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Elsa von Redlingen heulte beim Zwiebelschneiden und tastete schnüffelnd nach ihrem Taschentuch in der Kitteltasche. Zwiebelfleisch mit frischen Kräutern, Knödel und zum Nachtisch selbst gemachte Rote Grütze mit Vanillesoße. Vorausgesetzt, Felix kam mit dem Fleisch vom Dorfmetzger rechtzeitig zurück. Wenn nicht, gab’s wohl nur Knödel mit Kräutern. Die Zeiger der Wandküchenuhr rückten zwar gerade erst auf halb sechs vor, aber im Aufenthaltsraum lauerten schon die beiden Neuankömmlinge und warfen gierige Blicke ins Esszimmer. Unruhig wie zwei hungrige Hyänen, die Aas rochen. Ein Student und seine Freundin von der Universität aus der Stadt. Sie wollten den Wald kartieren, und schon jetzt, nach ihrer ersten kurzen Erkundungstour durch den Moorsbacher Forst, zog sich eine Laub- und Nadelspur quer durch die Pension.

Im Moment steckten sie auf der Ottomane vor dem kalten Kamin die Köpfe zusammen, ihr kupferfarbener Lockenwust dicht an seinen zurückgekämmten braunen Haaren, die in einem albernen Pferdeschwanz endeten. Sie knackten Erdnüsse aus einer raschelnden Tüte und versuchten die Kerne mit aufgerissenen Mündern aus der Luft zu fangen. Die meisten plumpsten allerdings zu Boden. Elsa wischte sich mit dem Handrücken über die Augen, beugte den Nacken, und beobachtete die Beiden missmutig durch die fenstergroße Durchreiche zum Esszimmer und die offenen Türflügel des Aufenthaltsraumes. Die Ottomane mit ihrer asymmetrisch geschwungenen Rückenlehne stand genau am Ende der Sichtachse. Elsa mochte die Frau nicht, schlimmer noch, sie konnte sie nicht ausstehen. Sie verkrampfte sich, sowie ihre Blicke sich kreuzten, ohne dass sie einen nachvollziehbaren Grund für diese spontane Abneigung zu nennen wusste. Die paar Erdnüsse konnten es wohl nicht sein. Vielleicht ihre ungenierte Selbstsicherheit? Der goldene Löffel, den sie so offensichtlich seit ihrer Geburt vor sich hertrug? Oder, dass sie keine drei Stunden nach ihrer Ankunft die Pension so schrankenlos in Besitz genommen hatte, als tobe sie daheim durchs eigene Wohnzimmer, wo Heerscharen von Dienstmädchen bereitstanden, ihr die Sachen hinterherzuräumen?

Ihr loses Mundwerk würde bestimmt die anderen Gäste einschüchtern. Hey, Jo, sei kein Arsch und mach mit. Elsa hatte den verlegenen Blick von ihm aufgefangen.

Zurzeit gab es allerdings keine anderen Gäste in der Pension Odin.

Sie würde Felix den Besen in die Hand drücken müssen, am Ende rutschte noch einer der Beiden auf den Nüssen aus und brach sich die Haxen. Sie stellte sich das Hohngelächter ihrer Versicherungsgesellschaft vor, wenn er oder sie mit Gipsbein Ansprüche erhob. Im Januar hatte sie die jährliche Haftpflicht nicht bezahlt. Nach der ersten Mahnung war keine weitere Zahlkarte mehr eingetrudelt, irgendein Sachbearbeiter musste geschlurt haben, und sie hatte sich wohlweislich gehütet, in der Zentrale anzurufen. Tut mir leid, aber momentan und auf absehbare Zeit bin ich pleite.

Er bückte sich wenigstens manchmal nach den Erdnüssen, sie kickte sie mit der Schuhspitze quer über das Parkett unter die wurmstichige Nussbaumvitrine. Elsa juckte es in den Fingern, der verzogenen Göre Manieren einzubläuen. Auf der anderen Seite beabsichtigten die Beiden, den Rest des Augustes und wahrscheinlich den gesamten September in der Pension zu wohnen, was die Bezahlung ausstehender Rechnungen bedeutete. Vielleicht sogar eine neue Haftpflichtversicherung. Dafür mussten sich wohl Nüsse auf dem Boden ertragen lassen. In zwei Wochen endeten die großen Ferien und mit ihnen dieser verkorkste Sommer, der eine multinationale Völkerwanderung an südliche Strände ausgelöst hatte. Schniefende Mitteleuropäer, die sich die Knochen für Herbst und Winter aufheizen wollten. Das heimische Hotel- und Gaststättengewerbe zwischen Hiddensee und Zugspitze jammerte lauthals über leere Kassen, während die Kanarischen Inseln unter den Menschenmassen beinahe versanken.

