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3.

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Diesmal wachte ich nüchtern auf, allerdings mit dem beklemmenden Gefühl drohenden Unheils. Durch ein umfangreiches Waschprogramm und ein Müsli mit frisch geschnippeltem Fruchtsalat zögerte ich meinen Aufbruch so weit wie möglich raus, doch schließlich, so gegen halb elf, sah ich den Tatsachen ins finstere Auge und stiefelte los. Nach Fahrradfahren war mir heute nicht, ich trödelte lieber und versuchte im Jobcenter nicht anzukommen.

Es war nur ein weiterer mieser Tag in Folge.

Die Schlange an der Anmeldung tröpfelte nur widerwillig ab, doch dann stand auch ich auf einmal vor dem Tresen und holte mir durchs Plexiglas die Erlaubnis, eine Etage höher erneut zu warten. Ich ließ mich auf einem am Boden festgeschraubten Plastikstuhl nieder. Hier einfach nur herumzusitzen, in meinem eigenen Elend und dem Elend der anderen ringsumher, deprimierte mich zutiefst. Böse Erinnerungen frischten sich auf, was mich nicht weiter verwunderte. Das Jobcenter und die politischen Hintermänner, die ab und an aufmunternd an den Fäden derjenigen zupften, die hier ihre Machtgelüste austoben durften, trugen schließlich die Schuld an meinem ganzen Schlamassel.

Schon bevor die Hartz IV-Gesetze in Kraft traten, gingen dank ihrer etliche Ehen, Partnerschaften und Wohngemeinschaften auseinander, und es kam im ganzen Land zu einem hektischen Getrenne und einem Ansturm auf Singlewohnungen, die der gesetzlichen Norm entsprachen. Nicht mehr als zwei Zimmer, nicht größer als maximal fünfzig Quadratmeter. Das Problem war die radikale Streichung staatlicher Unterstützung für arbeitslose Hilfeempfänger, wenn im selben Haushalt ein Verdienender über einer bestimmten Gehaltsgrenze lebte. Das galt für Ehemänner, Partner und alle, die sich aus einem gemeinsamen Kühlschrank ernährten. Also auch für Uwe und mich, die wir nie geheiratet hatten. Natürlich gab es Schlupflöcher und eifrige Advokaten, die sich für uns nur allzu gern vor die Schranken eines Gerichtes gestürzt hätten, aber wir dachten, den Staat auf billigere Weise austricksen zu können.

Als sich Eiko vor knapp siebzehn Jahren, der Pille zum Trotz, in meinem Uterus einnistete, suchten wir uns eine gemeinsame Wohnung, ganz kuschelig oben unter der Schräge, mit Blick auf die Hügel des Wesergebirges, und zogen gemeinsam ein. Uwe war eigentlich nur auf einen Sprung aus Hamburg heruntergekommen, um gemeinsam mit seinen Eltern sein BWL-Examen zu feiern. Ich wohnte noch auf dem elterlichen Bauernhof in Selxen, einem kleinen Dorf wenige Kilometer von Hameln entfernt, und gammelte nach dem Abitur und einer Ausbildung zur Reiseverkehrskauffrau antriebslos in der Stadt herum. Tagsüber in Eiscafés und abends in den Kneipen. Schon damals haderte ich mit den Widrigkeiten meiner Existenz. Ich wollte in keinem Reisebüro versauern, ich wollte keine Kühe melken, ich wollte gammeln und leiden. In der Alten Post in der Hummenstraße lernte ich während einer Hillbilly-Nacht Uwe kennen. Wir tauschten erst allgemeine Informationen, dann unsere Körperflüssigkeiten aus, und Eiko baute sich gegen alle Regeln der Medizin sein Nest.

Unsere Eltern verziehen uns nie. Uwes nicht, weil sie mir das Ende seiner noch nicht einmal begonnenen Karriere anlasteten. Meine Eltern hingegen weigerten sich schlicht, eine Ehe anzuerkennen, die kein Standesbeamter besiegelt hatte. Als es ihnen nach dreizehn Jahren zum ersten Mal einfiel, Eiko persönlich kennenzulernen, rannten sie nach dem Konfirmationsgottesdienst gegen eine Mauer aus Eis und zogen bedröppelt wieder ab. Alle waren sich einig, der Junge zahlte mit gleicher Münze heim. Wie ihr mir so ich euch. Doch das stimmte wahrscheinlich nur zum kleineren Teil, wenn überhaupt. Die Weite von Eikos Toleranzgrenzen hatte mich von jeher überrascht, und ich konnte mich an kein böses Wort gegen seine treulosen Großeltern erinnern, die sich bis zu diesem Moment für den Kontakt mit ihm ausschließlich der Post bedient hatten. Doch was ihn ganz offenkundig erboste, und zwar schon, bevor er Oma und Opa die Hand geben sollte, war der schwarze Anzug für kleine Manager, in den Uwe seinen Sohn gesteckt hatte. Die Krawatte unter dem weißen, gestärkten Hemdkragen, die er ihm eigenhändig band. Schließlich sollte sich sein Sohn beizeiten an die Kleiderordnung eines Managements gewöhnen, dessen Höhen er selbst nur einmal kurz hatte erschnuppern dürfen. Eikos Gesichtsausdruck nach - zusammengepresste Lippen, schmale Augen - hasste er diesen Anzug, in den ihn ein ungewöhnlich heftiger Anfall väterlicher Autorität gezwungen hatte, mit jeder Faser seines Herzens, und wenn Eiko etwas hasste - und sei es auch nur stumm - begannen die übrigen Hamelner unruhig auf ihren Stühlen herumzurutschen.

