Читать книгу Mörderische Wut - Charlie Meyer - Страница 10

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„Wo bist du gewesen?“, fragte Elsa von Redlingen mit beherrschter Stimme und versteckte ihre Hände in den Schürzentaschen. „Du hast dich nicht bei mir abgemeldet, deine Arbeit ist liegen geblieben, und das Jägerschnitzel für dich habe ich gerade unserem Gast serviert. Also noch mal, wo bist du gewesen.“

„Irgendwo“, entgegnete Felix mürrisch und versuchte sich, ohne sie anzusehen, an ihr vorbei zum Waschbecken zu drücken.

Wie es kam, dass sie ihn plötzlich mit beiden Händen, die doch eben noch tief in den Taschen steckten, an den Schultern gepackt hielt und durchschüttelte, wusste sie nicht. Aber sie tat es, sie schüttelte ihn durch, dass in den ersten Augenblicken sein Kopf haltlos vor- und zurückschnellte, als säße er auf einer Spiralfeder und nicht auf knochigen Wirbeln.

„Wo?“, flüsterte sie, außer sich vor Wut. „Wo? Wo? Wo?“ Und bei jedem Wo? klappten seine Zähne zwischen den vor Verblüffung offenen Lippen mit deutlichem Klack zusammen.

Dann spürte sie, wie er sich unter ihrem wütenden Schütteln versteifte und all seine Muskeln anstrengte, die Haltlosigkeit abzublocken. Sie ließ ihn so plötzlich los, dass er steifbeinig rückwärts stolperte und hart gegen die Ecke der alten, zerkratzen Edelstahlspüle prallte. Sie hörte ihn nicht aufstöhnen, registrierte jedoch, wie sich seine Augen vor Schmerz verengten. Erst jetzt nahm sie die Schramme an seiner Stirn wahr, die Schürfwunden an den Armen und sein trotzig verschlossenes Gesicht.

„Mein Gott, Junge, wie siehst du nur aus?“ Sie sank schwer auf einen Stuhl, legte den Kopf in den Nacken und schloss die Augen. Sie weinte nicht, schon seit Monaten nicht mehr, zumindest flossen keine Tränen, aber es war diese bleierne Müdigkeit, die ihr immer öfter den Kopf schwer werden ließ. Als sie mühsam die Lider wieder hob, war Felix nicht mehr im Raum. Sie hörte im Badezimmer nebenan die Dusche laufen und stellte sich vor, wie er nun ganz allein versuchte, den Dreck aus den Schrammen zu spülen.

Es war nicht der erste Ausbruch zügelloser Wut, der ihr zu schaffen machte. Natürlich forderte sie der Junge ständig heraus, wenn er dies und jenes vergaß, die Krümel unter dem Tisch oder sich abzumelden, aber dafür war er ja Kind. Kinder stopften lästige Pflichten und Vorschriften eben so lange in eine Schublade, bis sie allzu sichtbar überquoll und folgten in der Zwischenzeit dem Gebot des Augenblicks. Eltern sorgten sich und schalten, fielen aber nicht wie Furien über sie her, wenn tatsächlich mal ein Unfall passierte.

Felix musste böse gestürzt sein.

Die Stuhllehne knarrte unter ihrem Gewicht. Sie blickte sich um, und die Schäbigkeit der Küche gab ihr einen Stich. Das billige Linoleum auf dem Boden, vor den Fußleisten wellig aufgebogen, die Kacheln mit den bräunlichen Fugen über dem Herd, die zerkratzte Spüle, die altmodischen Wasserhähne mit den durchbrochenen Speichenrädchen. Relikte aus Vorkriegszeiten, die Victor für liebenswerten Stil hielt und sich auszutauschen geweigert hatte. Zwei ehemals helle Birkenküchenschränke, mittlerweile vom Kochdunst auf Eiche nachgedunkelt, und der ganze zerkratzte, verschlissene, angeschlagene und fleckige Rest der Einrichtung.

