Читать книгу Leben - Erben - Sterben - Charlie Meyer - Страница 3

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„Ich kill dich, du verdammter Köter!“, knurrte ich gereizt und schabte den Kot von der Fußsohle an den Bordstein. Der Menge nach musste es ein Neufundländer gewesen sein. Ein Bäuerchen und zwei Kilo Hinterlassenschaft pro Tag - mitten auf dem Bürgersteig - und der Hund fühlt sich wohl. Ich hingegen kochte. Eine Quasi-Scheidung, eine gerade in die Brüche gegangene Beziehung und ein Sohn, der obdachlos spielte und mit einem Zweimannzelt entlang des Weserradweges von Campingplatz zu Campingplatz radelte, hatten mich im Laufe der letzten zwölf Monate nicht eben duldsamer werden lassen. Von meinem chronischen Geldmangel ganz zu schweigen.

In der Villa, gegen deren schmiedeeisernes Gitter ich mein Fahrrad vorübergehend gelehnt hatte, bummerte ein Mann gegen das Panoramafenster seines Wohnzimmers. In multikultureller Gebärdensprache bedeutete er mir zu verschwinden und die Hinterlassenschaft des Neufundländers mitzunehmen. Ich lächelte und kehrte ihm den Rücken zu. Erst jetzt schoss mein Mittelfinger in die Höhe. Die Villen-Hamelner hier oben standen in dem Ruf, unliebsame Personen gern und häufig zu verklagen. Dem Volksmund nach wussten sie nicht so recht wohin mit all ihrem Geld. Ich hingegen stammte aus den niederen Stadtgefilden, die sie zu überblicken gezwungen waren. Es war sinnlos, mir den Stempel der Bedürftigkeit von der Stirn schrubben zu wollen. Wie einer jener Blutflecken in Horrorgeschichten tauchte er jeden Morgen aufs Neue auf. In meiner Siedlung, im Überschwemmungsgebiet der Weser, hießen die Straßen Storchengrund, Froschpfuhl und Entengang, während sich hier am Hang, direkt unterhalb des Klütwaldes, auf den Schildern Geschöpfe tummelten, denen keine Schwimmhäute zwischen den Zehen wuchsen.

Ich fand die gesuchte Hausnummer, indem ich endlich den Gamsstieg fand, eine schmale Sackgasse, die vom Murmeltierpfad abzweigte. Auf einem Kupferschild neben dem Tor entzifferte ich, kaum noch lesbar, F.C., was mich nicht eben schlauer machte. Eine Weile stand ich zweifelnd herum und starrte auf die Initialen. Sollte ich mich wirklich mit einer Kundin einlassen, die sich weigerte mir ihren Namen zu nennen? Erst am Telefon und nun gar am Tor des eigenen Hauses? Ich blickte bereits auf eine albtraumgeplagte Nacht mit allerlei Horrorvisionen zurück, in denen mich abwechselnd Polizei und Gewerbeaufsicht jagten. Schließlich bot ich Schwarzarbeit an - die moderne Form des russischen Roulettes. Fünf Platzpatronen, die letzte Kugel trifft dich mitten in die Stirn. Nach all den Schicksalsschlägen der vergangenen zwölf Monate traute ich niemandem mehr. Vor allem nicht meinem Glück.

Dann gab ich mir einen Ruck. Ich brauchte das Geld, ergo brauchte ich die Kundin, egal ob mit oder ohne Namen. Mein Fahrrad parkte ich außer Sicht im Murmeltierpfad an einem Baum, ich wollte F.C. nicht gleich mit all meinem Elend über die Schwelle stolpern. Es reichte, wenn ich ihr den Neufundländer in die Berber und Perser trat.

Ich zupfte meine helle Sommerhose und die gestreifte Bluse zurecht, kämmte mir mit den Fingern die Haare und schritt mutig auf das Tor zu. Die innere Stimme, die mich dringlich zur Umkehr mahnte, schleppte ich einfach mit.