Pflegeleicht ist unser Sohn nicht einmal im Krabbelalter gewesen.

Uwes Eltern interessierten sich ebenfalls nicht für das Aufwachsen ihres Enkelkindes. Sie schafften uns einfach aus der Welt, indem sie ihre Hamelner Villa gegen eine mallorquinische Finca eintauschten, mit der Begründung, das Elend nicht mit ansehen zu können. Drei Jahre nach ihrem Umzug kamen sie oberhalb eines Fischerdorfes namens Banyalbufar von der Straße ab und stürzten über eine Felsklippe in die Bucht. Uwe und ich flogen nach Mallorca, standen lange Zeit auf den Felsen und starrten auf den Haufen Blech hinunter, der noch nicht geborgen worden war. Dann flogen wir mit zwei tropfsicheren Transportsärgen zurück nach Deutschland und begruben seine Eltern auf dem Friedhof an der Deisterstraße. Ich persönlich war - nicht nur aus Eigennutz, weil ich kommen sah, was tatsächlich kam - der festen Überzeugung, sie wären auch tot lieber auf Mallorca geblieben, doch Uwe verbiss sich geradezu in Hameln und schritt hoch erhobenen Hauptes den Särgen auf dem Weg zu ihrem Grab hinterher. Seine Eltern bekamen ein derart teures Begräbnis, dass wir uns noch Monate später beinahe ausschließlich von Nudeln mit Tomatensauce ernährten. Da sie kurz vor ihrem Tod ihr Vermögen in einem spektakulären Aktienschwindel verloren hatten, trugen sie selbst nichts dazu bei, sich angemessen unter die Erde bringen zu lassen. Vom Verkaufserlös ihrer mallorquinischen Finca gab Uwe beim Steinmetz zwei Grabsteine in Auftrag. Für jeden einen. Mit persönlicher Widmung. Für Papa Auf immer unvergessen und In ewiger Liebe auf Mamas Stein. Ich schluckte und schwieg. Doch als zusätzlich noch ein überlebensgroßer, weinender Engel auftauchte, die ringenden Hände gen Himmel gereckt, bekamen wir den ersten großen Streit unserer Beziehung, nach dem tagelang Funkstelle herrschte und wir weiter Nudeln mit Tomatensauce aßen.

Nach dieser wahren Eruption seiner postmortalen, steinernen Elternliebe ging Uwe übergangslos zum Tagesgeschehen über. Die Grabpflege oblag mir, und mit jeder meiner Aufforderungen, mich wenigstens zu begleiten, wuchs die Liste seiner nur mühsam zu widerlegender Ausflüchte. Es kostete mich weniger Energie, mit Eiko allein zum Friedhof zu fahren, als Uwe moralisch niederzuringen. Ab seinem zehnten Lebensjahr blieb mein Sohn den Toten ebenfalls fern. Warum auch sollte er auf einer unbekannten Oma und einem fremden Opa Unkraut jäten?

Fünf Jahre später kam der Absturz unserer Familie. Uwe holte seine DVD’s ab und teilte mir die endgültige Trennung mit. Ich zerschlug das Tafelservice seiner Eltern, das sie uns gnädigerweise vor ihrem Umzug nach Mallorca überlassen hatten, Teller für Teller und Tasse für Tasse. Uwe beschuldigte mich, an der Entfremdung zu seinen Eltern schuld gewesen zu sein, ebenso an ihrer Auswanderung und damit auch indirekt an ihrem Tod. Ich warf ihm den miesen Sex und seinen schwächlichen Charakter vor. Er rächte sich mit dem Verdacht, ich sei absichtlich und gegen seinen ausdrücklichen Willen schwanger geworden.

Dann klappte die Tür zu, und auf meiner Seite der Leprastation starrte ich noch immer gegen das Holz.

Ich vermutete, dass meine Eltern noch lebten. Etwa einmal im Jahr gingen wir wortlos in der Fußgängerzone aneinander vorbei, das letzte Mal im vergangenen Herbst. Falls sie mittlerweile verstorben waren, hatte man versäumt, mich zu benachrichtigen. Nach der unerfreulichen Konfirmationsbegegnung hatten sie aufgehört, Eikos Geburtstage mit einer Karte zu würdigen.

Jemand stieß mich mit dem Ellenbogen an, und ich schrak aus meinen düsteren Gedanken auf und wusste einen Moment lang nicht mehr, wo ich war.

