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„Blöde Ziege“, murmelte Felix undeutlich und spürte, wie ihm von der Ohrfeige seiner Mutter die Hitze in die Wange stieg.

Die Frau hatte noch hysterischer gekreischt, als seine Mutter und der Student sie schließlich mit Gewalt aus dem Auto zerren mussten. An allen Gliedern zuckend und kreischend hatte sie sich über den Parkplatz zum Haus hinüberschleifen lassen. Erst oben auf der Veranda war sie plötzlich wie eine Stoffpuppe in sich zusammengesunken, und das nervenzerreißende Schrillen endete abrupt. Zur großen Erleichterung aller.

Nun lag sie im Aufenthaltsraum auf der Ottomane und wollte nicht zu sich kommen. Elsa von Redlingen hantierte im Gesicht der bewusstlosen Frau mit nassen Tüchern herum. Selbst in der Bewusstlosigkeit zuckten und krampften ihre Muskeln, als graule sie sich vor dem, was sie am Grund völliger Entspannung erwartete.

„Hey, warum rufen Sie nicht einfach einen Arzt“, murrte Alice Clark ungeduldig, und der Überdruss des nicht beachtet werden klang aus ihrer Stimme. Ihr Blick schweifte umher, als suche sie die Fernbedienung, um endlich das Programm wechseln zu können. „Oder die Männer mit der weißen Jacke.“

„Ich finde, Sie sollten auch die Polizei benachrichtigen“, sagte Johannes Lindström matt. Ihm war ganz offensichtlich nicht wohl beim Anblick der Bewusstlosen, etwas wie peinliche Berührung breitete sich zunehmend in seinen Zügen aus. „Wahrscheinlich ist sie ... ich meine, glauben Sie, irgend so ein Halunke hat sie unterwegs, vielleicht auf einem Waldparkplatz oder so ... na ja, Sie wissen schon?“

Elsa wusste nicht und wollte von derlei Dingen auch nichts wissen. „Wir sollten abwarten, sie kommt schon wieder zu sich.“ Sie ärgerte sich über die herablassende Art der jungen Frau und die ungewollten Ratschläge des Studenten. Als ob ihr jemals wieder freiwillig die Polizei ins Haus kam. Nichts in der Kleidung der Frau deutete auf Gewalt. Es gab keine Risse in der Bluse, keine Schmutzflecken und, Elsa schob den Rock wie unabsichtlich ein wenig höher, kein verschmiertes Blut an der Innenseite der Oberschenkel. Soweit sie feststellen konnte, war die Bewusstlose weder vergewaltigt noch geschlagen worden. Eben fingen auch ihre Lider an zu flattern. Blaugraue Pupillen blinzelten durch getuschte Wimpern, und dann plötzlich starrten Elsa die Augen mit einer so gnadenlosen Angst an, dass sie selbst erschrocken zurückfuhr. Einen Moment lang kämpften die Hände der Frau mit den ihren, die noch immer die nassen Tücher hielten, dann erschlaffte der Körper auf der Ottomane. Die Arme fielen kraftlos herab, und die Lider schlossen sich wieder. Tränen quollen wie Sturzbäche durch die Wimpern, und die Schultern der Frau begannen zu zucken. Gleichzeitig wandte sie das Gesicht zur Seite und weinte lautlos gegen die Lehne der Ottomane.

„Na, na!“ Elsa von Redlingen tätschelte ihren Arm und blickte ratlos auf, doch nur Felix hatte das panische Aufbegehren der Zusichkommenden bemerkt und starrte nun wie gebannt auf die Weinende. Das Studentenpärchen tuschelte miteinander, die Köpfe ein wenig abgewandt. Elsa seufzte und streckte eine Hand nach Felix aus. Die Ohrfeige tat ihr leid, ihr erster Schreck hatte dem Jungen die Schuld am Schreien der Frau gegeben. Unsinnigerweise natürlich, denn er trat doch nur ganz bedröppelt von einem Bein aufs andere hinter dem Fiat, nicht weniger geschockt als sie alle, die aus dem Haus gestürzt kamen. Warum auch sollte eine Frau hysterisch loskreischen, nur weil ein Dreizehnjähriger in der Dämmerung durch die Pfützen platschte. Aber Elsa fand ihn eben in unmittelbarer Nähe des Wagens und der kreischenden Frau vor, und ihre Hand rutschte aus.