Nicht nur in der Küche. Die Schäbigkeit prallte ihr entgegen, wenn sie mit Staubsauger und Wischmop durch die Gästezimmer im ersten Stock zog, durch die Schankstube neben der Haustür, das Esszimmer, den Aufenthaltsraum. Ausgebleichte Tapeten, abgetretene Läufer, zerschrammte Dielen.

Ein Tornado, dachte sie, ein Tornado wie der in Florida aus der Tagesschau gestern Abend. Das ganze verdammte Haus nur noch ein Haufen herumfliegendes Brennholz, und endlich ein neues Leben anfangen. Irgendwo, wo uns keiner kennt.

Mehr als ein Vierteljahrhundert auf dem Land, nur einmal unterbrochen durch fünf Jahre Stadt, langten für die Ewigkeit. Einschließlich gackernder Hühner.

Nebenan war jetzt alles ruhig. Kein Klappern von Messer und Gabel mehr, kein Klirren des Glases am Krug mit der Apfelschorle, wenn sich die Frau nachschenkte mit ihren nervösen Fingern, kein Stühle rücken. War sie etwa schon fertig mit dem Essen und wartete bereits ungeduldig auf einen Nachtisch?

Elsa erhob sich widerwillig und öffnete die Läden zur Durchreiche.

Einen Augenblick später stand sie im Esszimmer neben dem Tisch, die Fäuste in die Hüften gestemmt, die Stirn gefurcht, und starrte fassungslos auf den nahezu unberührten Teller. Es fehlten nicht mehr als zwei, drei Bissen Fleisch, ein halber Knödel und vielleicht ein paar Champignons. War das Fleisch versalzen? Oder zäh? Elsa griff nach dem Besteck und schnitt sich ein Stück ab. Sie kaute langsam, und ihr Blick verlor sich für den Moment in den Tiefen des Raumes. Nein, weder versalzen noch zäh. Sie probierte die Knödel. Zart. Die Rotweinsoße? Schmackhafter als jede andere Soße in den letzten Monaten.

Kopfschüttelnd schnappte sie sich das Tablett von der Anrichte und räumte ab. Das gute Fleisch einfach so ohne Erklärung liegen zu lassen, war schlichtweg eine Unverschämtheit und zeugte von miserabler Kinderstube. Es gab Gäste, die Höflichkeit zum entnervenden Exzess trieben. Es gab Gäste, die bei jeder Gelegenheit maulten und meckerten. Zweimal hatte sich sogar ein Zechpreller in die Pension verirrt, aber wortloses Verschwinden vom vollen Teller war ein Novum. Aß die Wondraschek vielleicht nur vegetarisch? Aber warum hatte sie dann nicht gleich protestiert? Nun, sie würde ihr die Mahlzeit auf jeden Fall auf die Rechnung setzen, dieser seltsamen Frau. Felix hatte Recht, irgendetwas stimmte nicht mit ihr, aber das sollte sie, Elsa, nicht interessieren. Lydia Wondraschek zahlte für zwei Wochen im Voraus, und zwar in bar, Übernachtung mit Halbpension, genauso wie das Studentenpärchen. Zudem bezog die Frau das teurere Balkonzimmer nach vorn raus. Elsa würde das Geld aus der Vermietung für eine neue Winterjacke für dem Jungen und Stiefel für sich selbst zurücklegen. Hier oben im Hochland fegten ab November eisige Schneestürme über die Hügel, und der heulende Wind schnitt in die Haut und reizte die Bronchen. Felix neigte zu Lungenentzündungen. Das letzte Mal hatte der Arzt im Krankenhaus von einer schwächlichen Abwehr gesprochen, von anämischem Blutbild und nach dem Auskurieren der Lungenentzündung eine Knochenmarkspunktion angeraten, um Leukämie auszuschließen. Victor hatte den fiebernden Jungen, blass vor Wut, in Decken gewickelt, auf den Rücksitz des Autos gepackt und war, während sie noch hilflos mit der Oberschwester debattierte, mit Felix einfach zurück in die Pension gebraust. Allein mit ihm. Ohne auf sie, seine Frau, zu warten.