Seit zwei Tagen schüttete es wenigstens nicht mehr wie zu Noahs Zeiten, dafür drückte eine dumpfe Hitzeglocke aufs Hochland und auf die Gemüter. Schafe und Kühe machten sich die Schatten der wenigen Weidebäume streitig, und die Bauern schielten nur noch träge durch die Lamellen der Jalousien, wenn der Hofhund anschlug. Die Ernte hatte bereits ein gieriger Wettergott als Sühneopfer für was auch immer gefordert. Die paar aufrechten Ähren lohnten den Einsatz des Mähdreschers kaum. Im Tiefland standen ganze Felder unter Wasser, die Feuerwehr pumpte Keller aus, und Bundeswehrsoldaten stapelten Sandsäcke entlang der Flüsse. Jeden Abend brachten die Nachrichten neue Katastrophenmeldungen.

Mittlerweile küsste sich das Studentenpärchen auf der Ottomane hingebungsvoll, und es reizte Elsa, die Türen der Durchreiche mit einem nachdrücklichen Knall zu schließen.

Sie waren mit einem großen Extrakoffer voll wissenschaftlichem Krimskrams angereist, den der junge Mann ächzend und ganz allein die Treppe hatte hinaufhieven müssen, Stufe für Stufe, während ihn seine Freundin lachend in den Kniekehlen kitzelte. Als Elsa ihnen später Badetücher aufs Zimmer brachte, stapelten sich Berge von Büchern mit ihr unverständlichen Titeln auf dem Tisch gegenüber dem breiten Doppelbett. Überall auf dem Boden lagen Karten und Luftbilder verstreut. Elsa konnte sich nicht mehr darauf besinnen, was genau sie kartieren wollten im Moorsbacher Forst hinter der Pension. Bäume oder Schmetterlinge oder vielleicht Pilze, es hatte sie in diesem Moment nicht weiter interessiert, weil in ihrem Kopf schon die Rechenmaschine losratterte, während ihr der junge Mann noch eindringlich die Notwendigkeit einer längeren Einquartierung auseinandersetzte. Gerade so, als habe sie angeboten, die beiden kostenlos zu beherbergen, und er sähe sich verpflichtet, anstandshalber ein letztes Mal auf die möglichen Konsequenzen dieses Angebotes hinzuweisen. Sie hatte nur noch die Worte wissenschaftliches Projekt der Universität und wahnsinnig wichtig im Ohr.

Als ob die Erde einfach auf Nimmerwiedersehen verpufft, wenn niemand die Eichen im Wald, die Zitronenfalter auf den Rühr-mich-nicht-an oder die Kröten im Erlenbruch zählt, dachte Elsa mit beißendem Spott.

Für einen derartigen Kokolores, aus Bundesmitteln oder EU-Töpfen finanziert, durften sich kleine Leute wie sie also krummschuften, während ihr Kostenübernahmeantrag für die geplante Asphaltierung des Parkplatzes vor der Pension seit Monaten von einem Sachbearbeiter zum anderen weitergereicht wurde. Wenn er endlich in die Hände des Zuständigen geriet, würde er voraussichtlich bereits so abgegrabbelt sein, dass ihre Eintragungen niemand mehr entziffern konnte.