„Komm mal her“, bat sie und mühte sich um Sanftheit in der Stimme, doch der Junge stellte sich taub und schlenderte betont langsam mit seiner roten Wange zur Tür. Elsa kniff die Lippen zusammen, und als die Frau vor ihr aus dem stummen Weinen heraus aufwimmerte, merkte sie, dass sie den Arm, den sie glaubte, noch immer tröstlich zu streicheln, in festem Griff hielt. Sie lockerte ihn erschrocken. Dieser dumme Bengel. Unversöhnlich wie sein Vater, die gleiche kompromisslose Sturheit, das gleiche Unvermögen zu verzeihen, die gleiche Lust am Auskosten des eigenen Leides und vor allem am Leid derer, denen nicht verziehen werden durfte.

„Felix!“, rief sie scharf. Der Arm der Frau unter ihrer tätschelnden Hand verkrampfte sich erneut.

Das Studentenpärchen hörte auf zu tuscheln, und das Mädchen funkelte sie vorwurfsvoll an.

„Hm?“ Er blickte sich nicht um, hielt nur einen Moment inne und stemmte sich mit beiden Händen gegen den Türrahmen, als müsse er für sich und seine Wut den Durchgang vergrößern.

„Nimm dir den Besen und feg das Esszimmer aus, aber ein bisschen dalli. Du kennst deine Pflichten hier im Haus, wir haben eine Abmachung. Dann schütt den Biomüll aus der Küche auf den Kompost, und um zehn liegst du im Bett. Und Morgen früh steht als erstes der Aufenthaltsraum auf deinem Plan, hast du mich verstanden?“

„Kinderarbeit“, flüsterte Alice Clark ihrem Freund spöttisch zu und umklammerte mit beiden Händen seine Taille, als müsse sie ihn, den armen Hilflosen, vor Unhaltbarkeiten wie Gästearbeit in Pensionen schützen. Sie flüsterte nicht leise genug. Elsa, seit zwei Jahren in Gesellschaft jener Leute, die von dem Überfall wussten, zu oft mit zu lautem Flüstern konfrontiert, um es als verzeihliche Unachtsamkeit abzutun, blickte genervt auf.

„Er arbeitet auf eigenen Wunsch, Frau Clark“, entgegnete sie beißend. „Gegen Bezahlung. Es sind Ferien, der Junge hat Zeit und spart sich das Geld für einen Computer zusammen.“

Am ersten Ferientag, vor seinem Geburtstag, hatte er noch verkündet, auf ein Mountainbike sparen zu wollen. Du kaufst mir ja doch keins.

Alice zuckte nur die Achseln, und ein Blick tiefsten Mitgefühls maß den Jungen von Kopf bis Fuß. Noch immer stemmte er sich mit den Handflächen gegen den Holzrahmen, aber er löste sich aus der Verkrampfung. Seine Schulterblätter bewegten sich, Muskeln zuckten.

Er lacht, dachte Elsa bitter. Er lacht über dein Unvermögen, Victors Züge aus seinem Gesicht zu wischen. Er lacht über deine Unfähigkeit, ihn vorbehaltlos zu lieben, nur ihn, den Jungen Felix von Redlingen, nicht Felix von Redlingen, Victors Sohn. Vielleicht lacht er sogar über das verpfuschte Leben eines Dreizehnjährigen.