Drei Wochen später, am Morgen des Überfalls, setzte er sich ins Auto und fuhr winkend davon, eine Tankstelle zu überfallen. Ohne Vorwarnung und ohne letzte liebevolle Worte für seinen Sohn: Tut mir leid, mein Junge, ich habe dich zwar vor einer Knochenmarkspunktion bewahrt, aber heute muss ich dir leider den Rest deines Lebens versauen. Aus egoistischen Gründen. Für Geld. Alles Liebe, Papa.

Das stehen gelassene Essen enthob sie der Frage, was sie Felix vorsetzen sollte. Von Rechts wegen müsste sie ihn aus Strafe glattweg hungern zu lassen, aber der Junge war ohnehin schon so spillerig. In der Küche schnitt sie das Schnitzel auf einem Brett in mundgerechte Stücke, vermengte die Happen mit Pilzen und Soße und briet in der schweren gusseisernen Pfanne dicke Knödelscheiben goldbraun an. Felix kam erst nach der zweiten Mahnung aus seinem Zimmer geschlurft und humpelte mit angeklatschten Haaren durch die Küche, ohne sie anzusehen. Sie schob ihm den Teller über den Tisch, und er starrte stumm auf Fleisch und Knödelscheiben, während sie seufzend Salbe, Pflaster und eine Mullbinde für seine Abschürfungen zusammensammelte.

„Ist das Fahrrad noch heil?“

„Hm.“

„Heißt das ja oder nein? Großer Gott, Junge, lass dir bloß nicht einfallen, meine Geduld auf eine neuerliche Probe zu stellen. Ich will ein klares ja oder nein. Und trink deine Milch.“

„Is‘ noch heil“, murmelte Felix und stocherte lustlos in seinem Essen herum. „Nur ’n schiefer Lenker. Die Schraube is‘ locker.“

„Warum isst du nicht?“

Der Junge zuckte mit den Schultern. „Keinen Hunger.“

„Na toll! Für wen koche ich hier eigentlich? Für Nachbars Katze?“

Er antwortete nicht und hockte nur als personifiziertes Häufchen Unglück zusammengesunken am Tisch.

Da stimmt was nicht, dachte Elsa alarmiert. Irgendetwas hat der Bengel ausgefressen. Sie drehte rastlos die Mullbinde in den Händen, während sie darauf wartete, ob er seinen Teller zurückschob oder doch noch anfing zu essen. In Sekunden liefen Katastrophen vor ihrem inneren Auge ab. Der Junge fuhr freihändig auf der Birnbaumallee. Ein nachfolgender Wagen wich einem unkontrollierten Schlenker aus und krachte frontal gegen einen Baum ... stieß mit einem entgegenkommenden Fahrzeug zusammen ... überschlug sich auf dem Feld. Schrott, Tote und eine nicht bezahlte Haftpflichtversicherung. Blut sickerte durch die Ritzen der Fahrertür ... aus dem Klumpen Schrott ... Feuer und Explosion ... Polizeisirenen. Keine Haftpflichtversicherung!

Es verschlug ihr den Atem.

Womit hätte sie den Beitrag Anfang des Jahres bezahlen sollen? Im Winter übernachteten nur manchmal Durchreisende in der Pension. Ab und an Vertreter, die zwei, drei Tage in der Gegend blieben, um den Dörflern neue Staubsauger oder Heizdecken aufzuschwatzen. Im Winter galt es die Gürtel eng zu schnallen und sich häufig genug sogar ohne Gäste in dem großen, zugigen Haus über Wasser zu halten. Vor allem wenn es der Fahrer des Räumfahrzeuges, der Wirt aus der Linde, versehentlich versäumte, die kleine Birnbaumallee zur Mörderpension freizuräumen. Oder wenn er einfach an der Abzweigung die rot-weiße Sperre aufstellte. Wegen Schneeverwehungen nicht passierbar. Wenn sie und Felix in dem Haus festsaßen, der Junge die Schule versäumte, die Speisekammer sich langsam leerte, und sie schließlich gezwungen war, das Amt in der Stadt einzuschalten. Aber selbst nach behördlichem Anpfiff dauerte es noch ein, zwei Tage, bis sich der Wirt mit dem Räumfahrzeug in die Birnbaumallee bequemte.