„Hey, wer träumt denn hier am hellichten Tag? Wenn das nicht die kleine Pusch ist.“

Ich erstarrte. Die Stadt verfügte über einen Fundus von mehr als sechzigtausend Einwohnern, die Eingemeindungen mitgezählt, aber das Schicksal schickte mir ausgerechnet Ingeborg Schulze mit ihrem Stockmaß von ein Meter neunzig und den drei Zentnern Lebendgewicht vorbei. Ihre tiefe Stimme dröhnte über den Flur und tötete in Nullkommanichts jede andere Unterhaltung. Alle Köpfe fuhren herum, hier gab’s vielleicht was zu lachen in all der Tristesse.

Äußerlich hatte sie sich seit der Schulzeit kaum verändert. Die weißblonden Haare fielen ihr noch immer in Locken bis auf die Schultern, und ihre großen, blauen Babyaugen starrten einen noch immer mit diesem trügerisch unschuldigen Blick an. Zwei Zentner weniger, mit oder ohne ihre sadistische Ader, wäre sie nach mitteleuropäischer Norm eine durchaus attraktive Frau gewesen.

„Was machst du denn hier?“, startete ich den Gegenangriff, in der Hoffnung, aufgerufen zu werden, bevor es an mir war, meine Lebensgeschichte in aller Öffentlichkeit platt zu walzen. Ingeborg Schulze war diejenige meiner Klassenkameradinnen gewesen, die ich am meisten gehasst hatte, was damals ganz offensichtlich auf Gegenseitigkeit beruhte, so oft, wie sie mich in den Schwitzkasten nahm. Darüberhinaus gab es noch heute auf meiner Kopfhaut ausgesprochen sensible Stellen, und ich wusste nie, ob sie in Erinnerung der ausgerissenen Haarbüschel schmerzten oder weil Nervenschäden zurückgeblieben waren.

„Ich? Du meine Güte, ich arbeite hier. Früher war ich bei der Kripo in der Lohstraße, aber der Job hat mich auf die Dauer gelangweilt, und ich dachte, schau doch mal beim Jobcenter vorbei.“ Das Haus erbebte, als sie sich schwer auf den Stuhl neben mir plumpsen ließ. Ihre schwere Hand tätschelte meinen Oberschenkel, und ich wagte nicht, mich zu rühren. Erst jetzt sah ich den Aktenstapel auf ihrem überquellenden Schoß und schauderte unter bösen Ahnungen zusammen. Der Name auf der oberen Akte lautete Delia A. Pusch, Bedarfsgemeinschaft Nr. ... Es folgte eine endlose Aneinanderreihung unsinniger Zahlen und Buchstaben. Panik überkam mich. Was machte die Schulze mit meiner Akte? Konnte es sein, dass sie ...?

Nein, nie im Leben! Ich wusste zwar, dass die zuständige Schicksalsgöttin gern Schabernack mit mir spielte, aber ums Verrecken würde sie nicht so weit gehen.

Oder doch?

„Ist das nicht erstaunlich, wie sich nach all den Jahren unsere Schicksale wieder kreuzen? Weißt du noch, wie du mir die Reißzwecke auf den Stuhl gelegt hast?“ Die anderen Hartz IV-Opfer im Flur hielten den Atem an. Reißzwecke auf Stuhl klang vielversprechend, doch Ingeborg Schulze beabsichtige offenbar nicht, ihren Wissensdurst zu stillen. „Okay, dann wollen wir mal.“ Sie schaukelte sich auf ihrem Stuhl in Position und schlug meine Akte auf. „Mein Name ist Schulze, ich bin deine Fallmanagerin im Jobcenter. Nun erzähl mal brav, welche Anstrengungen du seit deinem letzten Auftritt hier bei uns unternommen hast, in Lohn und Brot zu kommen? Nur zu, keine falsche Bescheidenheit. Ich höre.“

Ich starrte sie ungläubig an. „Moment mal, meine Jobvermittlerin heißt Rodenberg, und ich weigere mich aufs aller Entschiedenste, sie gegen dich einzutauschen. Ohne persönlich werden zu wollen, Ingeborg, aber du und ich, wir beide mochten uns noch nie. So etwas nennt man Befangenheit, und zwar eine doppelseitige. Ich verlange eine Fallmanagerin, der ich keine Reißzwecke auf den Stuhl gelegt habe. Die Rodenberg! Wir schwimmen auf der gleichen Wellenlänge, verstehst du? Ich bewerbe mich, und sie behandelt mich fair. Wie ein Mensch, nicht wie ein Hartz IV-Empfänger. Außerdem denke ich nicht einmal im Traum daran, mich von wem auch immer auf dem Flur abfertigen zu lassen. Ich bin durchaus für eine gläserne Bürokratie, aber deine Vorstellung davon geht mir entschieden zu weit.“ Ich geriet zunehmend in Fahrt. „Warum fertigt ihr uns nicht gleich auf der Rathausterrasse ab? Der Rattenfänger flötet die Nationalhymne, und anschließend treten wir Hartz IV’ler mit Hand aufs Herz zum Fahneneid an: Ich schwöre beim Bart des Propheten, dass ich mich bewerbe und nichts als bewerbe, so wahr mir Gott helfe. Vergiss es. Ich will Frau Rodenberg. Ich will in ein Büro.“

Ein beifälliges Raunen pflanzte sich den Flur hinunter. Auch ich war nicht unstolz auf mich, wenn auch ein wenig außer Atem nach meinem spontanen Plädoyer für die Rechte der Geknechteten. Eine der zahlreichen Lebensphilosophien meines verstorbenen Großvaters lautete: Erfolg ist eine Frage des Auftretens.