Wo nur Felix abblieb? Schon viertel vor sechs. Hoffentlich jagte er mit seinem Mountainbike nicht wieder freihändig über die schmale Birnbaumallee. Einmal hatte sie sogar beobachtet, wie er das Fahrrad am Lenker in die Höhe riss, dass es sich aufbäumte wie ein Lipizzaner zur Levade und beinahe einen Herzinfarkt gekriegt. Dieses verdammte Mountainbike. Wie hingehext stand es an Felix‘ Geburtstag im Juli plötzlich frühmorgens auf der Veranda. Direkt vor der Haustür. Geradewegs aus der Hölle aufgefahren, hatte sie im ersten Schock gedacht, als sie ungläubig die Klappkarte las, die an rotem Geschenkband vom Lenker baumelte: Papa liebt dich und ist sehr stolz auf seinen Felix. Herzlichen Glückwunsch. Kleine bunte Klebebuchstaben aus einem Bastelladen. Ihr war speiübel geworden, und sie musste sich die Hand auf den Mund pressen, um nicht vor Grauen ihr Frühstück über den chromglänzenden Rahmen zu spucken. Als das Würgen nachließ, riss sie in unsäglicher Wut den Geschenkanhänger vom Lenker. Eben wollte sie das Mountainbike in den Kofferraum ihres Opels hieven, um es im finstersten Tümpel des Erlenbruchs zu versenken, als Felix auch schon jubelnd die Tür aufstieß und nach draußen stürzte. Die Klinke bohrte sich ihr in die Seite und schleuderte sie zurück. Um ein Haar wäre sie die Verandastufen hinuntergestürzt.

Er war wie sein Vater. Nicht zu bremsen in seiner Ungebärdigkeit und gedankenlos gegenüber denen, die er dabei unbedacht über den Haufen rannte.

Der Gedanke, dass sich Victor wieder in ihrer Nähe herumtrieb, hatte ihr in den ersten Tagen nach Felix‘ Geburtstag eine Höllenangst eingejagt. Sie fuhr bei jedem Geräusch zusammen, und wenn die Dielen im Korridor unter den Schritten der Gäste knarrten und ächzten, kitzelten panische Schreie ihre Kehle. Die Polizei fing gerade an, sich zu beruhigen. Die letzte Hausdurchsuchung, bei der Uniformierte ihre Waffen auf die Truhen und Schränke richteten und Rauskommen brüllten, lag mehr als vier Monate zurück. Ein Zeichen, so mutmaßte sie, dass die Fahndung nach den beiden flüchtigen Raubmördern endlich, endlich einschlief. Zumindest aber mangels neuer Hinweise erlahmte.

Der Überfall auf die Tankstelle. Victor, die Eisenstange, der Mann mit den Springerstiefeln ...

Bei der Kripo in der Stadt musste sie sich am Tag nach dem Überfall das Video der Überwachungskamera aus dem Verkaufsraum anzusehen. „Das da ist Ihr Mann. Victor“, hatten sie gesagt und auf den Mann mit der Skimaske gedeutet, der dem Tankwart vor der offenen Registrierkasse auf dem Tresen eine abgesägte Eisenstange über den Scheitel zog. „Und der da ist sein Kumpel. Nennen Sie uns seinen Namen.“ Und sie hatte in stummem Unglauben zugesehen, wie Victors Kumpel dem bewusstlosen Tankwart auf dem Boden mit seinen Springerstiefeln in den Leib trat, bis die Milz riss und die gesplitterten Rippen die Lunge durchbohrten. Sie stundenlang verhört worden, ohne in ihrer Betäubung und Ratlosigkeit auch nur einen einzigen Namen über die Lippen zu bringen. Victor, der Eigenbrötler, hatte einfach keine Freunde oder Kumpel gehabt. Sie konnte nur aussagen, er sei in den Tagen vor dem Unfall häufiger mit dem Wagen unterwegs gewesen und hilflos mit ansehen, wie sich die Tür des Vernehmungszimmers hinter ihrem damals elfjährigen Sohn schloss.

Der Tankwart starb an seinen inneren Blutungen, nicht unmittelbar am Schädelbruch. In guten Minuten konnte sie sich einreden, lediglich die Ehefrau eines Räubers zu sein, keine Mördergattin. In diesen Momenten rief sie sich das kurze Hochreißen von Victors rechtem Arm auf dem Video in Erinnerung, während er, mit dem Rücken zur Kamera, zusah, wie sein Kumpel wieder und wieder auf den zusammengekrümmten Tankwart eintrat. Dann malte sie sich aus, wie er mit dieser Geste das Morden zu stoppen suchte. Hör auf! Lass ihn an Leben! Niemand darf einen Menschen wie einen Wurm zertreten. Victor war kein Mörder. Mit der Eisenstange in der Hand hatte er beim Zuschlagen lediglich seine Kraft überschätzt, dem Tankwart doch nicht mit Absicht den Schädel eingeschlagen, sondern bestimmt nur ein paar Minuten zur Flucht herausschinden wollen, bevor die heulende Hetzjagd der Polizeisirenen einsetzte. Und an Tagen körperlicher und psychischer Ausgepumptheit, in Stunden, wo sie auf schmalen Grenzgraten balancierte, fühlte sie die gleichen Wellen zügellosen Verlangens und ohnmächtiger Wut über ihrem Kopf zusammenschlagen, die ihren Mann aus der heruntergekommen Pension und den Trümmern ihrer Ehe gespült hatten.