Wenn eins ihrer Szenarien der Wirklichkeit entsprach, wenn Felix tatsächlich einen schweren Unfall verursacht hatte...

Sie dachte unwillkürlich an das Gift für die Köder, das sie im letzten Jahr angeschafft hatte, nachdem ein tollwütiger Fuchs über den Parkplatz getorkelt war. Eddie hatte mit der stumpfen Seite der Axt auf ihn eingeschlagen, bis er sich nicht mehr rührte und sein Hirn am Eisen klebte. Er hatte ihn heimlich totgeschlagen und danach vergiftete Köder ausgelegt, ohne das Forstamt zu informieren.

Zwei Monate lang packte er alle verendeten Tiere in blaue Müllsäcke und entsorgte sie irgendwo klammheimlich. Füchse waren nur zwei dabei gewesen, und dann fraß auch noch der Dackel eines Gastes einen der Köder. Sie fand ihn morgens tot unter der Verandatreppe, und er sah nicht aus, als sei er leicht gestorben. Sein Herrchen blieb noch eine ganze Woche, nachdem sie den Dackel im Wald begraben hatte. Er suchte nach ihm, und als er endlich unter Tränen abfuhr, hätte sie gern von sich behauptet, der Anblick des verzweifelten alten Mannes habe ihr das Herz zerrissen, aber das stimmte einfach nicht. Sie hätte ihn schon Tage vorher aus dem Haus prügeln mögen aus Furcht, er könnte das Grab des Dackels finden. Als er abfuhr, holte sie den Jägermeister aus dem Schrank und trank, bis sie sich erbrach.

In ihrer grenzenlosen Verzweiflung unmittelbar nach dem Überfall war ihr Selbstmord oft genug als einziger Ausweg erschienen. Für immer die Augen schließen dürfen vor den Schlagzeilen, den Polizeiverhören und Felix‘ wortlosem Entsetzen. Im Nachhinein konnte sie nicht sagen, was sie von dem letzten Schritt abgehalten hatte, ihre Angst, die Verantwortung für ihren Sohn oder einfach nur die Zeit, die seltsamerweise nicht den Atem anhielt, und das im Leben Ausharren von Tag zu Tag erträglicher machte.

„Wie ... wieso bist du gestürzt? Ich meine, wie kam es dazu? Wo war das, im Wald oder auf der Landstraße?“

Felix presste die Lippen zusammen und schwieg.

Ein rascher Griff über den Tisch, und Elsa zwang sein Kinn in die Höhe, zwang ihren Sohn sie anzusehen und schrak vor der Feindschaft in seinem Blick zurück.

„Wo, Felix?“, fragte sie heiser. „Ich will wissen, wo du gestürzt bist? Es war auf der Allee, ja?“

In ihren Selbstmordfantasien hatte sie sich immer vorgestellt, wie sie und Felix auf dem Bett zusammen kuschelten. Wie sie ihm dann Geschichten erzählte und ihn fest im Arm hielt, wenn er in die andere Welt hinüberglitt, um dort auf sie, auf seine Mutter zu warten.

„Du tust mir weh.“ Das Bemühen um Beherrschung in Felix Stimme rief sie in die Wirklichkeit zurück. Sie lockerte erschrocken den Griff, ließ sein Kinn los und strich ihm die nassen Haare aus der Stirn. Er wandte den Kopf ab.