„Na geh schon“, sagte sie müde und merkte, wie sich vor Erschöpfung die Schärfe ihres Blickes trübte. Sie schlief nicht mehr gut seit dem Überfall, und ihre zunehmende Schlappheit bereitete ihr Sorgen. „Und hol dein Fahrrad ins Haus. Du kannst es hinten bei uns in den Flur stellen, nachher schnappt es sich noch der Marder wie die Helene.“

Er ließ langsam die Arme sinken, ohne sich nach ihr umzuwenden, aber sie wusste, jetzt lachte er nicht mehr. Er grübelte über ihren Meinungswechsel nach, und sie tat es ebenfalls. Bisher hatte sie nicht einmal den Gedanken an das Mountainbike im Haus ertragen können und ihn schroffer als nötig angewiesen, es hinten im Schuppen neben dem Hühnerstall unterzustellen. Felix hatte den Riegel vor der Tür provisorisch mit Draht befestigen müssen, weil irgendjemand, vielleicht auf der Suche nach der kläglichen Beute, schon vor Monaten das Schloss aufgebrochen hatte. Anfangs ließ sich Felix zwei-, dreimal pro Nacht vom Radio wecken und schlich im Pyjama und mit nackten Füßen durch den Gemüsegarten, um mit der Taschenlampe durch den Türspalt des Schuppens den glänzenden Fahrradrahmen anzuleuchten. Dann, als ihn nicht einmal mehr die losplärrende Musik aus seinem Schlaf reißen konnte, erschien er mit diesem übertriebenen Zug von Stoizismus im Gesicht zum Frühstück. Dann ist das Fahrrad eben gestohlen, na und? Ist ja nur ein supertolles Mountainbike von meinem Vater, und ich weiß genau, wer Schuld hat, wenn’s geklaut wird.

Dank des bösartigen Lästermauls der alten Schmidt im Tante-Emma-Laden gab er ihr sogar die Schuld am Überfall. Dabei hatten sie an jenem Tag nur kurz auf dem Rückweg aus der Stadt einen Zwischenstopp im Dorf eingelegt, um sich ein Eis zu kaufen.

„So ein netter, freundlicher Mann, der Herr von Redlingen.“ Immer wieder hörte sie es die Alte im Geist noch flüstern, und jedesmal verwünschte sie sich, die hinterhältige Hexe nicht auf der Stelle erwürgt zu haben. „Den hat sicher seine Frau ins Verderben getrieben. Säuft s‘ oder geht s‘ am Ende fremd? So ein vornehmer Mensch läuft doch nicht für rein gar nix Amok. Da muss doch irgendwas Scheußliches in der Familie vorgefallen sein.“

Und Felix, Hand in Hand mit ihr vor der Theke sich schon die Lippen leckend, riss sich los und stürzte nach draußen. Sie kaufte trotzdem zwei Eis am Stiel, aber er ließ seins einfach in der Hitze des Wagens schmelzen und tropfte seine Beine und den Sitz voll. Als sie ihn wütend und verletzt anfuhr, warf er das Eis mit abgewandtem Gesicht aus dem Fenster. Seitdem hielt er Distanz, bewegte sich außerhalb der Reichweite ihrer Hände, um jede ihrer spärlichen Liebkosungsversuche im Keim zu ersticken. Seit vierzehn Monaten nunmehr.

Die Frau auf der Ottomane weinte noch immer mit stummem Zucken der Schultern. Ihre Lider röteten sich, und Tränen rollten über die Wangen und hinterließen helle Striemen im Make-up. Anklagende Zeugen ihrer Verzweiflung. Elsa von Redlingen starrte ungeduldig über ihren Scheitel hinweg in die Ecke neben der Vitrine mit dem Nippes, die Dreckecke, die der Schrubber nie erreichte, und dachte an das morgige Abendessen. Hatte sie noch Weißkohl in der Vorratskammer? Sie gab nicht vor, Mitgefühl für das unbekannte Unglück dieser Frau aufzubringen, weil es vergebliche Liebesmüh gewesen wäre. In ihr häufte sich der eigene Müll bis zur Halskrause auf, es gab keine Lücken mehr für den Müll Fremder. Liebe, Wärme und Mitgefühl schienen ihr nicht mehr anwendbare Begriffe aus einem früheren Leben. Meist reichte es nur für distanzierte Anteilnahme. Vom Verstand aus gesteuert, nicht vom Herzen. Manchmal saß sie ganz still in ihrem Schlafzimmer auf der Bettkante, eine Hand auf den Rippen. Dann horchte sie in sich hinein und staunte über das monoton schlagende Taktell in ihrer Brust, das sich allen Widrigkeiten zum Hohn weigerte, auch nur einen Schlag auszulassen.