„Du willst nicht in mein Büro, vertrau mir. Sieh es als Akt der Barmherzigkeit an, wenn ich dich hier draußen oder auf der Rathausterrasse abkanzele. Und was Frau Rodenberg betrifft, so hat sie leider die Seiten gewechselt.“ Ingeborgs dröhnendes Lachen ließ alle die Köpfe einziehen. „Dummerweise ist sie zu euch faulem Gesindel übergelaufen. Oh, Entschuldigung, das war politisch wohl inkorrekt. Ich meinte natürlich, zu euch armen, halb verhungerten Sozialfällen, die ihr so fleißig sucht und doch nicht fündig werdet. Sie ist gefeuert worden, den Herren der obersten Etage missfiel ihr lascher Stil. Sie weigerte sich doch tatsächlich, ihren Schützlingen mal so richtig in den Arsch zu treten, auf dass sie sich läutern und die Arbeit auch wirklich finden. In-cre-di-ble, wie der Engländer zu sagen pflegt!“ Sie betonte jede Silbe einzeln. „Und siehe da, urplötzlich ist sie selbst ein Schaf in meiner großen, glücklichen Herde geworden. Tja, manchmal pisst dir das Schicksal doppelt ans Bein. Aber es wird mir ein Vergnügen sein, ihre verqueren Ansichten von der Welt und ihrer Stellung darin wieder geradezurücken. Apropos wieder Geraderücken: Was hältst du von einem gemeinsamen Mittagessen? Nur du und ich und unsere Erinnerungen. Denkst du noch manchmal an das Kaugummi in meiner Federtasche? Oder daran, wie du mich auf dem Pausenhof angesprungen und mir ein Stück aus der Schulter gebissen hast?“ Es gibt Menschen, deren dämonisches Lächeln ohne Anstrengung überzeugt. Mir war es nie gelungen. Ich hatte es eine Weile an Eiko erprobt, wenn ich ihm ein bedrohliches Tu’s und du wirst schon sehen! übermitteln wollte, mir aber lediglich ein Grinsen eingehandelt.

Ich spürte die gespannten und hoffnungsvollen Blicke meiner Leidensgenossen rings umher auf mir ruhen. Sie sprachen Bände: Sag ihr, sie kann dich mal. Wehr dich, du feiges Huhn. Tu’s für dich. Tu’s für uns. Beweis uns, dass dieses beschissene Leben noch einen Sinn hat.

„Über ein gemeinsames Essen können wir sprechen, sobald ...“ Die Hölle zugefroren ist, wollte ich sagen, biss mir jedoch noch rechtzeitig auf die Zunge, da mir mittlerweile eine gewisse Abhängigkeit von ihrem Wohlwollen bewusst geworden war. „... wir uns in deinem Büro befinden. Ich bestehe mit allem Nachdruck auf der Einhaltung des Datenschutzes. Kein Tête-à-Tête im Flur!“

Ingeborg stemmte sich lächelnd in die Höhe. „Wie du willst, aber es wird dir nicht gefallen.“

Ich erhob mich ebenfalls, wild entschlossen, meine Würde bis zum bitteren Ende zu verteidigen.

„Ich ruf dich auf, wenn du an der Reihe bist“, sagte Ingeborg milde, drückte mich auf den Stuhl zurück und tauschte die Akten aus. Meine kam nach unten. „Jemand hier, der Buschhelm heißt?“ Unter ihrem durchdringenden Blick schob sich ein schmächtiger Jüngling Richtung Ausgang. „Hey, wenn Sie der Buschhelm sind, geht’s hier entlang.“ Er erstarrte, die Hand schon auf der Glastür ins Treppenhaus, doch nun zog er sie gehorsam wieder zurück und folgte dem Ruf seines übergewichtigen Schicksals. Entrinnen konnte er ihm nicht, aber vielleicht ließ sich der Schaden begrenzen. Die Blicke, die ihm folgten, schwankten zwischen Mitleid und Angst, diejenigen, die auf mir ruhten zwischen Häme und Verachtung.