Das Haus verbarg sich hinter einer Reihe hoher Fichten und war genau so, wie ich Häuser liebte. Alt, verwinkelt und mit wildem Wein bewachsen. Eine hochherrschaftliche Villa aus der Gründerzeit, die lediglich ein wenig Fassadenkosmetik benötigte. Ich dachte an Hartz IV und meine für Mittwoch anstehende Vorladung ins Jobcenter und schluckte vergeblich am Neid. Er war zu groß, die Kehle zu eng. Es war ein geräumiges, zweigeschossiges Walmdachhaus, an das sich linkerhand ganz vertrauensselig ein sechseckiger Turm mit einer spitzen roten Zipfelmütze schmiegte. Das obere Stockwerk zierte eine umlaufende Galerie aus Eichengebälk, ums Erdgeschoss mit seinen Erkern wucherte das Unkraut. Hier wohnte offenbar eine Seelenverwandte in Sachen Naturgarten, obgleich mir natürlich das Terrain zur Verwirklichung meiner Träume fehlte und ihres mich durch ein Übermaß an Brennesseln und Giersch irritierte. Vom hohen Gartentor, das sich knarrend auftat und unter einem Sandsteinbogen hindurch ins sagenhafte Land Oz führte, wand sich ein schmaler, gewundener Pfad durchs Unkraut zum Haus.

Nur der knallgelbe Briefkasten vor der bröckelnden Natursteinmauer, die das Grundstück umgab, ließ mich vertrauensvoll hoffen, dass uns nicht plötzlich der große Märchenerzähler im Himmel das Buch über dem Kopf zuschlug.

Allerdings sah die alte Villa so verlassen aus wie ich mich fühlte, wenn mein erster morgendlicher Blick auf das leere Kopfkissen neben meinem fiel. Mit Ausnahme von Rapunzels Turm waren vor allen Fenstern Jalousien heruntergelassen, die, moos- und algengrün eingefärbt, wohl schon eine ganze Weile das Tageslicht aussperrten. Ich fragte mich, ob einer der Hausbewohner an einer Lichtallergie litt, während ich die drei Stufen zur Tür erklomm und vergeblich nach einer Klingel suchte. Es gab nur einen schwarz angelaufenen Türklopfer in Form eines Hundekopfes. Bulldogge? Vielleicht war es das kalte Metall unter meinen Fingern, ich fröstelte urplötzlich inmitten der Hitze, und all meine feinen Härchen strebten gen Himmel.

Irgendein unheimlicher Jemand war gerade über mein Grab gelaufen.

Als das dumpfe Pochen des Türklopfers in der Mittagshitze verhallte, öffnete ein kleines, dürres Männchen von schätzungsweise über achtzig Jahren, begrüßte mich mit einem in Grimm getunkten Blick und murmelte etwas, das mich wieder einmal gegen die Grenzen meiner humanistischen Bildung prallen ließ und spontan verärgerte.

„L’exactitude est la politesse des rois, wie Ludwig XVIII so treffend zu sagen pflegte.“

Politesse und rois bekam ich noch hin, doch l’exactitude war, falls es sich dort jemals aufgehalten hatte, meinem Vokabelgedächtnis seit Längerem entschwunden.

„Pünktlichkeit ist die Höflichkeit der Könige“, übersetzte das Butlermännchen höflich, während meine Ohren noch dem scharfen Was? meiner Stimmbänder hinterherlauschten.

Wie bereits erwähnt, fiel dieser Kundenbesuch nicht in die toleranteste Zeit meines Lebens, und seit Wochen schon hielt ich mich mit eisernem Zügel zurück, nicht jeden in seine atomaren Bestandteile zu zerpflücken, der mir komisch kam. Wobei komisch eine so breite Palette umfasste, dass letztendlich alle meine Reaktionen unberechenbar waren.

Ich mochte mich nicht, warum sollte ich da andere mögen?