„Komm schon, mein Junge, sag mir, was passiert ist. Bitte! Es tut mir sehr leid, ich wollte dir nicht wehtun.“ Zu ihrer eigenen Verachtung hörte sie sich am Ende ihrer Kraft herzzerreißend flehen, und sein Kopf, der sich wieder über den Teller senkte, ruckte hoch. Er blickte auf, die Feindschaft noch in den Augen, aber schon mit bebenden Lippen. Elsa gelang es nur mit Mühe, der Mischung aus Abwehr und Verstörung in seinem Blick standzuhalten. Sie suchte nach ihrer Liebe für diesen kleinen Jungen, der doch nichts dafür konnte, der nicht die Eisenstange geschwungen und nicht den Tankwart zu Tode getreten hatte.

Nichts als Gereiztheit stieg in ihr auf.

„Hör auf mich so komisch anzusehen. Dazu hast du kein Recht. Also war es ein Unfall auf der Straße, ja oder nein?“

Felix schüttelte langsam den Kopf, und als er sprach, zitterte seine Stimme vor Angst und Wut und unter der Last der hasserfüllten Anklage in seinen Augen.

„Nein!“ stieß er heftig hervor. „Nicht auf der Landstraße. Ich bin nicht auf der Landstraße gestürzt. Es war im Wald. Plötzlich - plötzlich stand dieser Mann da zwischen den Bäumen, der Mann mit dem rot karierten Hemd. Und da bin ich mit dem Vorderrad irgendwo an ’ner Baumwurzel oder so abgerutscht.“

„Ein Mann?“ Elsa überlief es eiskalt. „Was für ein Mann? Kanntest du ihn? Hast du ihn hier in der Gegend schon einmal gesehen?“

Der Junge schluckte, eine Träne lief ihm über die Wange, und Elsa streckte automatisch die Hand aus, hielt ihren Lauf auf und strich sie mit dem Daumen fort. Was für weiche Haut er hatte, ihr Junge.

„Was für ein Mann?“, fragte sie noch einmal, aber diesmal tonlos, denn sie konnte ihm die Antwort vom verstörten Gesicht ablesen.

„Papa. Es war Papa!“

Lange Zeit saßen sie sich stumm gegenüber. Felix zog geräuschvoll die Nase hoch, und Elsa wühlte in der Kitteltasche nach einem Taschentuch und reichte es ihm wortlos über den Tisch. Komisch, dachte sie, ich sollte geschockt sein, dem Jungen widersprechen oder ihn anbrüllen, den Mund zu halten und nicht so schamlos zu lügen. Ihm mit Logik kommen: hör zu, Felix, wenn sich dein nichtsnutziger Vater tatsächlich wieder in der Gegend herumtreibt, dann aber doch nicht in dem rot karierten Flanellhemd vom Überfall. Rot kariertes Flanellhemd unter schwarzer Lederjacke, beige Cordhosen, leichte Wanderschuhe, Skimaske mit Sehschlitzen. In der Tagesschau war sogar ein Foto von ihm eingeblendet worden. Hinweise auf den Aufenthaltsort des flüchtigen Raubmörders Victor von Redlingen werden unter der Telefonnummer Soundso entgegengenommen. Victor, der Pechvogel. Irgendwann im Verlauf des Überfalls war ihm die glatte Chipkarte der Stadtbücherei aus der Hosentasche gerutscht. Vielleicht beim Ausholen mit der Eisenstange, vielleicht später bei der überhasteten Flucht der beiden. Auf der Vorderseite stand seine Mitgliedsnummer, hinten die schwungvolle Unterschrift: Victor von Redlingen. Die Leute im Dorf hatten ihn manchmal respektvoll mit Herr Baron angeredet, woraufhin er sich gewöhnlich um eine aristokratische Körperhaltung mühte, während sie verzweifelt mit dem Lachen kämpfte. Von Haus aus hieß er schlicht Victor Spode, mit c und nicht mit k. Im letzten großen Streit hatte sie ihn angefaucht, er habe sie ohnehin nur geheiratet, um den Herrn Baron spielen zu dürfen.

Darf’s ein Kotelett mehr sein, Herr Baron?