Ich lehnte mich zurück auf meinem angeschraubten Plastikstuhl und versuchte, meine Wut nicht überkochen zu lassen. Die Welt in Vertretung von Ingeborg Schulze war dabei, einen weiteren Nagel in meinen Sarg zu hämmern. Ich konnte nur hoffen, dass er diesmal mein Herz durchbohrte, und die arme Seele endlich Ruhe fand. Hartz IV hatte unsere Familie zerstört, also war es nur recht und billig, dass es mich auch von meinen letalen Qualen erlöste. Als das Gesetz nicht mehr als ein drohender Nebelstreif am Horizont war, rechnete mir Uwe bereits die Unwirtschaftlichkeit seines weiteren Aufenthaltes in unserer gemeinsamen Wohnung vor. Bliebe er, müsste allein er sowohl für die Miete als auch für meinen Unterhalt aufkommen. Zöge er vorübergehend in eine eigene Wohnung, zahle er zwar die Miete für die neue Wohnung, spare sich jedoch den Unterhalt. Schweren Herzens ließ ich ihn ziehen, nahm mir jedoch vor, so schnell wie möglich Arbeit zu finden und zweifelte nicht den Bruchteil einer Sekunde an unserer Partnerschaft. Sobald ich einen Job hatte, würden Uwe und ich offiziell wieder zusammenleben. Natürlich! Was auch sonst? Schließlich wollte ich mit ihm alt werden und nahm wie selbstverständlich an, er mit mir ebenfalls. Doch dann kam alles anders. Uwe nahm die Buchstaben des Gesetzes allzu wörtlich und zog nicht nur auf dem Papier aus. Einige Wochen später verschwand Eiko, und Uwe hob, ohne zu zögern, die Axt, die ihm sein Sohn damit in die Hand gedrückt hatte, und kappte das Band zwischen uns endgültig. Wer seinem Partner siebzehn Jahre lang die eigenen Schwächen frei Haus liefert, fordert im Fall einer Katastrophe die Schuldzuweisungen geradezu heraus.

Nachdem mich Sohn und Mann auf meiner Leprastation zum Abfaulen zurückließen, fiel ich in ein Loch, so tief wie der Marianengraben. Ich rannte Uwe die Bude ein, ich jagte hinter Eiko her, ich schleppte Zufallsbekanntschaften ins Bett und betrank mich vor dem Fernseher. Arbeit fand ich auf diese Weise keine. Nach wie vor sorgte Vater Staat dafür, dass ich nicht verhungerte, allerdings zum Preis, alle sechs Wochen demütig zu Kreuze kriechen zu müssen. Obgleich ich mit Frau Rodenberg, meiner dritten Fallmanagerin a. D. - ihre Vorgängerinnen hatten das Jobcenter fluchtartig wieder verlassen - tatsächlich einen Glückstreffer gelandet hatte. Allerdings war es auch nicht so, dass ich mich in den vergangenen zwölf Monaten überhaupt nicht um Arbeit bemüht hatte. Ich begann ernsthaft zu suchen, sobald ich anfing, die Wände des Marianengrabens wieder hochzukraxeln. Zurzeit klebte ich irgendwo auf halber Höhe, während unter mir der Weiße Hai sein Maul aufriss, bereit, mich endgültig zu verschlingen, sollte ich erneut abrutschen. Einen Job suchte ich noch immer. Die hohe Arbeitslosigkeit im Landkreis Hameln-Pyrmont hatte auch die Anforderungen an eine Putzfrau oder Küchenhilfe steigen lassen. Ein Stundenlohn von sechs Euro für Fachpersonal mit langjähriger Erfahrung erwies sich als nichts Ungewöhnliches. Natürlich nur auf „geringfügiger Basis“ bis 400 Euro monatlich. Auf diese wenigen Stellen stürzte sich das Heer der Hartz IV-Kandidaten. Diejenigen, die tatsächlich Arbeit suchten und auch diejenigen, denen das Jobcenter ein Feuer unterm Hintern entfacht hatte und mit immer neuen Schikanen am Brennen hielt. Die Arbeitgeber rieben sich die Hände, weil sie keine Sozialabgaben zahlen mussten, und pickten sich aus dem Teig die Rosinen heraus.

Uwes Leben war auf eine andere, spektakulärere Art den Bach runtergegangen. Er begann seine durchaus hoffnungsvolle Karriere vor siebzehn Jahren als Trainee in der Chemiefabrik Syntho-Lab, bis sie, nur zwei Monate später, ein unglücklicher Trugschluss abrupt beendete. Im Sekretariat der Fabrik erwischte er einen stoppelbärtigen Penner dabei, wie er aus der Portokasse Geld stahl. Eigentlich wollte er ihm lediglich den Arm auf den Rücken drehen und die Polizei rufen, doch sein Griff war so unglücklich, dass er dem Mann die Schulter auskugelte. Noch unglücklicher erwies sich die Tatsache, dass es sich bei dem angeblichen Strauchdieb um seinen obersten Chef handelte, einen Quartalssäufer, der eben nach dreitätigem Saufgelage aus der Versenkung wieder auftauchte, um sich in der Firma das Geld fürs Taxi nach Hause zu holen.

Zu der Zeit war ich schwanger und jobbte als Aushilfssekretärin in der Müllverbrennungsanlage neben dem E-Werk, und weil Uwe einen Monat nach seinem Rauswurf bei den öffentlichen Verkehrsbetrieben als Koordinator anfangen konnte, gerieten wir lediglich in einen überschaubaren finanziellen Engpass. Seine Karriere als Betriebswirt hatte er sich jedoch ein für alle Mal vermasselt. Er traute sich nicht einmal mehr zum Managerstammtisch ins Mercure-Hotel, und erst letzte Woche hockte ich im Eiscafé über einem Bananensplit und hörte am Nachbartisch einen Mann im Anzug den Witz über den jungen, ehrgeizigen Trainee erzählen, der diesem Penner von Chef die Schulter auskugelte.

