Читать книгу Leben - Erben - Sterben - Charlie Meyer - Страница 8

6.

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Die nächsten zwei Tage passierte rein gar nichts, wenn man von einem Aushang am Schwarzen Brett im Hausflur absah, in dem uns Paul, der schüchterne junge Mann aus der ersten Etage, darüber informierte, dass ein Dieb durchs Haus schlich und ihm die Zeitungen von der Fußmatte stahl. Ich traf ihn zufällig, als ich meinen Briefkasten ausnahm, und wir diskutierten eine Weile darüber, wie man des Diebes habhaft werden könnte. Er bräuchte dringend die Seite mit den Kleinanzeigen, klagte Paul, denn neben seinem Halbtagsjob als Briefträger kaufe er von privat Trödel auf und klappere damit an den Wochenenden die Flohmärkte der Umgebung ab, damit er sich selbst ernähren könne und nicht in die Klauen von Hartz IV gerate. Ich nickte verständnisvoll und bot ihm meine Zeitung an. Dieselbe, die ich ihm kurz zuvor geklaut hatte. Paul kam auf einen Orangensaft mit hoch, aber gerade, als ich anfing, mich für ihn zu erwärmen, erzählte er mir von seinem Freund, dem Krankenpfleger, der an AIDS gestorben war, und fing an zu weinen. Ich beschloss, ihm keine Zeitungen mehr zu klauen, er litt auch ohne mich genug. Außerdem war er hoffnungslos schwul.

Als er gegangen war, mit überschwenglichem Dank für Zeitung und Trost, rief ich bei der DEWEZET an und handelte ein günstiges Probeabo für zwei Wochen aus. Länger schien sinnlos. Die Artikel über den brutalen Doppelmord im Villenviertel wurden bereits dünner, und die Informationen begannen sich zu wiederholen. Offiziell ging die Polizei noch immer von Raubmord aus, auch wenn die Berichterstattung wenig Zweifel daran ließ, dass der verwahrloste und ärmliche Zustand von F.C.‘s und Brunos Villa eigentlich keinen Einbrecher hinter dem Ofen hervorzulocken vermochte. Doch mittlerweile sprach die Justiz sogar von zwei mutmaßlichen Tätern, einem Mann und einer Frau. Die Spurensicherung habe im Haus sowohl ein fahlblondes Frauenhaar als auch den halben Abdruck eines Männerfußes im Vorgarten gefunden. Das Haar sei zur DNA-Analyse eingeschickt worden, der Abdruck werde überprüft.

Die ganze Zeit über war mir ausgesprochen mulmig zumute. Seit den Morden rotierte nicht nur der Polizeiapparat von Hameln. Sogar Hannover hatte Verstärkung geschickt. Noch immer kreisten Hubschrauber über der Stadt, der Klütwald wurde mit Suchhunden durchkämmt, als ob sich die Täter in einem Baumhaus versteckt hielten, und die Autofahrer klagten über verschärfte Radarkontrollen an den Ausfallstraßen. Die Kripo schien von der seltsamen Schlussfolgerung auszugehen, wer vor einem Mord nicht zurückschrecke, sei auch skrupellos genug, Geschwindigkeitsbegrenzungen zu überschreiten und obendrein so dummdreist, die Tatwaffe oder die goldenen Kerzenständer im Handschuhfach aufzubewahren. Und ich taperte zu Hause im Storchengrund durch meine Dachgeschosswohnung und fragte mich, ob man mir all diese horrenden Rechnungen in voller Höhe anlasten würde, wenn mich die Polizei schnappte und feststellte, dass das angebliche Diebesgut nichts weiter als ein ausgestopfter Hund war. Mit jedem Tag, den ich verstreichen ließ, ohne mich zu melden, mauerte ich mich in meiner Sackgasse weiter ein.

Mein umlackiertes Fahrrad stand noch immer im Keller. Paul, dem jungen Mann von unten erzählte ich, ich habe das alte Rad endlich verschrottet, weil unter meinem Gewicht der Rahmen weggebrochen sei und mir auf dem Flohmarkt ein neues besorgt. Dasselbe teilte ich Frau Reschke mit, die auf einen Plausch hochkam, um sich über die Lautstärke des Fernsehers zu beschweren. Tags darauf fand ich in meinem Briefkasten diverse Rezepte für eine Diätkur vor. Da mich das ständige Geklingel an meiner Wohnungstür nervös machte, beschloss ich mich in Zukunft lautstärkemäßig ein wenig zurückzuhalten. In meiner Situation konnte ich mir einen Protestmarsch der Nachbarn nicht leisten. An die kupferroten Haare gewöhnte ich mich nur langsam, doch am Samstagmorgen wachte ich auf, blinzelte in den Spiegel und fand sie gar nicht mal so übel.