Nach der Vorführung des Tankstellenvideos und dem anschließenden Verhör war sie mit Victors altem Opel wieder nach Hause gefahren und hatte über der Toilettenschüssel gewürgt, bis sie sich in Krämpfen auf den kalten Badezimmerfliesen wand. Später war es das Lachen im Gesicht des Tankwartes, das durch ihre Albträume geisterte. Das spöttische Lachen, unmittelbar, bevor Victor ihn niederknüppelte, und dann die im Schock erstarrten lachenden Lippen, als sich der Mann mit eingeschlagenem Schädel bereits blutüberströmt am Boden krümmte. Dann die Explosion, mit der sein Kumpel aus der Lethargie erwachte, wie ein Rammbock nach vorn schoss und den Liegenden zu Tode trat.

Elsa wischte sich ungeduldig eine Haarsträhne aus der Stirn, fegte mit der Hand die Zwiebelhaut vom Hackbrett in den Mülleimer und verzog das Gesicht, als sie tränenblind nach einem Taschentuch suchte. Es gab Zeiten der Not, Wochen, wo sie und Felix quasi von der Hand in den Mund lebten. Als die Bank böse Mahnbriefe schrieb und die Telefongesellschaft mit Inkassofirmen drohte, träumte sie davon, das eines Nachts Victor eine Plastiktüte voll Hunderteuroscheinen auf der Türschwelle abstellte. Niemand außer ihr selbst würde das Blut auf den Scheinen sehen können. Und es färbte bestimmt nicht auf die nagelneuen Dachziegel ab, auf die Vorräte in der Speisekammer, die Winterklamotten oder den soliden Hühnerstall mit dem Betonboden, der die Legehennen nachts vor Marder und Fuchs schützen würde.

Auch Moral ließ sich kaufen, und an manchen Tagen kostete ihr Gewissen nur wenige Cent.

Statt des Geldes stand ein Mountainbike auf der Veranda.

Als sie anfing, die Zwiebeln zu dünsten, schloss sie die Läden vor der Durchreiche zum Esszimmer leise und stieß in der Küche die Tür zum Hinterhof auf. Im selben Moment fuhr sie mit einem erschrockenen Prusten zurück. Ihr Sohn stürmte über die Schwelle.

„Hallo Mama.“ Felix klatschte ihr nachlässig das zerdrückte Fleischpaket in die Hände und drängelte sich ungestüm an seiner Mutter vorbei, einen Ellenbogen in ihren Rippen. Sein weißes Hemd mit den kurzen Ärmeln war an einer Seite feucht und rötlich eingefärbt, und Fleischsaft tropfte durch das dicke rosa Einwickelpapier. Er musste sich das Paket beim Fahren unter den Arm geklemmt haben. Die Plastiktüte, die sie ihm mitgegeben hatte, beulte noch immer zusammengeprummelt seine Hosentasche aus. Elsa von Redlingen biss sich verärgert auf die Lippen, eine Hand auf den schmerzenden Rippen, die andere feucht vom Fleisch, und dachte plötzlich entsetzt: heute sein Ellenbogen, in ein paar Jahren eine Eisenstange. Weg da, ich komme!

„Ach Mensch, Felix ...“

Sie stoppte seufzend und blickte durch die offene Tür auf das schlammbespritzte Mountainbike. Die Dörfler zerrissen sich bestimmt schon die Mäuler darüber, woher das Geld für eine derart teure Anschaffung gekommen sein konnte. Vom Sozialamt und damit von ihnen, den Steuerzahlern? Wohl kaum aus der kläglichen Beute des Überfalls. Ging die Wirtin vielleicht nebenbei anschaffen? Stahl der Bengel etwa schon nach Papas Vorbild?

Aus verseuchter Erde keimt verseuchtes Korn.