In den Jahren darauf erwies sich keiner von uns beiden als besonders beständig. Uwe wechselte zur AEG, während ich in einem Reisebüro jobbte, ich arbeitete bei einem Partyservice, während Uwe sich damit abplagte, einem Autoverleih wieder auf die Beine zu helfen. Seit eineinhalb Jahren fand ich nur noch Gelegenheitsjobs, und Uwe war im Straßenverkehrsamt als Sachbearbeiter gelandet. Ich begann mich zu fragen, ob sich mein Ex mit der Überführung seiner Eltern auf den hiesigen Friedhof nicht doch einfach nur an ihnen hatte rächen wollen. Schließlich arbeitete er sich damals schon Stufe für Stufe nach unten, und sie würden tatenlos mit ansehen müssen, wie er schließlich die letzte Stufe der Karriereleiter hinunterstolperte und brutal auf die Nase fiel. Ich wurde das Gefühl nicht los, der Engel an ihrem Grab rang seine steinernen Hände nicht über den Tod der Eltern, sondern flehte zu Gott, ihre Seelen mit Blindheit zu schlagen.

Als mich Ingeborg Schulze nach einer Stunde Wartezeit in ihr Büro rief, musste ich Uwes Lebenslauf in meinem Kopf einen weiteren Posten hinzufügen. Er arbeitete nicht mehr beim Straßenverkehrsamt. Ich sah seinen breiten Rücken sich an einem der vier Schreibtische versteifen, und die Wände erbebten unter Ingeborgs Hohngelächter. Uwe gab vor, ungerührt weiterzuarbeiten, doch der karmesinrote Nacken verriet seine Bedrängnis.

„Hab‘ ich nich‘ gesagt, es wird dir nicht gefallen? Ganz und gar nicht gefallen?“, japste Ingeborg und wies auf den einzigen Besucherstuhl. Er stand frei im Raum und ließ sich drehen und wenden, je nachdem, welcher der vier Fallmanager - mit Ingeborg zwei Frauen und zwei Männer - sich sein Opfer hereinrief.

„Tiefer konntest du wohl nicht sinken?“, erkundete ich mich mit schwacher Stimme. „Großer Gott, dein armer Sohn wird lügen müssen, wenn man ihn fragt, wo Papa zurzeit arbeitet.“

Er wandte mir das Gesicht zu, und ich musste tief durchatmen, um mich nicht augenblicklich auf ihn zu stürzen. Man hört nicht auf, jemanden zu lieben, bloß weil er ein gewissenloser Halunke ist, und es sah an ihm alles so vertraut aus, dass ich hätte losheulen können. Die mittlerweile schwarz-grau melierten Haare, der Leberfleck auf der Wange, die schiefe Brille. Aber irgendetwas passte nicht ins gewohnte Bild. Nur was? Ich grübelte noch darüber nach, als er mit belegter Stimme loslegte. „Solltest du ihn vor mir sehen, sag ihm, er soll schneller in die Pedalen treten, wenn ihm sein Leben lieb ist. Er hat mir vor ein paar Tagen den Laptop geklaut. Sag ihm, ich zeig ihn an, wenn er sowas noch mal durchzieht. Ich habe endgültig die Faxen dicke!“

„Sag’s ihm doch selbst. Ich habe nämlich auch die Faxen dicke, und zwar davon, die Einzige zu sein, die sich um Eiko sorgt und ihm hinterherjagt. Du strengst lediglich deine Zunge an, um mir die Ohren vollzujammern, aber hast du auch nur einen Versuch unternommen, deinen Sohn zur Vernunft zu bringen? Mann, Uwe, wenn wir ihn nicht bald stoppen, versaut er sich seine Zukunft. Willst du das? Kann es sein, dass du dich eher damit abfindest, dass Eiko deine Wohnung als Supermarkt betrachtet, als ihm auch nur ein einziges Mal persönlich auf die Finger zu klopfen? Schwing deinen Hintern aus dem Sessel. Hol dir den Laptop zurück.“ Ich starrte ihm demonstrativ auf den Bauch, und er zog ihn prompt ein. Uwe ließ sich so leicht manipulieren, dass ich nie widerstehen konnte, seine Grenzen auszutesten. Er rächte sich mit gelegentlichen Überraschungsangriffen wie seiner Trennung von mir. „Und kauf dir ein Rennrad mit Zehnganggetriebe, sonst hast du gegen Eikos Waden keine Chance.“

Die Sachbearbeiter hatten aufgehört, die Monitore anzustarren, ihre Blicke flogen nun zwischen Uwe und mir hin und her. Offenbar kannte doch noch nicht jeder unsere verzwickte Familiengeschichte. Es war mir egal. „Übrigens finde ich seinen unerwarteten Wiederzugriff auf die Errungenschaften der Neuzeit ziemlich hoffnungsvoll. Vielleicht zwingt ihn der Laptop in die Realität zurück. Vielleicht spielt Eiko sogar mit dem Gedanken, vorzeitig sesshaft zu werden. Er braucht Strom, ein regensicheres Dach über den Kopf, einen Drucker, einen Tisch zum Draufstellen, einen Stuhl zum Sitzen. Internetanschluss! Hey, je länger ich darüber nachdenke, desto begeisterter bin ich. Zu deinen Gunsten hoffe ich, du hast den Laptop nicht mit Pornos vollgemüllt. Dein Sohn ist noch keine sechzehn!“