Churchill, der ausgestopfte Hund, verbrachte seine Tage im Schlafzimmerschrank. Abends kramte ich ihn heraus, und er durfte mir beim Fernsehen oder Lesen Gesellschaft leisten. Schließlich war er außer mir das einzige Lebewesen in der Wohnung - wenn auch ein totes. Ich hatte ihn vom Kopf bis zu den wuscheligen Pfoten einer eingehenden Untersuchung unterzogen, ihn umgedreht und sogar geschüttelt, ohne mehr zu erreichen, als dass ihm ein paar Haare ausfielen. Es klimperten keine Golddukaten in seinem Inneren, es gab keine verborgenen Reißverschlüsse im Fell, die bunten Steine am Halsband waren nur Tand, nichts an Churchill ließ sich aufklappen, und soweit ich sehen konnte, hatte ihm auch niemand eine Schatzkarte in die knochenharte Haut tätowiert. Alles, was ich fand, war die lange uralte Bauchnarbe, wo der Präparator den armen Hund wieder zunähen musste, nachdem er Gott weiß, was mit seinen Innereien angestellt hatte. Ich kam zu der Überzeugung, dass Churchill genau das war, was er optisch darstellte: ein ausgestopfter Hund, der niemanden, geschweige denn einen Mörder, zum Töten animieren würde. Warum immer F.C. ihn aus dem Haus geschafft hatte, mit ihrer und Brunos Ermordung konnte er ganz einfach nichts zu tun haben. Meine Phantasie war mit mir durchgegangen. Für den Fall jedoch, dass ich mich irrte und der Mörder irgendwann bei mir vorbeischaute, sollte er den Hund ohne größere Suchaktion schnell finden und noch schneller wieder verschwinden.

Außerdem hatte F.C. nicht ganz unrecht, in Churchills Gegenwart fühlte man sich etwas weniger einsam.

Doch Samstag Nachmittag hielt ich es trotz Hund nicht mehr aus. Aus meinem Kühlschrank starrte mir die gähnende Leere entgegen, statt Mineralwasser trank ich mittlerweile frisch Gezapftes aus der Leitung, und anstelle von Toilettenpapier benutzte ich Papiertaschentücher, die nun ebenfalls zur Neige gingen. Ich musste zum Bankautomaten, ich musste einkaufen, ich musste an die frische Luft und mein Leben wieder aufnehmen. In der Samstagszeitung stand etwas Neues. Die Polizei suchte nach einem Hund, der sich zum Zeitpunkt des Doppelmordes eventuell in der Villa aufgehalten haben könnte. Man hatte eine Bürste mit Hundehaaren gefunden. Von einem toten, ausgestopften Hund war keine Rede. Weiterhin schloss die Soko Fiona mittlerweile ein Drama im familiären Umfeld aus.

Familie? Im Revival war keine Rede von einer Familie gewesen.

Ich atmete tief durch: Wenn bislang, fünf Tage nach dem Mord, weder mein Name in den Medien noch mein Mörder an der Wohnungstür aufgetaucht war, stiegen meine Chancen, mit einem blauen Auge davonzukommen.

Entschlossen, aber mit weichen Knien, trug ich mein kornblumenblaues Fahrrad an die frische Luft. Versorgungsmäßig wohnte ich, mit Ausnahme eines kleinen Tante-Emma-Ladens gleich um die Ecke, in einer Gegend der langen Wege. Ich steuerte den Geldautomaten am Brückenkopf an und radelte dann gleich weiter Richtung Penny-Markt am Stadtrand. Aus irgendeinem mir nicht einleuchtenden Grund fühlte ich mich seltsam belebt, geradeso, als stünde ich im Begriff, in eine Achterbahn einzusteigen, die nur darauf wartete, bis ich kopfüber in einem ihrer Loopings hing, um sich vom Strom abzukoppeln. Eine Art masochistisches Prickeln.

