Euro ausgesetzt.“
Ich konnte es kaum fassen, doch zum ersten Mal in meinem Leben - abgesehen von meiner eigenen und Eikos Geburtsanzeige - war ich in der Zeitung. Mehr noch. Die Kripo hatte eigens einen Phantomzeichner bemüht, nur um mein Bild in die Medien zu bringen. Ungläubig las ich den Steckbrief noch einmal, doch da stand es schwarz auf weiß: ich, Delia A. Pusch, wurde als F.C.‘s Mörderin öffentlich gesucht! Nicht namentlich natürlich, aber immerhin!
Als Nächstes fand ich mich im Badezimmer wieder und spuckte meine Pizza und den Beaujolais in die Toilettenschüssel. Nicht, dass vor einer Stunde meine Welt noch in Ordnung gewesen wäre, aber es hatte wenigstens noch eine Welt gegeben. Nun degradierte mich das Phantombild in der DEWEZET zu einer Gefangenen meiner eigenen Wohnung. Mir war, als trüge ich plötzlich eine elektronische Fußfessel, die in ganz Hameln Alarm auslöste, sobald ich das Haus verließ. Zehn Minuten später, und um ein Pfund leichter, schleppte ich mich auf mein Sofa und starrte durchs Dachfenster in den Himmel. Es sah nach Regen aus. Gut. Ich mochte keinen Regen und blieb bei Nässe ohnehin lieber zu Hause.
Als es auf die Scheibe zu prasseln begann, schoss ich wieder hoch. So ging es nicht, ich durfte auf keinen Fall Däumchen drehenderweise zusehen, wie mich die Mühlen der Justiz zermalmten, es sei denn, ich zog es vor, den Rest meines Lebens in der Abgeschiedenheit einer Einzelzelle zu verbringen. Ich konnte mir keine Staranwälte leisten wie O.J. Simpson oder Michael Jackson, ich musste mit Hubert Riese, dem netten Pflichtverteidiger aus dem Nachbarhaus, vorlieb nehmen, der abends seinen Dackel an der Weser Gassi führte.
Ich geriet in Hektik. Zu allererst musste das Belastungsmaterial versteckt oder unkenntlich gemacht werden. Also mein Fahrrad und ich. Der Augenzeuge - wahrscheinlich ein Anwohner des Murmeltierpfades, der beobachtete, wie ich den Hund im Kopfkissen vorbeitrug - hatte das Fahrrad ziemlich genau beschrieben. Marke, Farbe, Rost, wer immer meinem Drahtesel zufällig über den Weg lief und ihn mit der Beschreibung verglich, hatte gute Chancen die Belohnung einzuheimsen. Ich raste nach unten vors Haus, schnappte das Rad am Rahmen und trug es in meinen Keller. Beim Anblick der in einer Ecke gestapelten Farbeimer und Lackdosen kam mir eine Idee. Ich schüttelte die Lackdosen der Reihe nach durch, in der kornblumenblauen gluckerte es. Zuletzt hatte ich damit auf Eikos Wunsch für sein Zimmer einen Teewagen vom Sperrmüll lackiert.
Den Rest des Nachmittags verbrachte ich mit Schmirgelpapier und Pinsel. Gegen Abend leuchteten mein Fahrrad, der Kellerboden und ich selbst kornblumenblau, doch ich betrachtete mein Werk mit der Zufriedenheit eines erfolgreichen Künstlers. Bis mir die Nachbarn wieder einfielen. Würden sie nicht stutzen, wenn ich anstatt eines verrosteten grünen urplötzlich ein frisch lackiertes blaues Fahrrad fuhr? Ich musste mir etwas einfallen lassen. Vorerst jedoch schlich ich in meine Wohnung zurück, während das ganze Haus verdächtig nach Lack stank und badete in Pinselreiniger. T-Shirt und Jeans waren reif für den Müll. Die Socken ebenfalls. Wenn ich mich künstlerisch betätige, dann unter vollem Körpereinsatz. Nachdem ich mir die kornblumenblauen Haarspitzen abgeschnitten hatte, suchte ich nach dem Haarfärbemittel und wurde - wieso auch immer - im Sicherungskasten fündig. Mir blieb keine Zeit, auf eine Besserung meines Selbstbewusstseins zu warten. Ich musste handeln, und zwar sofort!