„Ha, ha, ausgesprochen witzig. Ich pinkel mir vor Lachen gleich ins Hemd. Und was das andere betrifft. Einen Laptop kann man sich auf die Knie stellen. Strom zum Aufladen des Akkus gibt’s auf jedem Campingplatz. Dein Sohn hat ein regensicheres Zelt - nämlich meins - und fürs Internet braucht man schon lange keine Telefonbuchse mehr. Aber du verstehst nicht, worum es eigentlich geht, verdammt noch mal. Dein Sohn hat meinen Laptop geklaut. Ein wahnsinnig schnelles Multimediagerät mit soviel Speicher, dass du ihn mit Nichts vollmüllen kannst. Das Ding war so teuer wie ...“

„Die Urlaubsreise mit deiner letzten Tussie auf die Malediven?“, unterbrach ich zuckersüß.

Ingeborgs Augen funkelten vor boshaftem Vergnügen. Und dabei war heute erst Mittwoch. Was für Pikanterien würde die Woche sonst noch zutage fördern? „Und ich verstehe dich gut, du sprichst wie immer laut genug. Nur deine Logik macht mir Sorgen. Wenn dein Sohn deinen Computer klaut, was ich sehr wohl begriffen habe, warum jammerst du mir die Ohren voll und holst dir das Scheißding nicht einfach wieder zurück? Wieso werde ich das Gefühl nicht los, du schiebst die ganze Verantwortung, einschließlich der Schuld für alles in der Vergangenheit Schiefgelaufene und alle zukünftigen Schlappen, mal wieder mir in die Schuhe?“

„Das müssen wir hier wohl nicht vor allen Leuten ausdiskutieren.“

Ingeborg, die mit einer Pobacke auf ihrer Schreibtischecke hockte, starrte stirnrunzelnd auf seinen melierten Schopf hinunter, und auch die anderen wirkten nicht erfreut über dieses Ausbremsen eines vielversprechenden Streits.

„Wo sonst? Wenn dein Telefon klingelt, guckst du zuerst aufs Display. Erscheint meine Nummer, gehst du nicht ran. Deine Mailbox ist ausgeschaltet, und sobald ich an der Haustür klingele, behauptet deine Nachbarin, dich schon seit Jahren nicht mehr gesehen zu haben. Als Reaktion auf meine Telegramme, wir müssten uns endlich wegen Eiko zusammensetzen, schickst du eine blödsinnige Hochrechnung mit dem Fazit, der Fall regele sich in einem Jahr ohnehin von selbst. Weißt du überhaupt, wie leicht ein weiteres Jahr Herumstromern das Leben deines Sohnes vollständig verpfuschen kann? Ich finde das Jobcenter geradezu ideal, um unsere Probleme auszudiskutieren. Gibt es nicht ohnehin eine neue Direktive von oben, bei uns Hilfeempfängern das häusliche Umfeld und den Freundeskreis abzuchecken. Also Leute, da vor euch sitzt der eine Teil meines häuslichen Problems. Teil zwei kann ich euch leider nicht vorführen, er ist ein wenig rastlos zurzeit. Ich hoffe, du notierst dir das, Ingeborg.“ Es war die Sache mit dem Glashaus und den Steinen, das wurde mir klar, sobald ich die letzte Silbe ausgesprochen hatte.

Ingeborg Schulze wurde dienstlich. Die nächste halbe Stunde, während die anderen drei die Köpfe einzogen, um nicht versehentlich von der Schärfe ihrer Stimme enthauptet zu werden, unterzog sie mich einem Verhör der dritten Art.

„Wo hast du dich in den letzten sechs Wochen beworben?“ Ich ratterte guten Gewissens die Liste meiner Bewerbungen herunter. „Ist das alles? Warum nicht als Spendensammlerin fürs Rote Kreuz?“ „... als Putzfrau?“ „... als Müllsortiererin?“ „... Erntehelferin?“ „... Klinkenputzen?“

Uwes Kopf verschmolz beinahe mit seinem Bildschirm, während Ingeborgs Fragen wie Maschinengewehrfeuer gegen meine Trommelfelle ratterten. Zeit zum Antworten gab sie mir nur bis zum ersten halben Satz, dann schoss sie, ganz die in Verhören versierte Kripobeamtin, die nächste Frage mitten in die Erklärungen. Mit ihren Kripokollegen hatte sie verstockten Straftätern gegenüber bestimmt gern guter Bulle/böser Bulle gespielt, und es bedurfte wenig Menschenkenntnis, ihre Lieblingsrolle zu bestimmen. Meine Fassung begann zu bröckeln, und ab irgendeiner Frage aktivierte ich meinen schalldichten Schutzschirm und starrte auf ihre Kinnlade, die, wie das Kinn einer Bauchrednerpuppe, hoch und runter klappte, hoch und runter und immer wieder hoch und runter. Ich fragte mich, wie viele Zähne ich ihr ausschlagen musste, damit sie endlich Ruhe gab und mich zu den anderen Leichen in ihren Aktenschrank kehrte.