Denk an das Geld, schärfte ich mir ein, als ich dem Türöffner durch einen langen dämmrigen Korridor in ein großes, dämmriges Zimmer folgte. Viel zu viel Zeit für mich, meine Verspätung - keine halbe Stunde - aufs Umständlichste zu erklären. Das Auto war nicht angesprungen, der Nachbar musste mit einem Starterkabel aushelfen, ich erwischte die falsche Straße und landete am Finkenborn. Erst gegen Ende der Lügerei bemerkte ich die vergessene Fahrradklammer am Hosenbein, und mein Führer antwortete dann auch mit einem Schweigen, das mir geradezu in den Ohren brüllte.

Holzdielen knarrten unter meinen Füßen, Staub juckte auf meiner Haut, und die Muffigkeit, vermischt mit Essensdünsten, ließ mich nur widerwillig atmen. Während meine Augen noch versuchten, sich an die Dämmerung zu gewöhnen, klappte in meinem Rücken eine Tür. Der Butler hatte mich pflichtgemäß abgeliefert und ging seinen sonstigen Butlerpflichten nach.

„Hallo?“, fragte ich aufs Geratewohl ins Zwielicht, spähte mit Eulenaugen umher und glaubte als Antwort das Quietschen eines eingerosteten Mechanismus zu hören. Sehen konnte ich so gut wie gar nichts. Es war nur ein matter Schimmer, der die schweren Vorhänge durchdrang. Ich erkannte lediglich die Umrisse von Möbeln, etwas, das kniehoch war, vier Beine hatte und reglos in einer Ecke stand und einen großen dunklen Schatten in Richtung des Quietschens. Ich brauchte etwa zehn Sekunden, um die Geduld zu verlieren. Bis zur Tür waren es nur drei Schritte rückwärts, meine Finger ertasteten den Lichtschalter, es klickte - und die Dunkelheit blieb.

Der Schatten kicherte belustigt. „Stromausfall. Seit zehn Minuten“, erklärte eine Stimme, die mich, wie schon bei unserem Telefonat, in ihrem Wohlklang so eigenartig berührte, dass sich mein Magen verkrampfte. „Aber falls Sie die Dämmerung nicht ertragen können, dürfen Sie ausnahmsweise die Vorhänge aufziehen. In meinem Alter ist man nicht mehr erpicht darauf, die Welt dort draußen einem so fröhlich ins Antlitz blicken zu lassen. Die Würmer werden sich früh genug wieder zu mir durchgebissen haben.“

Die Verkrampfung meines Magens verstärkte sich, diesmal allerdings aus anderen Gründen. Meine eigene Stimmung war schon zu morbide, um das Geräusch prasselnder Erde auf einem Sarg ertragen zu können. Ich beeilte mich, an die Vorhänge zu kommen.

Die Abendsonne blieb aus. Im Laufe der Jahre, die das Wesen im Rollstuhl vor mir schon auf die Würmer gewartet haben mochte, waren die Fenster von dem Unkrauturwald rings ums Haus nahezu zugewachsen. Das Dämmerlicht hellte sich lediglich auf und färbte sich grünlich. Aber es reichte, meine Gastgeberin zu mustern. Sie tat ein Gleiches mit mir, und es ist schwer zu sagen, ob einer von uns beiden zu dem Ergebnis sympathisch kam. Sie mochte im Alter ihres Butlers sein, besaß aber im Gegensatz zu ihm einen beeindruckenden Schopf goldblond gefärbter Locken, die ihr bis auf die Schultern hingen. Die Augen, deren Farbe ich nicht erkennen konnte, lagen schon tief in den Höhlen, und zwei scharfe Halbmonde hatten sich rechts und links der Mundwinkel in die Wangen gegraben. Ansonsten war ihr Gesicht so glatt wie auf den Werbepostern eines Schönheitsoperateurs. Lediglich ihr fahler, faltiger Hals verriet das hohe Alter. Er ging in ein mit Altersflecken gesprenkeltes Dekolleté über, das ein köchellanges Kleid aus grober weißer Baumwollspitze großzügig zur Schau stellte. Ihre Finger, von denen jeder bis auf die Daumen mit ein bis drei Ringen bestückt war, umklammerten die Reifen des Rollstuhles. Ihre nackten Füße lugten Zentimeter oberhalb der Fußstützen unter der Baumwollspitze hervor, knochig, mit verkrümmten Zehen und knallrot gefärbten Nägeln.