Victor, der in der Welt von heute auf morgen ein Wer und kein Niemand mehr sein wollte und ein Trümmerfeld zurückließ. Victor, der ewige Träumer, der nach Wolken haschte und doch nur Luft zwischen den Fingern spürte, während das Leben an ihm vorbeiraste, ohne auch nur die geringste Notiz von ihm zu nehmen.

Ich will ein Mountainbike und eine Swatch mit einer Micky Maus auf dem Zifferblatt, Papa. Felix‘ fieberschweres Gemurmel, bevor ihn sein Vater in Decken eingemummelt aus dem Krankenhaus entführte und sich den Jungen als Schutzschild für seine eigenen Ängste gegen die Brust presste.

Geschockt, dachte sie, ich müsste doch eigentlich geschockt sein.

Sie war es aber nicht. Tatsächlich wunderte sie sich mittlerweile nur mäßig über Victors plötzliches Wiederauftauchen, über das Mountainbike auf der Veranda und darüber, dass er sich seinem Sohn im Wald gezeigt hatte. Er spielte schon zu lange Haschmich mit der Polizei, verlor wahrscheinlich die Lust am Spiel, wurde kribbelig und nervös, weil das Warten und Verstecken seiner Ungeduld zuwiderlief. Früher oder später würde er auf der Türschwelle stehen und Hallo, da bin ich wieder sagen, geradeso, als sei er mal eben zum Einkaufen in den Supermarkt gefahren. Vielleicht wollte er von ihr auf dem Dachboden oder im Schuppen versteckt werden und sich nachts an sie kuscheln, um wieder seine Luftschlösser zu bauen. Eine Hazienda in Mexiko oder eine Gewürzplantage auf Sulawesi. Nach einer neuen Wolke Ausschau halten.

Wenn er kommt, überlegte sie müde, wenn er es wirklich wagt, mir von Angesicht zu Angesicht gegenüberzutreten, nach all dem, was er uns angetan hat, dann rufe ich die Polizei.

Sie feixte verächtlich. Die Polizei? Felix würde ihr den Verrat ebenso wenig verzeihen wie sie selbst es sich verzeihen könnte, noch einmal die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit auf die Pension zu lenken. Alles ein zweites Mal durchmachen müssen, um erneut vor den Trümmern ihres Lebens zu stehen? Nein, keine neuen Verhöre, keine Schlagzeilen auf den Titelseiten der Zeitungen, nicht noch einmal hilflos zusehen, wie sich ein kleiner Junge in seiner Qual unter der Bettdecke versteckt. Keine Polizei.

Sie dachte an den Abend, als Victor und sie sich wegen des versprochenen Mountainbikes gestritten hatten, laut und ohne zu ahnen, dass Felix nebenan mit seiner Eisenbahn spielte.

„Nicht ich, du hast ihm das Fahrrad versprochen. Wenn du glaubst, ich greife dafür unsere Ersparnisse an, meine Ersparnisse wohlgemerkt, dann lass dir eins gesagt sein: bevor ich dem Metzger aus dem Dorf die Rechnungen schuldig bleibe oder beim Sozialamt um Winterkleidung für Felix bettele, nur damit dieses dämliche Fahrrad angeschafft werden kann, hänge ich mich auf. Und wenn du das nächste Mal einen Fünfziger aus meinem Portemonnaie klaust, dann kannst du mich ohnehin auf dem Dachboden suchen und vom Balken schneiden.“ Sie war heulend aus der Küche und durchs Esszimmer gerannt, tränenblind auf Felix zu, der im Aufenthaltsraum mitten auf dem abgetretenen runden Teppich stand. Ganz starr und verkrampft, die Arme steif an den Seiten, die Schultern hochgezogen und den Kopf wie eine neugierige Schildkröte weit vorgestreckt, so stand er und brüllte ihr mit tränenüberströmten Gesicht entgegen: „Ich hasse dich, ich hasse dich, ich hasse dich ...“ Bei jedem Ich hasse dich ruckte der Kopf vor wie bei einer eilig dahintrippelnden Taube. Sie konnte sich noch des hysterischen Kitzelns in ihrer Kehle entsinnen, des stummen Gelächters, das unter dem Weinen ihre Schultern schüttelte.