Zu meiner großen Bestürzung zog mein Fahrrad die Blicke der übrigen Verkehrsteilnehmer auf sich. Wie eine Kornblume aus tristem Weizen der Sonne entgegenleuchtet, bildete mein Fahrrad im Grau der Straßen einen Farbfleck, der sich nicht übersehen ließ. Wahrscheinlich leuchteten meine Haare nicht weniger, und gerade eben färbte der Phantomzeichner der Soko Fiona mein Haar rot und mein Fahrrad blau, und der Mörder dachte: Sieh an, deshalb habe ich sie noch nicht gefunden.

Und doch kam es mir vor, als trüge ich mein Kinn unter beziehungsweise über der neuen Farbe ein wenig höher.

Aus einem der offenen Fenster des Geburtshauses gegenüber vom Supermarkt quäkte ein Baby, und ich fragte mich, was wohl später einmal aus ihm werden würde, ein Gedanke, der mir seit einem Jahr Kindern gegenüber immer öfter kam. Bei Eikos Geburt hatte ich lediglich gedacht: Hauptsache er bleibt gesund und wird glücklich. Er war gesund und glücklich (hoffte ich jedenfalls), doch offenbar waren meine Ansprüche mittlerweile gestiegen. Er sollte gesund und glücklich sein und einem Ziel entgegenstreben, das sich nicht durch die Kraft seiner Beine, sondern durch die Stärke seines Geistes erreichen ließ. Mehr verlangte ich doch gar nicht für meine eigene Zufriedenheit.

Während ich mein Fahrrad anschloss, warf ich einen misstrauischen Blick in die Runde. Irgendwo hier draußen musste doch ein heller Kopf lauern, der ein frisch lackiertes Hollandrad mit einem Hollandrad in Verbindung brachte, das wegen Mordes gesucht wurde. Doch ich stieß nur auf lächelnde Gesichter und ab und an ein freundliches Nicken. Die neue Farbe heiterte offenbar die Gemüter auf, und dieser Effekt wiederum heiterte auch mich auf. Es war das erste Mal, dass ich mich als Wohltäter der Gemeinschaft betrachten durfte, und mein Ego schrie nach mehr.

Trotzdem gaben am Obststand meine Beine nach, als sich mir von hinten eine Hand auf die Schulter legte. In meinem Kopf klirrten Handschellen.

„Delia Pusch? Ich kann’s kaum glauben, aber du bist das wirklich! Mensch - wie geht‘s dir denn? Was machst du so? Erzähl doch mal.“

Ich starrte längere Zeit in das strahlende, braun gebrannte, männliche Gesicht mit der langen Narbe quer über der rechten Wange, und da war auch nicht das leiseste Klicken in meiner Erinnerung. Die erwartungsvolle Pause dehnte sich.

„Mensch! Hallo!“, stieß ich schließlich überschwenglich hervor. „Wo kommst du denn her? Es muss ja Ewigkeiten her sein, seit wir uns das letzte Mal begegnet sind.“ Ich wartete und hoffte, er möge die Hand noch ein wenig länger auf meiner Schulter lassen. Doch er zog sie weg.

„Du erinnerst dich nicht mehr an mich, oder?“, fragte er enttäuscht. „Dabei war ich früher so verschossen in dich, dass mich meine Mutter am liebsten im Keller eingesperrt hätte.“

„Ein Vorschlag zur Güte: du hilfst mir auf die Sprünge, gehst raus, kommst wieder rein, und wir spielen die Szene noch einmal.“

„Derek Schaper aus deiner Nachbarklasse. Die Lateiner, du weißt schon.“

„Ach?“, brachte ich dümmlich über die Lippen. Waren die Lateiner nicht die pickeligen Streber gewesen, um die jedes anständige Mädchen einen großen Bogen machte? Ich jedenfalls konnte mich an keinerlei Kontakte erinnern, und wenn dieser interessant aussehende Kerl jemals in mich verliebt gewesen war, hatte mich irgendein eifersüchtiger Jemand mit Blindheit geschlagen. „Warum hast du mich nie angesprochen, wenn du so verliebt warst?“

„Wäre sinnlos gewesen. Du warst damals einen Kopf größer als ich. Mich hättest du psychisch wie physisch mit der Lupe suchen können. Leider fing ich erst nach dem Abi zu wachsen an. In beiderlei Hinsicht.“ Er lächelte. Einer seiner unteren Schneidezähne war abgebrochen, aber ansonsten ließ sich nicht meckern. Die Bizepse, Trizepse und Brustmuskeln wölbten sich in gerade richtigem Maße unter seinem T-Shirt, der Bauch war platt und der Hintern knackig, falls die engen Jeans das Gesamtbild nicht verfälschten. „Tja“, er zögerte. „Hat mich jedenfalls gefreut, dich mal wiederzusehen. Ich muss noch den Kühlschrank in meiner neuen Wohnung auffüllen, damit ich am Wochenende was zu beißen habe. Bisher habe ich in Berlin gelebt, aber meiner Mutter geht’s nicht so gut. Krebs.“ Er schluckte. „Na ja, jedenfalls bin ich wieder in Hameln.“