Die muffige Hitze staute sich, und der Schweiß stand mir auf der Stirn.

„Sie also sind Delia A. Pusch“, stellte sie fest und rollte mit quietschenden Reifen näher. Auf ihrem Schoß lag eine schwarze Fernbedienung. Einen Fernseher konnte ich zwar nirgendwo entdecken, aber mir war, als hörte ich ein permanentes, kaum wahrnehmbares Summen im Hintergrund. Irgendwo lief irgendein Gerät. „Wofür steht das A.?“

Eine Standardfrage, die ich unerwünschten Mannsbildern gegenüber mit arbeitslose, aggressive Alkoholikerin zu beantworten pflege. Spätestens bei Alkoholikerin kapitulieren sie. Angesichts der ruhigen Züge einer alten, kleinen Frau, die in einem viel zu großen Rollstuhl hockte und früher, wenn mich das grüne Licht nicht trog, eine Schönheit gewesen sein musste, fiel mir auf die Schnelle nichts Passendes ein.

„Amaryllis“, erwiderte ich daher der Wahrheit gemäß, aber in angemessen warnendem Ton, das Thema dabei zu belassen.

Doch es schien sie ohnehin nicht mehr zu interessieren. Ihr Blick schweifte zu dem vierbeinigen Wesen hinüber, das ich in der dunkelgrauen Dämmerung für die Silhouette eines Tieres gehalten hatte und nun, im grünen Licht, in der Tat als Hund erkannte. Ein kniehoher Flokati mit großem Kopf, dunklem Rückenfell und weißem Bauch, mit langen Fransen über den Augen und einer roten Zunge, die ihm weit aus dem geöffneten Maul hing. Ein Wuschelhund, welche Rasse auch immer. Nachdem ich ihn eine Weile misstrauisch beäugt hatte, kam ich zu dem Schluss, dass er gar nicht daran dachte, eins seiner Beine in Bewegung zu setzen. Er zuckte nicht einmal mit den Schlappohren, sondern stand einfach nur da und streckte mir die Zunge raus.

„Ein Polski Owczarek Nizinny“, beantwortete sie die Frage, die ich für ihre Standardfrage hielt, ohne selbst in Versuchung geraten zu sein, sie zu stellen. „Ursprünglich ein Hütehund aus dem polnischen Tiefland. Ein Temperamentsbündel zu seiner Zeit.“ Sie seufzte, und ihr Blick verlor sich ganz offensichtlich in einer Vergangenheit voll herumtobender polnischer Hütehunde. Auch er schien in die Jahre gekommen zu sein, und da mich Hunde nicht mögen, ein reziproker Prozess womöglich, empfand ich für seine Zurückhaltung Dankbarkeit und bewunderte aus der Ferne sein breites Halsband mit den funkelnden Strasssteinen. Doch F.C.‘s nächste Worte trafen unter die Gürtellinie.

„Es geht um ihn. Ich bezahle Sie dafür, Churchill mitzunehmen und ihn nach meinem Tod demjenigen meiner Erben auszuhändigen, der ihnen eine testamentarische Legitimation seines Anspruches nachweisen kann.“