Nach dem Überfall auf die Tankstelle strichen tagelang Einheimische und durch die Medien aufgehetzte Fremde durch den Wald, die sich keineswegs für die örtlichen Sehenswürdigkeiten - die Wettersteine oder den Hexenhain - interessierten. Sie umkreisten in immer engeren Spiralen die Pension, in der Hoffnung, einen Blick auf die Frau des brutalen Raubmörders zu werfen. Oder auf seinen Sohn, den armen Knirps, der sicherlich schon prüfend seine Füße neben die Fußstapfen des Vaters hielt. Der guckt so verschlagen. In den Monaten danach begannen die Gerüchte zu kursieren. Felix und sie hielten Kontakt zu den Flüchtigen. Felix und sie trügen körbeweise Lebensmittel zu dem Versteck der Männer im Wald. Felix und sie verbargen die Beiden im Keller, im Schuppen, im Hühnerstall und wo auch immer. Und bei jedem neuen Gerücht hämmerten noch vor dem Morgengrauen Polizisten an die Pensionstür und zielten auf Truhen und Schränke.

Es war Elsa nicht entgangen, dass die Dörfler hinter ihrem Rücken von der Mörderpension sprachen, und bei ihrem Anblick wohlig erschauerten, als wabere ein blutroter Abglanz der beiden Mordbuben um ihre Gestalt. Ein Grund mehr, den ohnehin überteuerten Kramladen und den Metzger im Dorf an der Bundesstraße zu meiden. In Notfällen, wenn sich kurzfristig Wandergruppen ankündigten und die Zeit für den Supermarkt in der Kleinstadt zu knapp wurde, oder wenn ihre zunehmende Vergesslichkeit wieder zuschlug, schickte sie feigerweise Felix ins Dorf, weil die Lästerzungen vor seinem schmalen angespannten Gesicht mit den Sommersprossen meist verstummten. Aber sie hasste sich dafür, und manchmal bedrängte sie sogar die Furcht, er könne sich vielleicht in seiner Berühmtheit als Sohn eines Raubmörders gefallen.

Zurzeit blieb ihr gar nichts anderes übrig, als Fleisch und Wurst beim Dorfmetzger zu kaufen. Der rückwärtige Teil des Supermarktes, der ganze Thekenbereich mit den Frischwaren, war wegen Wasserrohrbruchs abgesperrt. Wände mussten aufgebohrt und neu verputzt, gewellte Bodenbeläge herausgerissen werden. Also bestellte sie telefonisch bei Metzger Schmidt mit seiner blutfleckigen bodenlangen weißen Schürze und dem gierigen Funkeln in seinen Schweinsäuglein und schickte den Jungen zum Abholen.

„Du, der Marder hat die olle Helene gekillt“, platzte Felix mit erregt blitzenden Augen heraus. „Der Kerl hat sich mal wieder durchgebuddelt.“ Dann rannte er auch schon durch die Küche und stieß die Tür zum hinteren Flur auf, von dem ihre Privaträume abzweigten. „Mama, die Simpsons kommen gleich. Kann ich bis zum Essen fernsehen?“ Es gab Wichtigeres im Leben als eine tote Henne.

„Meinetwegen, aber wasch dir vorher noch die Hände und weich dein Hemd im Waschbecken ein. Hol dir ein T-Shirt aus dem Schrank. Und um halb acht essen wir. Gleich nach den Gästen.“

„Okay.“

Diesmal also die gefleckte Helene, ihre beste Legehenne. Wenn sie demselben verfressenen Marder zum Opfer gefallen war, der die Küken in der Apfelsinenkiste zerrissen hatte, taugten ihre Überreste wohl nicht einmal mehr als Köder für Eddies Fallen. Jetzt blieben ihr nur noch zwei Legehennen, und die würden in den nächsten Tagen vor Aufregung bestimmt keine Eier legen. Sie blickte niedergeschlagen Felix nach. Seine unbekümmerte Nachlässigkeit ließ die Tür mal wieder offenstehen. Elsa stieß sie mit dem Fuß hart ins Schloss, als hinten der Fernseher losplärrte. Allerdings gab sie sich keineswegs der Illusion hin, ihren Sohn vor der Mattscheibe auch nur im Mindesten schuldbewusst aufzuschrecken.