„Es tut mir Leid für deine Mutter, aber ich finde es klasse, dass du dich um sie kümmerst. Lebt dein Vater noch?“ Ein nicht übel aussehender, durchtrainierter Kerl mit tadelloser Figur - ohne Ehering - der sein eigenes Großstadtleben der krebskranken Mutter opferte? So etwas war mir schon lange nicht mehr untergekommen, und mir schoss sofort durch den Kopf, dass an diesem Idealbild eines Mannes irgendetwas nicht stimmen könne. Wahrscheinlich stellte sich heraus, dass er schwul war.

Er nickte und verzog das Gesicht. „Schon, aber er hat Alzheimer. Es gibt Tage, da lässt ihn sein Gedächtnis derart im Stich, dass er heulend in der Ecke steht. Manchmal weiß ich wirklich nicht, wer von den beiden meine Hilfe dringender braucht.“ Diesmal war es an mir zu schlucken. Der arme Kerl. Da jammerte ich meinem durchgeknallten Sohn hinterher - der immerhin gesund und glücklich war - und Derek hatte sich selbst dazu verdonnert, das langsame Sterben seiner Eltern mitanzusehen.

„Tut mir Leid“, echote ich stupide. „Aber du wohnst nicht bei deinen Eltern, oder? Ich frage nur, weil du eben was von einer eigenen Wohnung gesagt hast.“

„Nein, nein, ich bin nur tagsüber da. Meine Eltern wohnen in einem kleinen Häuschen in der Nordstadt, und es fehlt ihnen an Platz, mich unterzubringen. Außerdem ist meine Mutter noch nicht bettlägerig oder so, das heißt, sie kann noch was im Haushalt machen und sich abends allein um meinen Vater kümmern. Aber früher oder später ...“ Seine Stimme brach, und er senkte den Blick auf die Spitzen seiner Cowboystiefel.

„Und wo wohnst du nun?“

„Oh, in einer kleinen Siedlung unten an der Weser. Nichts Besonderes, nur eine Zwei Zimmerwohnung in einem Mehrfamilienhaus. Die Straße hat einen ulkigen Namen: Froschpfuhl.“

Ich starrte ihn an. Froschpfuhl? Wenn ich in meinem Storchengrund aus einem der Giebelfenster unseres Wohnblocks blickte, lag unter mir eine kleine Siedlung mit bescheidenen Ein- und Mehrfamilienhäusern, die sich entlang einer Straße aufreihten, die Froschpfuhl hieß. Wenn das kein Zufall war!

Ich weiß nicht warum, aber irgendwie brachte ich in diesem Moment nicht die richtige Begeisterung auf. Ein toller Mann, der gleich um die Ecke wohnte. Es war beängstigend. Sein Enthusiasmus hingegen war geradezu rührend, zumal sich herausstellte, dass er nur zwei Häuser vom Storchengrund entfernt wohnte, also an meinem Ende des Froschpfuhls. Was er noch nicht wusste, und ich ihm auch nicht sagte, war die Tatsache, dass wir uns würden zuwinken können, sobald er auf seinen Balkon hinaustrat. Ich ahnte, von welcher Wohnung er sprach, und ich ahnte, dass sich meine Ahnung nicht trog. Die Wohnung stand - weil völlig überteuert - bestimmt schon seit einem Jahr leer. Was hieß, dass Derek offenbar nicht jeden Cent einzeln umdrehen musste.

Wir plauderten noch eine Weile über dies und das und ließen den Wolken über dem Supermarkt Zeit, sich zusammenzuballen. Als ich endlich mit meinen überquellenden Plastiktüten im Fahrradkorb die Breslauer Allee hinunterjagte, zuckten Blitze über einen tintenschwarzen Himmel, und der Donner krachte. Bevor ich den Storchengrund erreichte, war ich ein wandelnder Wasserfall.