Ich öffnete den Mund zu einem von Herzen kommenden Ich denke gar nicht daran!, als sie ein paar unbedeutende Worte hinzufügte. „Tausend Euro für diesen ersten angefangenen Monat und tausendfünfhundert für jeden weiteren.“ Meine Lippen schlossen sich wieder, hinter meiner Stirn begann es zu rotieren. Ich hasste Hunde - ich hasste sie wirklich von Herzen - aber mindestens ebenso hasste ich den Gedanken an mein leeres Konto und den Verzicht auf meine Käsecracker und den abendlichen Rotwein. Letzte Woche erst hatte sich Eiko, mein knapp sechzehnjähriges, obdachlos spielendes Fleisch und Blut, zur mütterlichen Wohnung Zutritt verschafft - ohne Schlüssel - und meinen Kühlschrank geplündert. Immerhin, so tröstete ich mich nach derartigen Attacken, ernährt er sich gesünder, als wenn er tollwütige Füchse von der Landstraße kratzt. Die Hühner, die er bei mir in unregelmäßigen Abständen aus der Kühlung stahl, waren allerhöchstens mit Vogelgrippe infiziert und die Schweine umetikettiertes Gammelfleisch.

„Nun, was sagen Sie zu meinem Vorschlag?“

„Er klingt ...“, ich rang nach Worten, „... zumindest interessant.“ Lammkoteletts in Cognacsauce! „Aber es wäre nett, wenn Sie mir ein paar Fragen beantworten könnten, bevor wir zum Geschäftlichen übergehen. Zunächst einmal würde ich gerne erfahren, warum Sie mir am Telefon Ihren Namen nicht nennen wollten. Am Tor steht zwar F.C., aber das hilft mir nicht wirklich weiter. Es sei denn, F.C. heißt Fußballklub, und die Villa gehört einem Sportverein. Weiterhin wundere ich mich darüber, dass Sie nicht einfach Ihren zukünftigen Erben anrufen und ihn bitten, den Hund abzuholen. Nicht“, fügte ich hastig hinzu, „dass ich an dem Auftrag uninteressiert sei, ganz im Gegenteil, aber mir leuchtet die höhere Logik dieser Geheimniskrämerei nicht ein.“

„Sie sind doch die Inhaberin der Firma Service AG - Aufträge aller Art. Diskretion garantiert. Oder irre ich mich?“, fragte sie mit ihrer samtenen Stimme zurück.

Ich nickte. Ich war nicht nur die Inhaberin der Firma, ich war die Firma, und zwar vom Direktorium über das mittlere Management bis runter zum Laufburschen, und das genau seit neun Tagen und zwei bescheidenen Anzeigen in der DEWEZET - der Deister- und Weserzeitung. F.C. war meine erste Kundin und der Zusatz AG reiner Größenwahn.

Sie schien unschlüssig, was mit meinem stummen Nicken anzufangen sei, raffte sich dann aber doch zu weiteren Worten auf. „Nun, dieser Firmenname, respektive das Anhängsel Diskretion, schien mir Programm genug, Sie anzurufen. Sollte ich mich geirrt haben, verschwenden wir beide unsere Zeit. Bruno wird Sie nach draußen begleiten.“ Sie rollte mit quietschenden Rädern auf die Tür zu, neben der ein altmodischer Klingelzug, ein Samtband mit Glöckchen, hing. Ich war schneller. Zumindest mit Worten, denn unter dem Schwung ihrer Hände drehten sich die Räder verblüffend flott. Der Hund in seiner Ecke schien mir plötzlich mehr als nur akzeptabel, ich brannte geradezu darauf, ihn mitzunehmen und in eine meiner eigenen Ecken zu stellen.

„Gönnen Sie Bruno eine Verschnaufpause“, stieß ich hastig hervor und hasste mich dafür. „Ich nehme den Hund, ich stelle keine Fragen, und ich werde ihn auftragsgemäß Ihrem Erben aushändigen, so er denn die nötigen Papiere vorlegt.“ Ich musterte sie genauer. Sie sah nicht krank aus, und ich fragte mich aufgeschreckt, wie viele Jahre ich den Hund Gassi führen musste. Meine Urgroßmutter war hundertundzwei geworden. Denk ans Geld, ermahnte ich mich erneut und brachte ein Lächeln zustande.