Sie musste Victor ausfindig machen und ihn ein für alle Mal aus ihrem Leben verjagen. Mit welchen Mitteln auch immer. Nie wieder durfte er sich der Pension oder dem Jungen nähern. Nie wieder!

Sein Leichtsinn war kaum zu begreifen, wenn er tatsächlich in diesem verdammten rot karierten Hemd durch den Wald lief. Was bezweckte er damit? Fürchtete er, sein Sohn würde ihn nach all den Monaten nicht wiedererkennen, wenn er seiner Erinnerung nicht auf die Sprünge half? Weihnachten vor vier Jahren hatte sie Vater und Sohn Hemden im Partnerlook geschenkt, beide rot kariert, das große wie das kleine, weil es ihr witzig erschien. Es rührte sie an, wenn der große und der kleine Herr von Redlingen derart gekleidet Hand in Hand durch den Wald stapften.

Felix war Victor begegnet. Unfassbar!

„Bist du sicher, dass es dein Vater war? Rot karierte Hemden tragen viele, und du hast ihn vor zwei Jahren das letzte Mal gesehen.“

„Er war’s!“

„Hat er was zu dir gesagt?“

Felix schüttelte den Kopf. „Er stand ganz hinten zwischen den Bäumen und guckte nur rüber. Und als ich wieder auf die Beine kam, war er weg.“

„Hast du sein Gesicht gesehen? Ihn wirklich an seinem Gesicht erkannt?“

„Es war Papa“, beharrte Felix verstockt.

„Willst du mir tatsächlich weismachen, dein eigener Vater hätte zugesehen, wie du so schwer gestürzt bist, ohne auch nur den Versuch zu unternehmen, dir zu helfen?“ Typisch, dachte sie und lächelte beinahe. Kaum taucht Victor wieder auf, versuche ich ihn in den Augen seines Sohnes herabzusetzen. Genauso wie sie sich früher gegeneinander ausgespielt hatten.

Ich muss noch die Rechnung für die Reparatur des Abflusses begleichen, deinem Vater war es lieber, den Klempner zu rufen, als sich selbst mit dem Schraubenschlüssel abzumühen.

Deine Mutter hat ihre Gründe, warum sie dir von dem Geld kein Mountainbike kaufen kann, mein Sohn. Du und ich, wir beide denken zwar ein wenig anders darüber, aber ...

„Wo genau hast du ihn gesehen?“

Felix zögerte.

„Wo?“

„Oben auf dem Berg. In der Nähe der hohlen Eiche, noch ... noch vor den Wettersteinen.“ Die Worte kamen ihm nur mürrisch über die Lippen. Seit zur Sommersonnenwende Unbekannte bei den Wettersteinen eine Satansmesse abgehalten hatten, durfte er nicht mehr auf den Berg. Ein Wanderer hatte die Polizei benachrichtigt, weil Hunderte von Kerzenstummeln auf den Steinen klebten, und auf dem großen Opferstein Schmeißfliegen den ausgeweideten Kadaver eines jungen Schäferhundes umschwirrten. Auf dem Nachbarstein fanden sich die verkohlten Reste von Herz und Nieren. Die Polizei begnügte sich damit, die Spuren der Blutnacht abzutransportieren, am Wachs herumzukratzen und auf Nachfragen beunruhigter Dörfler mit den Schultern zu zucken. Bestimmt Stadtleute.

„Du ...“, setzte Elsa gallig an, und legte sich gerade noch rechtzeitig die Kandare um. Wenn sie jetzt meckerte, schaltete er auf stur und sie konnte genauso gut eine Wand befragen. „Weißt du was? Ich bin sicher, es war nur ein harmloser Pilzsammler. Oder ein Förster. Gib’s zu, er stand so weit von dir entfernt, dass du nur eine Gestalt im rot karierten Hemd, aber nicht die Gesichtszüge erkannt hast. Stimmt‘s nicht?“ Sie stoppte seufzend. Felix schob die Unterlippe vor und hob das Kinn.