Ich föhnte mich trocken, trank eine Tasse Kaffee und dachte über die Neuerung in meinem Leben nach. Wollte ich sie überhaupt? Hatte es in den letzten Tagen nicht schon genug Aufregungen gegeben, um mich das nächste Jahr emotional über Wasser zu halten? Nun, wir würden sehen. Ich hatte mich tatsächlich für ein erstes Date mit Derek Schaper verabredet. So gegen neun kam er mich abholen, und ich hoffte nur, dass er nicht gleich maßlos übertrieb und mich unter einem Berg roter Rosen begrub.

Gedankenverloren öffnete ich das Kuvert, das ich aus meinem Briefkasten gefischt hatte, und erstarrte. Ingeborg Schulze vom Jobcenter hatte mir einen Termin beim Amtsarzt verschafft, den ich bitte davon überzeugen sollte, dass zwischen mir und der 400-Euro-Stelle des Thanatopraktikers eine gesundheitliche Unverträglichkeit bestehe. Montagmorgen um acht. Aus eigener Anschauung und in Rücksprache mit Herrn Kuhn sei sie zu der Überzeugung gelangt, dass ich psychisch wie physisch stabil genug sei, die Stelle auszufüllen. Es folgte der Hinweis auf zwei weitere Stellen, die ich im letzten Jahr ebenfalls aus „nicht zwingenden Gründen“ abgelehnt hatte.

Kommen Sie bitte nüchtern und bringen Sie eine Urinprobe mit.

Ich saß wie vom Donner gerührt, obgleich das Gewitter draußen längst über die Weser gezogen war und nun den Hohenstein, eine Kalksteinklippe, die als heller Fleck aus dem bewaldeten Höhenzug des Süntels ragte, mit seinen Blitzen attackierte. Sollte mich der Staat tatsächlich zwingen können, die Gehilfin eines Leichenfledderers zu werden, würde ich Uwe höchstpersönlich einen Eimer mit gestocktem Blut vorbeibringen. Er spuckte schon, wenn er sich an einer Nadel stach. Und für Ingeborg Schulze ließ ich mir etwas ganz Besonderes einfallen. Etwas, dass ihr die helle, boshafte Freude am Leben vergällte. Etwas, dass mir bestimmt noch einfiel.

Toilettenfrau auf dem Schützenfest und Spargelstechen in Beelitz waren die beiden Jobangebote gewesen, die ich im letzten Jahr abgelehnt hatte. Doch besonders wurmte mich an dem Brief der Hinweis auf meine „körperliche Stabilität“.

Als ich mit meinem Kaffee in der Hand aus dem Fenster blickte, fuhr vor seiner neuen Wohnung im Froschpfuhl gerade Derek vor. Er fuhr, ich konnte es kaum fassen, ein Alfa Romeo Sportcoupé. Es war rot. Kirschrot. Ich tauchte weg und verschüttete den Kaffee, als er sich schwungvoll des kleinen Flitzers entledigte, sich umwandte und die Fenster in meinem Block nach mir absuchte. Wahrscheinlich hatte er mich trotzdem gesehen. Das letzte Bild auf meiner Netzhaut war ein hochgereckter Arm mit einer winkenden Hand.

Heiliger Strohsack, das kann ja heiter werden, dachte ich auf dem Boden hockend und versuchte hektisch, mich meiner kaffeedurchtränkten Hose zu entledigen, während die Haut meiner Beine schon in Flammen stand. Falls Derek und ich am Ende des Abends im Bett landeten, sollte ich vielleicht ganz nebenbei betonen, dass ich mich lediglich verbrüht hatte und nicht unter Krätze litt. Oder rechtzeitig das Licht löschen.

Fünf Minuten später klingelte das Telefon. Eine mir unbekannte Handynummer erschien auf dem Display.

„Hallo“, sagte Derek, „alles in Ordnung mit dir? Von unten sah’s aus, als seist du gestürzt.“

„Nein, nein, ich bin nur ...“ Verzweiflung überkam mich. „... unglücklich über den Hund gestürzt.“ Hilf Himmel, was log ich denn da?