Das Ergebnis war kupferrot, genauso wie ich es in der Werbung an den Models ständig bewunderte, nur sah es bei mir natürlich verboten aus. Den Tränen nahe, probierte ich alles durch, was mein Schminkköfferchen an Auswahl bot. Bräunungscreme, Rouge, Lidschatten, Eyeliner und etliches mehr. Gegen neun Uhr abends blickte mir ein zähnefletschender Vamp aus dem Spiegel entgegen, und ich rettete mich mit einem Glas Beaujolais vor den Fernseher.
Das Programm war umgestellt worden. Zu Ehren der verstorbenen Diva Fiona McCullen hatte Pro 7 seine Filmkiste durchwühlt und ganz ganz unten den MGM-Film Verlorene Tage gefunden. Sie spielte großartig, und an mehr als einer Stelle dachte ich an die erschossene kleine Frau im großen Rollstuhl und heulte eine Runde. Der Film war 1954 gedreht worden, und wenn sie nicht ein Jahr später ihren Mann umgebracht hätte, wäre vielleicht eine wirklich große Schauspielerin aus ihr geworden, deren Name, wie der von Katherine oder Audrey Hepburn, noch heute durch das Gedächtnis der Leute geisterte.
Im Anschluss an den Film brachte Pro 7 ein Revival mit alten Dokumentaraufnahmen, Ausschnitten aus ihren Filmen zur NS-Zeit und einer Szene, in der sie, brünett und mager, 1939 bei einem Essen in kleinem Kreis mit Hitler Brüderschaft trank und Küsschen rechts und links auf die Wangen austauschte. Sie konnte nicht älter als neunzehn oder zwanzig gewesen sein, blutjung also, trotzdem ließ sich nicht leugnen, dass ich ab dieser Szene ein klein wenig auf Distanz ging. Am anderen Ende der Tafel, gleich neben Goebbels, hob F.C.‘s erster Ehemann, der Regisseur Leopold Kamm, sein Glas und prostete den beiden über den Tisch hinweg zu. Die Filmaufnahmen aus ihrer deutschen Karriere endeten im Jahr 1944. Alle folgenden Sequenzen begannen elf Jahre später jenseits des Atlantiks in den USA. Aus der eher mageren Brünetten von einst war eine vollschlanke, von Hollywoodgrößen umschwärmte Blondine geworden, die ihren Ruhm jedoch nur ein kurzes Jahr lang genießen durfte. Die abschließenden Szenen des Revivals zeigten sie erst, von Anwälten geradezu eingemauert, auf dem Weg in den Gerichtssaal und schließlich, wie sie hinter den Mauern von Leavenworth verschwand, um ihre lebenslange Freiheitsstrafe anzutreten. In der allerletzten Szene hastete Fiona McCullen, eine Decke über dem Kopf, nach zwanzigjähriger Haft endlich begnadigt und von ihrem Anwalt geführt, zu einer vor dem Gefängnis parkenden Limousine.
Der Kommentator schloss mit den Worten, dass sich dann „ihre Spur verlor“ und fuhr fort: „Der Mord an Fiona McCullen und ihrem dritten Ehemann Bruno Cassebohm erschüttert ganz Hameln. Wie erst jetzt bekannt wurde, folterte der Mörder Bruno Cassebohm, bevor er ihn erschoss. Polizeiberichten nach fanden sich auf seinen Armen Brandwunden, die höchstwahrscheinlich von einer Zigarette stammen.“
Der Bericht ging noch einen Moment weiter, aber ich fühlte mich wie vor den Kopf geschlagen und schaltete ab. Er war gefoltert worden? Ich kämpfte gegen die aufsteigende Übelkeit an. Wie konnte jemand einen kleinen alten Mann foltern, der sich ohnehin nicht mehr zu wehren vermochte? In einer betulichen Stadt wie Hameln? Unglaublich.