So waren seit dem Überfall auf die Tankstelle die Monate verronnen.

Johannes Lindströms mattes Interesse für die Bewusstlose wich nun der hilflosen Verachtung eines gestandenen Mannsbildes heulenden Frauen gegenüber. Er gähnte mit Nachdruck, oder riss zumindest den Mund auf und rang seiner Kehle ein gequältes, lang anhaltendes Uaaaaah ab, das deutlich zum Ausdruck brachte, wie schwer es ihm nach all den Zumutungen fiel, sich auf den Beinen zu halten.

„Ich glaub, ich geh‘ in die Heia!“ Er riss noch einmal die Lippen auseinander, den Kopf im Nacken, die großen Zähne gebleckt wie ein mürrischer Straßenköter, aber stumm diesmal, und seine Freundin gnickerte vor Vergnügen.

„Ab ins Körbchen, du müder Sack, auf dich wartet noch Arbeit“, frotzelte sie und kniff ihn in den Arm, dass er genervt aufstöhnte. „Oder können wir Ihnen hier noch irgendwie helfen?“

Nett von ihr, dachte Elsa angenehm berührt, aber als sie von dem fahlen Gesicht mit den Tränenstriemen aufblickte, drückten sich die Beiden bereits zur Tür hinaus und wandten ihr die Rücken zu. Nur eine leere Höflichkeitsfloskel.

„Nein, ich glaube, wir kommen allein zurecht, aber trotzdem vielen Dank für Ihr Angebot“, entgegnete sie betont freundlich und registrierte leicht erheitert, wie die Studentin die Schultern hochzog, als verletze die schon nicht mehr erwartete Antwort die starren Konventionen der Höflichkeit. Es war doch nur eine rhetorische Frage gewesen, kein ernsthaftes Hilfsangebot eines zahlenden Gastes an die kassierende Wirtin. Die Tür krachte hinter den beiden zu, und den Körper der jetzt nur leise und erschöpft schluchzenden Frau auf der Ottomane durchlief ein Zucken.

„Soll ich jemanden anrufen, der Sie abholt?“, fragte Elsa und stellte sich widerwillig auf einen längeren Abend ein. „Ihren Mann oder eine Freundin?“ Die Frau trug einen breiten goldenen Ehering am Finger.

„Ne ... Nein“, stammelte es zwischen den versiegenden Schluchzern, und die Frau zog geräuschvoll die Nase hoch. „Sie ... Sie vermieten doch Zimmer?“ Ihre Stimme wurde klarer, und endlich hörten auch die Tränen auf zu fließen. „Ich habe das Schild an der Bundesstraße gesehen, Pension Odin, Zimmer frei, meine ich. Es ... Sie müssen entschuldigen, es tut mir sehr leid, aber ...“

„Was ist denn passiert? Etwas ... etwas Ungewöhnliches?“ Großer Gott, dachte sie ungeduldig, frag einfach. „Sind Sie auf einem Rastplatz im Auto überfallen worden? Oder im Wald bei einem Spaziergang?“ Sie sah Victors Kumpel vom Videofilm vor sich, wie er mit seinen schweren Stiefeln dem Tankwart in den Bauch trat, und, obgleich sie das Bild zu verdrängen suchte, sah sie gleichzeitig Victor mit der Eisenstange in der Hand hinter einem Baum lauern. Sie schüttelte kurz und heftig den Kopf, als ließe sich die Vorstellung aus ihren Gehirnwindungen einfach so auf den Boden schütteln und wie eine Kakerlake zertreten.