Der Marder hatte in derselben Nacht die Küken geholt, in der sich Victor mit dem Mountainbike zur Pension schlich. Zwei tagscheue Räuber, die als konturlose Schatten durch die Dunkelheit huschten, weil sie unter der Sonne die Jäger fürchten mussten. Eddie hatte Fallen mit Fleisch bestückt, um den Marder zu erwischen. Bislang hatte er nur eine fette Ratte gefangen, die mit gebrochenem Genick und halb abgetrenntem Kopf unter dem zugeschnappten Eisen klemmte.

Die Sache mit dem Mountainbike war Mitte Juli gewesen, und je mehr Tage verstrichen, ohne dass sich Victor noch einmal in irgendeiner Form meldete, desto mehr wertete sie sein nächtliches Auftauchen ab. Nur ein einmaliger Besuch zum Geburtstag deines Sohnes, Elsa, vergiss es einfach und leb weiter.

Für ihre lächerliche Überreaktion am Tag eins des Mountainbikes schämte sie sich heute noch. Während Felix im Schulbus ganz hibbelig vor Freude der Stadt entgegengefahren war und es kaum erwarten konnte, zu seinem tollen Geschenk zurückzukommen, hatte sie sich in ihrem hilflosen Hass das Brotmesser aus der Schublade geschnappt, war in den Wald gerannt und hatte die Bäume mit Victors Namen angebrüllt.

Als sie die Fußabdrücke auf dem Weg entdeckte, hörte sie auf zu brüllen. Es hatte am Abend zuvor bis beinahe Mitternacht geregnet, so wie schon den ganzen elenden Sommer lang, und jede einzelne Riffelung der Sohlen war im Matsch so deutlich herausgemeißelt wie in frisch gefallenem Schnee. Sie starrte sie an wie vom Donner gerührt. Nicht, weil es Victors geriffelte Sohlen gewesen waren, sondern weil es einfach nicht in ihren Schädel ging, wie sie die Abdrücke von der Pension bis just zu dieser Stelle hatte übersehen können. Sie führten den Weg so deutlich rauf und wieder runter, als hätte er gewollt, dass sie ihnen folgte. Mit einem Mal kam sie sich albern vor mit dem gezückten Messer in der Hand und glaubte einen Wimpernschlag lang sogar von fern sein leises ansteckendes Lachen zu hören.

Komm schon Elsa, du willst doch nicht etwa Schneewittchen und die armen Zwerge erstechen.

Als sie den Spuren weiter nachging, erst auf dem Weg, dann quer durch den Fichtenwald mit seinem spärlichen Unterholz, verbarg sie die Hand mit dem Messer hinter ihrem Rücken. Tränenlos stolperte sie vorwärts, aber ihr trockenes Schluchzen begleitete den Morgengesang der Vögel in den hochgewachsenen schlanken Bäumen. Zweimal verlor sie die Spur, zweimal fand sie sie wieder, dann stolperte sie aus dem Wald heraus auf die schmale Landstraße, die sich wie ein mäandrierender Fluss durch den Moorsbacher Forst schlängelte. Auf ihrem unbefestigten Seitenstreifen ließen sich problemlos die Reifenabdrücke eines Wagens erkennen. Hier musste Victor geparkt haben.

Sie hatte sich vorgestellt, wie er das Mountainbike aus dem Kofferraum hob und es schulterte, um die glänzende Unberührtheit von Rahmen und Felgen zu erhalten. Sie hatte sich vorgestellt, wie das Licht seiner Taschenlampe in der finsteren Neumondnacht als hektisches Glühwürmchen zwischen den Bäumen herumzitterte, während ihm der Schweiß von der Stirn rann, als er das geschulterte Fahrrad den langen Weg zur Pension trug.

Ein Mountainbike, Papa, ich wünsch mir ein Mountainbike. Felix flehentliches Bitten, zwei Jahre zuvor.

Schließlich hatte sie das Messer voll Scham unter Fichtennadeln vergraben und war kleinmütig zur Pension zurückgeschlichen, den Rücken so krumm wie die verhutzelte Veitel mit ihrem Reisigbündel auf dem Buckel. Das Holzweiblein vom Kupferstich über dem Kamin. Zu Hause dann fand sie den alten, an den Hühnerstall angrenzenden Hundezwinger neben den Gemüsebeeten mit Kükenflaum gelb beschneit vor.