Ihre Hand am Klingelzug zögerte, dann bimmelte das Glöckchen. Ich fühlte mich an Weihnachten erinnert, wenn wir Kinder auf der Treppe gesessen und auf das Glöckchengebimmel gewartet hatten, das uns zur Bescherung rief, nur dass ich diesmal auf den Rausschmeißer wartete. Ich hatte den Auftrag vermasselt - meinen ersten und vielleicht sogar einzigen in diesem meinem letzten Aufbäumen, Leben und Finanzen in den Griff zu bekommen. Wieso musste ich immer mit allem herausplatzen, was mir in den Sinn kam? Auf diese Weise war meine Beziehung in die Brüche gegangen - behauptete zumindest mein Ex - und mein Sohn auf dem klapprigsten unserer Fahrräder in die Obdachlosigkeit geflohen. Auf diese Weise hatte ich auch Angelo, meinen Pizzabäckerfreund, vertrieben, den letzten einer Reihe halbherziger Liebschaften, die es alle nicht schafften, mein Ego aufzubessern.

Schon erstaunlich, wie ein Wurm es zuwege brachte, selbst die hungrigste Krähe in die Flucht zu schlagen.

Bruno schlurfte ins Zimmer, eine Dokumentenmappe in der Hand, die älter aussah als er selbst. Er trug sie vor sich auf einem Tablett, als gedenke er Tee zu servieren, und blieb stumm abwartend hinter der Schwelle stehen. Die beiden Alten blickten sich an, und ich begann im Geiste meine Siebensachen zusammenzuklauben: Frust, Blödheit und die zehn Kilo, die ich schon immer hatte abspecken wollen. Dann begann F.C. zu sprechen, und meine Füße hoben ein ganz klein wenig vom Boden ab.

„Ist der Scheck vorbereitet, Bruno? Frau Pusch und ich sind uns handelseinig geworden. Sie wird Churchill nehmen.“

Bruno verbeugte sich stumm. Das Tablett geriet in Schräglage, die Mappe ins Rutschen, und Bruno richtete sich würdelos hastig wieder auf. Diese Szene musste noch geprobt werden, ansonsten war der Zusammenschnitt aus alten Edgar-Wallace-Schinken und Psycho durchaus gelungen. Doch trotz Situationskomik und der greifbaren Aussicht auf den ersten Scheck fühlte ich mich beklommen. Wieder, wie schon in dem Moment, als meine Finger den Türklopfer berührten, hämmerte ein kleines Männchen von innen gegen meine Stirn und riet mir, auf der Stelle Fersengeld zu geben. Leider hatte ich die Intuitionen meines bisherigen Lebens so gründlich missverstanden, dass ich keiner mehr traute. Ich blieb.

„Churchill?“, fragte ich betont forsch. „Wieso heißt der Hund Churchill?“ Meine erste Reaktion auf ihre Blicke war der Wunsch, etwas Intelligenteres von mir gegeben zu haben, die zweite Wut auf den Hochmut der Welt.

„Er kam an dem Tag zu uns, als Winston Churchill der Nobelpreis verliehen wurde, daher entschloss sich mein Gatte, den PON Churchill zu taufen. - Den Polski Owczarek Nizinny,“ fügte sie nach kurzer Pause hinzu, als sie mein ratloses Gesicht sah.

„Das kann nicht sein.“ Selbst in den engen Grenzen meiner humanistischen Bildung regte sich Protest. „Ich weiß nicht, wann Churchill der Nobelpreis verliehen wurde ...“ - ich wusste nicht einmal, dass er ihn überhaupt bekam - „... aber wenn wir beide von demselben Churchill sprechen, dem englischen Politiker, ist er meines Wissens nach irgendwann Anfang der Sechziger gestorben. Der Hund kann doch unmöglich über vierzig Menschenjahre alt sein. Vielleicht bin ich kein Intelligenzbolzen, aber derart grobe Schnitzer bekomme ich schon mit.“ Ich biss mir auf die Unterlippe. Der letzte Satz war so überflüssig wie mein Abschiedsgebrüll durchs Treppenhaus, ich würde nie wieder eine Pizza essen, als Angelo mich verließ. Was für eine Strafe für den Ärmsten. Noch wochenlang danach schreckte mich sein breites Grinsen aus meinen Alpträumen auf.