„Was? Ein Überfall? Ach Gott, nein, ich ... Nein, natürlich nicht.“ Die Frau zog ihren Arm unter Elsas Hand hervor, rasch, in einer schnellen impulsiven Bewegung, und richtete sich ebenso hastig auf. Sie zupfte am Saum ihres Rockes und strich sich die stumpfen blonden Haare hinter die Ohren. Elsa reichte ihr ein Taschentuch, sie nahm es mit abgewandtem Gesicht entgegen. Als sie sich lautstark schnäuzte, ein trompetender Elefant, stahl sich in beide Gesichter ein nervöses Lächeln.

„Was ist nun mit dem Zimmer?“ Die Stimme der Frau klang mit einem Mal seltsam ungeduldig, so als hätten sie bereits seit einer Stunde nichts anderes getan, als über das Zimmer zu sprechen. Elsa erhob sich ernüchtert von der Kante der Ottomane, und geschäftsmäßiges Interesse breitete sich in ihren Zügen aus.

„Ich habe Zimmer in zwei Preisklassen. Ein Großes nach vorn raus mit Balkon, und ein etwas Kleineres mit Blick auf den Wald. Es ist nicht ganz so hell wie das Vordere, aber ein Bad hat es ebenfalls. Wir ... ich habe die Bäder vor ein paar Jahren alle erst erneuen lassen, vorher gab’s in der Pension nur ein Etagenbad, und die Gäste liefen in Badetücher gehüllt durchs Haus. Deshalb, als ich das Geld von meiner Mutter erbte, haben Vic ... habe ich ...“ Sie verstummte mitten im Satz. Großer Gott, dachte sie verblüfft, woher kommt die plötzliche Redseligkeit? Mach weiter so, und du beichtest dieser wildfremden Frau gleich deine gesamte Lebensgeschichte. Sie müssen wissen, ich bin die Ehefrau eines der beiden flüchtigen Mörder vom Raubmord von vor zwei Jahren. Sie haben davon sicherlich in der Zeitung gelesen, ein Bild des armen Tankwartes war gleich auf Seite eins. Er hieß Willem Broderson, und wenn Sie Lust haben, können Sie ihm auf dem Dorffriedhof Blumen aufs Grab stellen. Mein Victor, wissen Sie, der hatte eine Eisenstange und einen Kumpel mit Springerstiefeln ...

„Entschuldigung, was meinten Sie eben?“

„Ich sagte, ich nehme das Zimmer nach hinten heraus“, wiederholte die Frau scharf, milderte jedoch sofort ihren Ton. „Dort ist es bestimmt ruhiger. Ich meine, die Landstraße scheint nicht sehr befahren, aber es könnte ja doch sein, dass im Morgengrauen ein Laster vorbeidonnert und mich weckt. Es ... es ist zwar nur für eine Nacht, weil ich doch auf der Durchreise bin, aber ich möchte ausgeruht sein, wenn ich morgen weiterfahre. Was ich noch wissen müsste, es ... es gibt doch keine Funkantenne auf dem Dach, nicht wahr? Ich reagiere nämlich auf das Funken mit Kopfschmerzen und Schlafstörungen, deshalb frage ich. Im Haus wohnt kein Amateurfunker, oder?“

Elsa schüttelte unter dem lauernden Blick ein wenig unbehaglich den Kopf. Als hätte die Frau ihr Unbehagen gespürt, drehte sie rasch ihr Gesicht weg und betrachtete den gestickten Großvaterkopf an der Wand. Gobelin, weißhaarig, mit Pfeife und im Goldrahmen. Die nächtliche Arbeit ruheloser Hände und aufgewühlter Nerven. Elsa beobachtete, wie sich die verkrampften Züge der Frau glätteten, als sie ihr Kopfschütteln noch mit einem lauten Nein bekräftigte.