Wieder kamen mir die Tränen. Eine Weile lief ich schnüffelnd durch die Wohnung und dachte daran, mit welcher Selbstverständlichkeit ich Bruno als Butler eingestuft hatte. Dabei war er ihr Mann gewesen. Ihr dritter Ehemann! Nr. 1, der Naziregisseur mit seinen Connections zur oberen Führungsriege, verschwand dem Bericht nach mit Kriegsende spurlos und tauchte im Gegensatz zu seiner Frau nie wieder auf. Die Meinungen, wo er abgeblieben war, teilten sich. Die einen behaupteten, von den Alliierten standrechtlich erschossen, die anderen wähnten ihn untergetaucht in Südamerika. Von offizieller Seite wurde er für tot erklärt, womit F.C. plötzlich zur Witwe wurde. Wo sie sich - jetzt wusste ich endlich, dass die Initialen für Friederike Cassebohm standen - bis 1954 aufhielt, war ebenfalls unbekannt. Auf jeden Fall heiratete sie in diesem Jahr unter falschem Namen und in einem fremden Land Ehemann Nr. 2, einen amerikanischen Produzenten, den sie ein knappes Jahr später erschoss, nachdem er ihren Hund vergiftet hatte. Danach saß sie zwanzig Jahre im Zuchthaus von Leavenworth ab, wurde begnadigt und kehrte auf verschlungenen Wegen nach Deutschland zurück, wo sie Bruno Cassebohm ehelichte und ...
Der Hund! Mein Kopf fuhr herum. Natürlich, wieso war mir das nicht schon früher eingefallen? Churchill war der vergiftete Hund! Seinetwegen hatte F.C. ihren Mann erschossen und zwei Jahrzehnte hinter schwedischen Gardinen verbracht. Ich starrte ihn an, aber er sah nicht dämonischer aus als zuvor, obgleich er, wenn mich meine böse Ahnung nicht trog, nicht weniger als drei Menschen auf dem Gewissen hatte. Herrchen, Frauchen und Frauchens dritten Ehemann. Sein viertes Opfer starrte ihn wahrscheinlich gerade sorgenvoll an. Ich konnte nur hoffen, dass es sich bei dem Mörder um einen ganz gewöhnlichen Einbrecher mit Spaß am Foltern alter Männer gehandelt hatte, aber das schien mir nicht sehr wahrscheinlich. Durch meine Wenigkeit schafft Fiona den Hund außer Haus. Unmittelbar darauf wird sie umgebracht. Und bevor man Bruno ebenfalls tötet, foltert man ihn. Warum foltert man einen Menschen? Um ihm eine Information abzupressen. Zum Beispiel die, wo ein gewisser ausgestopfter Hund abgeblieben ist.
Meine Nackenhaare stellten sich auf, und in der Hitze des Sommertages, in meiner aufgeheizten Dachgeschosswohnung, wurde mir eiskalt. Entweder ich beging finanziellen Selbstmord, indem ich mich vertrauensvoll an die Polizei wandte oder ich riskierte, eines Morgens mit durchschnittener Kehle aufzuwachen. Es bestand natürlich die vage Möglichkeit, dass Fiona oder Bruno trotz Folterung den Mund gehalten hatte, doch die Wahrscheinlichkeit lag meines Erachtens nach bei null. Mit einem wahren Panthersatz war ich an der Wohnungstür und würgte den Schlüssel herum, bis er abzubrechen drohte.
Natürlich konnte ich mich des Hundes ganz einfach entledigen, indem ich ihn, gut verpackt, in den Müllcontainer warf. Diese Lösung bot den Vorteil, dass die Polizei im Fall einer Wohnungsdurchsuchung bei mir nicht fündig wurde. Andererseits suchte sie ihn gar nicht, weil ihr seine bloße Existenz unbekannt war. Sonst hätte es sicher in der Zeitung gestanden. Sie fahndeten nach goldenen Kerzenständern, oder was immer Einbrecher in ihren Säcken abtransportierten. Den Hund suchte der Mörder, und wenn der ihn bei mir nicht auf Anhieb fand, würde er sich eine Zigarette anzünden und ... Nein, Churchill im Müll zu entsorgen, war doch keine so gute Lösung, erst einmal musste es der Kleiderschrank tun. Dafür zerriss ich schweren Herzens den Scheck und verbrannte jeden Schnipsel einzeln im Aschenbecher. Einlösen konnte ich ihn sowieso nicht. Obgleich mein Name nicht auftauchte, sondern nur An Überbringer auf dem Papier stand, würde sich der Schalterbeamte meinen Personalausweis zeigen lassen und die ID-Nummer notieren.