Ab und an brachte ihr der Geschäftsführer der Hähnchenfabrik nördlich vom Moorsbacher Forst eine Kiste Küken vorbei, die aufgrund kleinerer Verkrüppelungen nicht den Normen entsprachen. Dafür und für einen Zehner auf die Hand überließ sie ihm und der spillerigen Auszubildenden des Dorfmetzgers einmal in der Woche, am Ruhetag, für ein Schäferstündchen ein Gästezimmer, ohne es herumzutratschen. Immer mittwochs, wenn das Mädchen morgens zur Handelsschule in die Stadt musste und im Kühlraum hinter der Metzgerei keine Rinderhälften zu zerlegen brauchte. Dann gönnte sich auch der Geschäftsführer der Hähnchenfabrik einen freien Nachmittag und wartete in seinem BMW vor dem Schultor auf sie. Manchmal blieben die beiden nach ihrem Tête-à-Tête noch zum Abendessen, und sie ließ sie ebenso wie Eddie am Tisch der Feriengäste im separaten Esszimmer Platz nehmen und berechnete ihnen nicht den vollen Preis. Tagesgäste bediente sie in der Schankstube gleich neben der Haustür. Wanderer, die ausgehungert und rotwangig die Verandastufen hinauf stapften und Autofahrer, die nur auf eine Tasse Kaffee stoppten. Im Sommer stellte sie für Wandergruppen auch zwei lange Holztische mit Bänken auf die Veranda. Wer essen wollte, konnte von einer Karte mit einfachen Schnellgerichten wie Kartoffelsalat mit Würstchen, Folienkartoffeln mit Quark und Pilzomelett wählen. Manchmal kochte sie auch die Fleisch- und Gemüsereste der Woche zu herzhaften Eintöpfen zusammen, die sie portionsweise einfror und bei Bedarf in der Mikrowelle wieder auftaute.

Die Hälfte der meist schwachen oder missgebildeten Küken aus den Apfelsinenkisten ging nach wenigen Tagen ein, aber der Rest ließ sich aufziehen, und tranchiert oder als Frikassee fielen die Verkrüppelungen nicht mehr auf. Sie hatte sich nie ausgerechnet, ob es sie nicht billiger käme, tiefgefrorene Hähnchen aus dem Supermarkt zu kaufen. Seit sie denken konnte, hatten immer irgendwo Hühner in ihrer Nähe gescharrt und gegackert, und da sie ohnehin in der gemeinsamen Tourismusbroschüre des Landkreises für die Pension Odin mit stallfrischen Frühstückseiern warb und Legehennen hielt, war das Aufpäppeln der Hähnchenküken quasi ein Abwasch.

Sie schlappte in ihren Latschen lustlos durch den kleinen Gemüsegarten mit den im Schlamm verfaulten Kohlköpfen und den ertrunkenen Radieschen und starrte lange auf das Wirrwarr blutiger Federn hinunter, aus denen grotesk die beiden Krallenfüße der gefleckten Henne Helene herausragten. Vor und hinter dem Maschendraht war ein Loch neben aufgehäufelter Erde. Der Marder hatte tüchtig geschuftet, und diesmal sogar am hellen Tag. Demnächst würde er sich wahrscheinlich den Braten direkt aus dem Backofen stehlen. Elsa holte den Spaten mit dem abgebrochenen Stiel aus dem Schuppen neben dem Hühnerhaus und machte sich ans Aufräumen.

Die Sonne stach ihr auf den gebeugten Nacken, und einen Moment lang hielt sie inne und wandte sich kopfschüttelnd zum Außenthermometer an der Hauswand um. Sechs Uhr abends, und die rote Quecksilbersäule weigerte sich zu sinken. Schwüle Hundstage. Auf der Fahrt zum Postamt am Morgen hatte sie eine Weile am Rand der Landstraße geparkt, sich nervös die kribbelnde Haut ihrer Arme gerieben und den flackernden Widerschein eines Wetterleuchtens unter dem tintenschwarzen Wolkengebirge über der Ebene beobachtet, ein beängstigendes kreuz und quer stummer Blitze.

Der Wald hinter Hühnerstall und Schuppen dampfte wie ein monströser Kondensator die Feuchte des Sommers zwischen Kiefern und Fichten aus, und sie wischte sich mit dem Handrücken den Schweiß von der Stirn und dachte an Gewitterstürme, entwurzelte Bäume und unbezahlte Versicherungen.

Mörderische Wut

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