Die Angestellte am Fenster, eine junge Hübsche, begann Uwe böse Blicke zuzuwerfen. Sie schien ihm seine vornehme Zurückhaltung übel zu nehmen. Immerhin wurde da gerade die Mutter seines Sohnes weggeputzt. Der männliche Sachbearbeiter zählte wie Uwe die Pixel auf seinem Monitor und bewegte nur stumm die Lippen, als betete er für meine oder seine Erlösung. Ich konzentrierte mich darauf, Uwes Hinterkopf zu fixieren. Irgendetwas passte nicht ins vertraute Bild. Etwas war anders an ihm.

Schließlich drang Ingeborgs Stimme noch einmal zu mir durch.

„Hast du eigentlich schon die Eingliederungsvereinbarung unterschrieben? Nein? Na sowas. Aber guck mal, rein zufällig habe ich schon eine vorbereitet. Hier, siehst du, da steht dein Name drauf, und dass du dich verpflichtest, bis zum nächsten Termin den Nachweis über dreißig Bewerbungen zu erbringen. Ich will zehn Bewerbungen auf Stellen, die die Arbeitsagentur im Internet veröffentlicht hat und den Rest als bunte Mischung aus Zeitarbeitsstellen, Minijobs und natürlich sozialversicherungspflichtigen Arbeitsangeboten. Unterschreib! Da! In deinen nächsten Bewerbungen möchte ich lesen, dass du den potenziellen Chefs anbietest, zwei Wochen unentgeltlich für sie zu arbeiten. Damit sie dich ausprobieren können, ohne die Katze im Sack zu kaufen. - Und solltest du in den kommenden vier Wochen nicht fündig werden, fährst du ganz einfach nach München. Dort gibt es einen Professor an der Uni, der 99,9 Prozent der Arbeitslosen, die wir ihm schicken, vermittelt. Für arme Hartz IV-Würstchen wie dich macht er das sogar umsonst, was keinesfalls üblich ist. Dafür sitzen du und der Prof ganz gemütlich hinter einer Glasscheibe, und vor der Glasscheibe sitzen all die kleinen Studenten und Studentinnen, die noch viel, viel lernen wollen, bevor sie sich in ein paar Jahren ebenfalls ins Heer der Arbeitslosen einreihen dürfen. Aber keine Bange, auf deiner Seite der Scheibe hörst du ihr Gegnicker gar nicht, großes Ehrenwort. - War noch was? Ach ja, ein paar Zuweisungen habe ich auch noch für dich.“

Dann ratterte ein Drucker, und ich stand wieder vor der Tür, mit mehreren Bögen Papier in der Hand und Ingeborg Schulzes Abschiedsworten in meinen Ohren. „Nächste Woche ziehen wir um. Gegenüber auf die andere Straßenseite in die ehemaligen Räume irgendeiner Akademie. Weißt du, was das Schöne daran ist? Ich bekomme mein eigenes Büro mit meinem eigenen Armesünderstühlchen. Und dann, das ist ein Versprechen von der großen Ingeborg an die kleine Pusch, werde ich viel öfter für dich Zeit haben. Wie wär’s mit alle drei bis vier Wochen?“

Kurz vor der Kernfusion hatte ich das getan, was ich immer tat, wenn ich gegen eine Person nicht ankam. Ich rächte mich an einer anderen. In diesem Fall an Uwe. Und ja, ich schämte mich dafür, ihn für meinen Hass auf Ingeborg missbraucht zu haben. Andererseits waren mir die Worte ziemlich spontan über die Lippen gekommen, und ich hatte zu dringend ein Ventil gebraucht, um auch nur den Versuch zu unternehmen, meiner vorlauten Zunge Einhalt zu gebieten. „Himmel, jetzt weiß ich, was mit dir nicht stimmt. Du hast dir die Segelohren operieren lassen. All die Jahre habe ich gepredigt Tu es, aber nein, du Feigling hast dich ja nie getraut. Darf ich davon ausgehen, dass du wieder eine neue Freundin hast?“

Sein hasserfüllter Blick würde mich so manche Nacht qualvoll stöhnen lassen, vor allem, weil ich schamlos gelogen hatte. Seine Segelohren waren nie ein Thema zwischen uns gewesen, ich hätte ihn auch ohne Ohren geliebt.

Ich starrte auf die Zuweisungen in meiner Hand. Im ersten Fall suchte ein Thanatopraktiker eine 400-Euro-Kraft zum täglichen Einsatz, im zweiten der Friedhof Wehl eine ungelernte Hilfskraft, ebenfalls auf geringfügiger Basis, aber nur für zwei Nachmittage die Woche.

Ich rettete mich nach Hause zu meinem treuen Hund.

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