„Und wenn schon“, begehrte er trotzig auf. „Es war trotzdem Papa. Da hing nämlich was am Baum.“ Seine Hand wühlte sich tief in die Hosentasche.

„Was heißt das?“

„Da hing was am Baum“, wiederholte er stumpf. „An einem Stück loser Borke. Die da!“

Er wühlte die Hand wieder aus der Tasche, die Finger zur Faust geschlossen, und als er sie langsam öffnete, und ihr über den Tisch entgegenstreckte, nur ein Stückchen und mit verkrampften Muskeln, vorsichtig und in Alarmbereitschaft, die Hand sofort zurückzuziehen, sollte seine Mutter zugreifen wollen, lag eine Armbanduhr auf seiner Handfläche. Eine Swatch mit dem großohrigen Kopf einer grinsenden Cartoonmaus auf dem Zifferblatt.

Ein Mountainbike und eine Swatch, Papa, ich wünsche mir eine Swatch mit Micky Maus auf dem Zifferblatt ...

Mal sehen, ob ich deine Mutter überreden kann, mein Sohn. Sein zweifelnder Gesichtsausdruck, das Zuzwinkern vom Vater zum Sohn, Felix‘ damals noch hoffnungsfrohes Lächeln, das erst nach und nach an ihrer Unerbittlichkeit zerschellte.

O Gott, dachte sie wie vom Donner gerührt, Victor will wirklich was von uns. Er ködert den Jungen. Erst das Mountainbike, jetzt die Swatch. Wenn sie am Baum hing, musste sich Victor sicher gewesen sein, dass der Junge auch an diesem Baum vorbeikam. Und damit er vom Rad stieg, hat er sich ihm für den Moment gezeigt. Woher wusste Victor, welchen Weg Felix fuhr? Das Hemd, die Swatch am Baum, das konnte doch nicht nur ein dummer Zufall gewesen sein, oder?

„Welchen Weg bist du gestern mit diesem verdammten Mountainbike gefahren?“, fragte sie scharf, unfähig noch länger Geduld zu zeigen, wo es nichts mehr zu dulden gab und sich der Konsequenz ihres Angriffs wohl bewusst.

Natürlich, da breitete er sich auch schon wieder aus, dieser vorsichtig taktierende Ausdruck auf seinem Gesicht. Scheeler Blick und zusammengepresste Lippen. Seine Faust schloss sich um die Uhr, er zog die Hand hastig zurück und zuckte nur stumm die Achseln.

„Antworte mir, Felix. Bist du gestern denselben Weg gefahren? Und vorgestern? Den Tag davor? Immer hoch zu den Wettersteinen, obwohl ich es dir ausdrücklich verboten habe?“

„Ich dreh ja vorher um“, stieß er mürrisch hervor.

„Habe ich dir verboten, den Berg hochzufahren oder habe ich es nicht?“

Er antwortete nicht, senkte nur den Blick und stocherte wieder mit der Gabel auf dem Teller herum, in dem guten Fleisch, das er nicht essen wollte, um sie zu strafen.

„Habe ich?“, brüllte sie und riss ihm den Teller unter den Fingern weg. Die Gabel ragte Fleisch und Pilze auf die Tischplatte, und dann hing sie einen Moment lang nutzlos, ohne Ziel, in der Luft. Soße tropfte von den Zinken, bevor er sie mit einem unkontrollierten Wutschrei zu ihr hinüberschleuderte und aus der Küche rannte.

Elsa bog den Kopf zur Seite, die Gabel knallte hinter ihr gegen den Küchenschrank, und das Klirren des Abprallens vermischte sich mit dem Krachen von Felix umstürzendem Stuhl.

Mörderische Wut

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