„Bruno!“, befahl F.C. „Hol bitte Churchill.“

Bruno schlurfte im Schneckentempo durchs Zimmer. Das Tablett hatte er auf einem Teewagen neben dem Rollstuhl abgestellt. Kurzzeitig geriet ich in Versuchung, mir ans Schienbein zu klopfen und Komm, Hundchen, komm zu rufen, um den Hund Bruno vor der Nase wegzulocken, doch es blieb bei der Versuchung. Churchill starrte dem alten Butler reglos entgegen. Wahrscheinlich hatte er sich sein Leben im Dämmerlicht so eingerichtet, dass er rund um die Uhr schlief. Nachts zusammengerollt im Körbchen und tagsüber unauffällig im Stehen. Er blinzelte nicht einmal, als sich Bruno zu ihm hinunter beugte, den Arm um seinen Körper schlang und ihn anhob, bevor er in beängstigender Schräglage zurückgeschlurft kam, Churchills wuschelige Pfoten nur Zentimeter über dem Parkett. Litt der Hund vielleicht unter den Lähmungserscheinungen eines Schlaganfalls und konnte sich nur noch getragenerweise fortbewegen? Die Konsequenzen aus dieser Mutmaßung missfielen mir durch und durch. Ich sah mich dreimal pro Tag einen gelähmten Hund aus der Wohnung auf die Straße tragen und unter einer Laterne absetzen. Ich sah mich sogar sein Hinterbein anheben. Ein grässlicher Gedanke.

Bruno schleppte seine Last auf den Rollstuhl zu und stellte sie vor den Füßen seiner Herrin ab. Ich horchte irritiert auf. Es klang, als stellte er einen Stuhl oder eine große Vase auf den Boden, und einen Augenblick lang überwältigte mich die bizarre Vorstellung eines aus Holz geschnitzten Hundes, dem irgendein Witzbold einen Flokati übergeworfen hatte. Die alte Frau jedoch beugte sich vor und strich ihm sanft über den Kopf.

„Am nächsten achtzehnten“, so begann sie, „hat Churchill seinen fünfzigsten Todestag. Leider Gottes starb er schon 1955 mit nur zwei Jahren. Dem Welpenalter kaum entwachsen. Er fraß Rattengift. Sie müssen wissen, dass auch mein Gatte zur gleichen Zeit starb, und als mich dann beide ganz allein zurückließen, wandte ich mich an einen Präparator und ...“ Ihre Stimme verlor sich, es glitzerte nass auf ihren Wangen.

Ich starrte sie ungläubig an. Naturkundemuseen stopfen seltene Tiere aus, Jäger die Köpfe von Zwölfendern, aber was für eine kranke Seele ließ ihren Schoßhund ausstopfen? Auf der bangen Suche nach der ausgestopften Hülle ihres Ehemannes ließ ich unauffällig meine Augen schweifen, konnte ihn jedoch zu meiner grenzenlosen Erleichterung nirgendwo entdecken. Was für eine Horrorvorstellung, die Zimmerecken mit den Leichen verstorbener Familienmitglieder zu dekorieren. Tableaux vivants mit Toten.

„Der Hund ist ausgestopft?“, fragte ich unnötigerweise nach. „Und ich bekomme das Geld, um auf einen toten Hund aufzupassen, bis ihn Ihr Erbe bei mir wieder abholt? Das ist verrückt!“

„Er war nicht irgendein Hund“, entgegnete sie scharf. „Churchill war mir ein Gefährte, der treuer an meiner Seite verharrte als ...“ Sie brach abrupt ab. „Nun, ich gebe gern zu, damals möglicherweise in einer Art emotionaler Überreaktion die Entscheidung getroffen zu haben, aber im Nachhinein erwies sie sich als richtig und gut. Allein Churchills Anwesenheit hat mir Kraft gegeben, ein Leben zu meistern, das nicht immer leicht war.“ Sie schlug mit den Handflächen demonstrativ auf die Armlehnen des Rollstuhles.