„Ein Hund? Ich liebe Hunde. Was für eine Rasse ist es denn?“

„Ein ...“ Mir fiel nicht eine einzige Hunderasse ein. „... Mischling. Mehrere Hunderassen in einem. Und eigentlich ist es auch gar nicht mein Hund. Er gehört meiner Nachbarin, und ich passe nur solange auf ihn auf wie sie ...“ Samstag. Die Friseure hatten zu, die Geschäfte ebenfalls ... „... in der Sauna ist.“

„Sauna! Bei dieser Hitze? Es sind immer noch fünfundzwanzig Grad im Schatten. Und das nach einem Gewitter.“

Die Sache begann mir langsam Spaß zu machen. Ich bin nie eine begnadete Lügnerin gewesen, doch Übung soll bekanntlich zur Meisterschaft führen. „Es liegt an ihrem zu niedrigen Blutdruck. Sie weigert sich, Pillen zu schlucken, weil sie Angst um ihre Nieren hat, und geht deshalb einmal pro Tag in die Sauna. Hitze beschleunigt Puls und Herzschlag, weißt du, und damit steigt der Blutdruck. Sie ernährt sich übrigens auch makrobiotisch und baut auf dem Balkon ihren eigenen Hanf an.“

„Hanf? Wozu Hanf?“ Derek klang so irritiert, wie ich ihn haben wollte.

„Cannabis sativa. Sie hält sich jedes Jahr ein paar Pflanzen, und im Herbst, wenn sie die Blätter getrocknet hat, machen wir so etwas wie eine Hausfête.“ Während die roten Flecken auf meinen Beinen kleine Blasen warfen, krümmte ich mich in pubertärem Vergnügen. Die Vorstellung, wie Frau Müller, Frau Reschke, der schüchterne Paul und ich im Schneidersitz auf irgendeinem Balkon herumsaßen und einen Joint von Mund zu Mund weiterreichten, war jede Lüge wert.

„Hä? Wie alt sind denn die Leute bei dir im Haus?“

„Frau Reschke ist vielleicht zweiundsiebzig, Frau Müller um die fünfundsechzig und der Kleine von unten emotional etwa sechs bis sieben Jahre alt. Vom Äußeren her würde ich auf dreißig tippen.“

„Machst du das gern?“ Seine Stimme klang angespannt. „Ich meine, die Leute so zu veralbern?“

„Nein! Nur in Zeiten, wenn es sonst nichts zu lachen gibt.“ Ich dachte einen kleinen Moment nach und seufzte. „Okay, tut mir leid. Nimm’s nicht persönlich, aber meine häusliche Situation ist etwas angespannt. Ich erzähle es nachher. Oder nein, vielleicht lieber nicht, sonst lasse ich meine Wut versehentlich an dir aus oder stelle dem Kellner ein Bein.“

„Sehen wir uns trotzdem um neun?“

„Wie du willst. Du kennst ja den Spruch mit den Risiken und Nebenwirkungen.“

Ich konnte es nicht leugnen, nach diesem launischen Telefonat fühlte ich mich entschieden besser. Dass Derek noch immer mit mir ausgehen wollte, ließ eine hohe Toleranzgrenze vermuten. Er würde sie eventuell brauchen, die eine oder andere meiner Attacken abzupuffern. Ob er wohl surfte oder segelte? Die Bräune seiner Haut, die gebleichten braunen Haare, der durchtrainierte Körper. Um ein Haar tropfte mir Spucke aus dem Mund, und beschämt schlich ich ins Badezimmer, lauwarm duschen. Doch beim Anblick eines Adonis zu sabbern, schien mir im Nachhinein gesünder, als einen ausgestopften Hund zu umhalsen.

Viertel vor neun - ich stand gerade vor dem Spiegel und versuchte meiner grünen Bluse etwas abzugewinnen, was die geblümte nicht hatte - klingelte das Telefon erneut. Ich hob ernüchtert ab. Das Wunder von Hameln war vorbei, ich durfte in meinen alten Kartoffelsack zurückkriechen.

„Macht nichts, dann eben ein anderes Mal“, blaffte ich in den Hörer, ohne Derek zu Wort kommen zu lassen und legte wieder auf. Ich blickte auf die Uhr. Na also - beinahe schon Zeit ins Bett zu gehen.

Das Telefon klingelte erneut.

„Ich bin nicht sauer, keine Angst, ich muss sowieso noch mit dem Hund Gassi gehen.“

„Ich hab‘ mir schon gedacht, dass du früher oder später auf den Hund kommst. Allerdings habe ich nicht geglaubt, dass man mit dieser Art von Hund Gassi gehen könnte. “

„Uwe?“ Mir sackte das Herz in die Hose. „Ist was mit Eiko? Hatte er einen Unfall?“

„Nein, hatte er nicht, hör bloß mit deinem Getue auf. Glaubst du, es interessiert ihn, ob’s einem von uns dreckig geht? Ich wollte dir nur Bescheid geben, dass ich meine Überweisungen an ihn eingestellt habe. Ich bin ...“

„Du hast was? Bist du jetzt völlig meschugge geworden? Du kannst ihm nicht einfach die Gelder streichen. Der Junge ist dein Sohn. Sprich mit ihm, verdammt noch mal. Stell ihm ein Ultimatum, wenn’s denn sein muss. Ja, genau, die Idee ist vielleicht gar nicht so übel. Sag ihm, du stellst deine Zahlungen ein, falls er sich nicht binnen einer Woche zu einem Gespräch mit uns beiden einfindet. Meinetwegen irgendwo auf neutralem Boden. Du kannst ihn jedenfalls nicht ohne Vorwarnung in die Wüste schicken. Das ist mies, und damit erreichst du wahrscheinlich nur, dass er uns noch öfter beklaut. Wo liegt da der tiefere Sinn?“

„Du tust es immer. Immer und immer wieder, und wenn ich in hundert Jahren bei dir anrufe, wirst du es wieder tun. Du ...“

„Was denn? Ich weiß überhaupt nicht, wovon du redest?“

„Mich zu unterbrechen!“, stieß Uwe mit mühsamer Beherrschung hervor. „Seit wir uns kennen, tust du es. Und nicht nur mich, o nein, den Rest der Welt ebenfalls. Frag doch deinen Sohn, warum er auf und davon ist.“

„Sobald ich ihn erwische, werde ich das tun“, entgegnete ich bissig.

„Du bist eine absolut egomanische, selbstgefällige und ...“

„Schon gut, schon gut, diese Leier kenne ich mittlerweile auswendig. Wolltest du nicht endlich zur Sache kommen? Oh, warte mal, bei mir klingelt‘s.“

„Bei dir piept’s“, brüllte es aus dem Hörer, als ich ihn auf dem Tisch ablegte. Ich sprintete den Flur hinunter, drückte den Türöffner, riss die Wohnungstür auf und sprintete zum Telefon zurück. Eine Sache von drei Sekunden, doch Uwe murrte, das sei genau das, was er meinte. Unterbrechen. Abwürgen. Missachtung eines jeden anderen in der ganzen weiten Welt - außer mir selbst natürlich.

„Fass dich kurz, ich krieg Besuch. Für die ganze weite Welt habe ich momentan keine Zeit.“

„Kommt dein Pizzabäckerfreund, damit ihr zusammen was in den Ofen schiebt?“, fragte er gehässig.

„Hast du deine kleine Freundin für heute Nacht schon aufgeblasen?“, fragte ich angewidert zurück, während Dereks Schritte geradezu dämonisch durchs Haus hallten. „Können wir jetzt zur Sache kommen? Ich will gleich weg.“

„Hallo, jemand zuhause?“, rief Derek im Flur.

„Hier hinten, komm rein“, brüllte ich zurück und gleich darauf ins Telefon: „Verdammt noch mal, Uwe, was willst du?“

Als Derek in der Tür des Arbeitszimmers erschien, deutete ich auf den Schreibtischstuhl und mit vagen Kopfbewegungen eine Entschuldigung an. Er zog es vor, den Flur auf und ab zu schlendern. Dieser Mann war in seiner feinfühligen Rücksichtnahme eindeutig nicht von dieser Welt. Ich wünschte nur, er hätte seine Cowboystiefel zu Hause gelassen.

„Gut, da du offenbar Wichtigeres zu tun hast, als mit mir über das Schicksal deines Sohnes zu beraten, fasse ich mich kurz. Ich habe Eiko die Gelder gestrichen, weil mein Sohn seit beinahe einem Jahr nichts mehr mit mir zu tun haben will. Schlimmer noch, er beklaut mich dauernd. Zelt, Fernrohr, Lebensmittel und jetzt der Laptop. Du weißt, dass ich eigentlich ein dickes Fell habe, aber jede Mensch erträgt nur ein bestimmtes Quantum an Ablehnung. Ich ...“

„Du und dickes Fell, ja? Ich weiß nicht, wer von euch beiden die größere Mimose ist. Der Vater oder der Sohn. Außerdem bist du unterhaltspflichtig, und Eiko könnte dich theoretisch verklagen.“

„Würdest du mich bitte zu Ende reden lassen?“ Kleine bedeutungsvolle Pause. „Danke vielmals. Sollte sich Eiko entscheiden, bei dir wieder einzuziehen, werde ich meinen Verpflichtungen wie gehabt nachkommen. Und falls er mich verklagen will - bitte, ich werde ihm mit Vergnügen vor Gericht gegenübertreten. Das dumme Gesicht des Richters möchte ich um nichts auf der Welt verpassen, wenn er Eiko fragt Wo wohnen Sie, junger Mann? und dein Sohn antwortet Meinen Sie letzte Nacht, morgen oder in zwei Wochen?“ Er lachte bitter auf, und irgendwie reichte die Kapazität meiner Lunge nicht aus, um tief durchzuatmen. Das Hinterhältige an der Rache unseres Sohnes - wofür auch immer er uns bestrafte - war ihr reibungsloses Funktionieren.