„Sitzen Sie schon Ihr Leben lang im Rollstuhl?“

Sie musterte mich kühl. „Nein, aber ich bemerke zu meinem Missfallen, wie überaus leichtfertig Sie Ihre Beteuerung ad absurdum führen, auf weitere Fragen zu verzichten. Im Gegensatz zu Ihnen schätze ich die Konsequenz des Handelns, die einer einmal getroffenen Entscheidung zu folgen hat. Doch zurück zu unserer Abmachung. Ich kann Ihnen natürlich nicht das genaue Datum meines Todes vorhersagen, aber ich bin mir sicher, es wird bald - sehr bald - sein. Daher sollten Sie ab und an einen Blick in die DEWEZET werfen. Mit dem Geld, das ich Ihnen zahle, werden Sie sich wohl ein Abonnement leisten können. Mein Tod wird einiges Aufsehen erregen.“ Sie zog die Augenbrauen hoch und legte eine Kunstpause ein, doch aus Angst, schon wieder in irgendein Fettnäpfchen zu treten, kam mir die Frage nach dem Warum nicht über die Lippen. Also sprach sie weiter: „Wenige Tage nach dem Ereignis wird sich der Erbe bei Ihnen melden, wobei ich mich zum jetzigen Zeitpunkt noch nicht entschieden habe, wem ich Churchill vermache. Ich bedaure, wenn Ihnen dieser Auftrag ein wenig geheimnisvoll erscheint.“

„Ein wenig?“, hakte ich nun doch spontan nach.

Sie überging den Einwurf und entließ mich mit einer Handbewegung, die eines Shakespeare-Mimen würdig gewesen wäre. „Churchill wird Ihnen nicht all zu lange lästig werden, glauben Sie mir. Und nun nehmen Sie den Hund und gehen Sie. In diesem Leben werden wir uns nicht wiedersehen.“

Ich wusste nicht, ob ich lachen oder weinen sollte, doch das Perverse an der Perversion ist, wie leicht man sie akzeptiert, und so beobachtete ich einfach Bruno, wie er sich abmühte, einen ausgestopften Hund namens Churchill in einen Kopfkissenbezug zu stecken. Dann sagte ich wohlerzogen Auf Wiedersehen, registrierte ihr stummes Kopfschütteln und folgte Bruno zur Tür. Ich nahm ihm das pralle Kopfkissen ab, und er zuckte zusammen, als ich es wie einen Kartoffelsack schulterte. Am Fuße der drei Stufen zum Vorgarten hörte ich ihn hinter mir noch etwas raunen: „Nehmen Sie sich in acht, und erzählen Sie niemandem von dem Hund. Hören Sie? Niemandem! Trauen Sie keinem.“

Die Dämmerung senkte sich bereits über das Wesertal, und meine Gänsehaut hielt mühelos bis zum Fahrrad durch. Etwas später blühte sie neu wieder auf, als ich den Berg hinunterbrauste auf meinem zweirädrigen Sportcoupé mit Pedalen, das schneller und schneller wurde, und mir meine defekten Bremsen einfielen. Der Rücktritt trat durch, und die Bremsbacken der Vorderbremse waren lange schon abgeschliffen. Einhändig, den Hund noch immer geschultert, fragte ich mich, wie ich vor der Hauptstraße unten zum Stillstand kommen sollte. Andernfalls, wenn ich wie ein Pfeil über das Ziel hinausschoss, lag die Chance einen LKW zu erwischen schätzungsweise bei eins zu eins. Zweihundert Meter weiter gabelte sich die Straße in die B1 und die B83, und keiner ihrer Anwohner beklagte ein zu geringes Verkehrsaufkommen.

Der Pathologe würde sich bestimmt über die seltsame Mischung aus frischem Menschenfleisch und den Bröseln einer steinharten, ein halbes Jahrhundert alten, zermalmten Hundehaut wundern.

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