„Hör mal, ich kann das nachvollziehen, Uwe. Einerseits jedenfalls. Du und Eiko, ihr wart früher ein Herz und eine Seele. Papa hier und Papa da, und Mama durfte ruhig wegbleiben. Aber gerade deshalb verstehe ich nicht, warum du diese Entfremdung so tatenlos hinnimmst? Wenn dir die Beziehung zu deinem Sohn etwas bedeutet, mein Gott, dann kämpf doch darum. Lass nicht zu, dass Eiko die Regeln in diesem Spiel bestimmt, und stell endlich dein pubertäres Verhalten ab. Du gefällst dir in der Rolle der gekränkten Leberwurst doch nur, weil es das Bequemste ist. Schmollen, Arme vor der Brust verschränken und ansonsten ganz bequem auf deinem Arsch sitzen bleiben. Und das ist genau das, was du in Krisen tust. Schmollen! Abwarten! Sitzen bleiben! Seit siebzehn Jahren.“ Mein Mitleid war so rasch wieder in sich zusammengefallen, wie es sich aufgebläht hatte. Ich geriet in Fahrt. „Du ziehst dich in deine Schmollecke zurück und jammerst mir die Ohren voll. Mama ist ja da, die Sache wieder zu richten, wozu soll sich Papa da aufraffen? Gut, streich ihm den Unterhalt, streich ihm, was du willst, was geht mich das an? Warum erzählst du mir das überhaupt? Soll ich jetzt finanziell für dich einspringen? Wenn du darauf spekulierst, hast du dich gewaltig geschnitten. Das Geld vom Jobcenter reicht gerade mal ...“

Auch Uwe wurde lauter. „Ich wollte dich informieren - weiter nichts als informieren, verdammt noch mal. Du bist doch diejenige, die mich ständig mit Anrufen und Telegrammen belästigt. Sprich mit mir, Uwe, er ist doch unser beider Sohn. Denkst du denn nicht mehr an die guten Zeiten, Uwe. Bitte ruf mich zurück, Uwe“, äffte er mich in höchsten Tönen nach, bevor seine Stimme ins Brüllen geriet. „Mir reicht‘s! Mir steht die ganze Scheiße bis sonstwohin. Ich will nicht mehr, kapierst du das endlich? Ich will von keinem von euch beiden mehr irgendetwas. Weder von dir noch von Eiko. Und da wir gerade dabei sind: wenn du mich noch einmal im Kreis meiner Kollegen derart bloßstellst ...“

„Und du?“, brüllte ich dazwischen. „Hat euch Arschlöchern Ingeborgs Vorstellung wenigstens Spaß gemacht, oder ...“

Es klickte, das Gespräch war beendet. Soweit zu einem kultivierten Meinungsaustausch über die Zukunft unseres Sohnes. Sobald würden wir wohl keine neue Konferenz mehr einberufen. Ich ging Derek suchen. Als ich am Spiegel vorbeikam, biss sich das Wutrot meiner Wangen mit dem Kupferrot meiner Haare. Mein Date stand im Schlafzimmer am Fenster, die Hände auf dem Rücken, und sah mit sorgenvollem Gesicht der blutroten Sonne beim Untergang zu. Einen Moment lang geriet ich in Panik, weil ich in dem Schatten neben meinem Bett Churchill zu erkennen glaubte, doch es war nur der Hocker, der mir als Nachttisch diente. Der Hund war im Kleiderschrank.

„Möchtest du lieber zu Hause bleiben?“, fragte Derek, ohne sich umzudrehen.

„Nein!“, entgegnete ich gereizt. „Will ich nicht. Warum auch?“ Zuviel Rücksichtnahme nervt mich beinahe ebenso wie ihr Nichtvorhandensein. „Los, lass uns gehen. Diese Scheißwoche ist endlich zu Ende. Einen besseren Grund zum Feiern habe ich leider nicht anzubieten.“

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