„Wenn Sie Ihr Gepäck holen wollen, bringe ich Sie aufs Zimmer.“ Elsa zögerte, ehe sie sich widerwillig zu einem Angebot aufraffte. „Haben Sie überhaupt schon etwas gegessen? Wenn nicht, könnte ich Ihnen noch eine Kleinigkeit herrichten. Das Frühstück morgen früh ist übrigens im Übernachtungspreis inbegriffen.“

„Nein, nein, lassen Sie nur, ich habe unterwegs in einem Dorfgasthof eine Rast eingelegt und bin noch nicht wieder hungrig“, erwiderte die Frau hastig und stand nun ebenfalls auf. Elsa war ihr dankbar für die Lüge.

„O Gott, Entschuldigung, ich glaube, ich habe mich noch nicht einmal vorgestellt. Mein Name ist Lydia Ver ... Wondraschek.“ Lydia verschränkte die Arme und kniff sich fest in den Oberarm, während sie zu lächeln versuchte. Du blöde Kuh, du dumme Nuss. Häng dir doch gleich ein Schild um den Hals. Hier steht Lydia Vermeeren. Zwei Euro pro Schuss, wer das Herz trifft, kriegt die Prämie.

„Elsa von Redlingen.“ Elsa begnügte sich mit einem kurzen höflichen Auseinanderziehen der Lippen und betrachtete verwundert die Frau mit den verschränkten Armen und zusammengepressten Lippen und Knien. Eine so abwehrende Körperhaltung, als befürchte sie eine Leibesvisitation. „Sie sollten vor dem Schlafengehen ein heißes Bad nehmen, es entspannt die Muskeln. Wir haben auf den Zimmern zwar nur Duschen, aber am Ende des Flurs gibt es noch das alte Etagenbad mit der großen Badewanne. Ich gehe rasch den Boiler einschalten, und wenn Sie mögen, bringe ich Ihnen nach dem Bad auch gern ein Glas heiße Milch mit Honig aufs Zimmer. Sie werden danach wunderbar schlafen können.“

Lügnerin, dachte sie voll Hohn. Jede zweite Nacht sitzt du trotz deiner Honigmilch am Fenster und starrst schlaflos in die Nacht.

Die Frau musterte sie so misstrauisch, als dächte sie eben dasselbe.

Die bläulichen Schatten der Schlaflosigkeit und die tiefe Sorgenfalte auf der Nasenwurzel ließen sich wohl nicht übersehen. Wenn Felix nicht wäre, hätte sie vielleicht schon einen Stuhl unter ihren Füßen weggetreten. Manchmal, in den tiefen Tälern ihrer wiederkehrenden Depressionen, bedauerte sie, es nicht trotzdem getan zu haben.

„Nein, das ist lieb von Ihnen, aber danke, ich ... ich vertrage keine Milch, jedenfalls keine heiße. Ich werde einfach nur duschen und dann ins Bett gehen, aber da ist noch etwas, was ich Ihnen sagen wollte. Wegen meines Heulens eben, großer Gott, so etwas ist mir seit Jahren nicht widerfahren, und ich sollte es wohl besser erklären. Also, mir ist im Wald kein wilder Mann begegnet.“ Sie lachte nervös auf. „Nur ein Reh, wissen Sie, ich fuhr gerade um eine Kurve, als dieses Reh mitten auf der Straße stand. Es stand einfach nur da und starrte mit großen Augen in die Scheinwerfer, und ... und ...“ Sie wusste nicht mehr weiter und brach mit einer hilflosen Handbewegung ab.

„Haben Sie es angefahren?“, fragte Elsa von Redlingen rasch. Wenn der Straßenbelag blutig war, würden früher oder später Jäger den Wald nach verletztem Wild durchkämmen und vielleicht auf Victor und seinen Kumpel stoßen, falls die Beiden dort draußen noch irgendwo herumliefen. Der Wald rings um die Pension gehörte zu einem entfernten Gut, und der Gutsherr tanzte nur ein - oder zweimal pro Jahr mit einer großen Jagdgesellschaft an, um von den wenigen Anständen aus den Wildbestand zu dezimieren. Nur das allernötigste an Rotwild, Wildschweinen, Hasen und Füchsen. Der Forst wurde auch nur stellenweise mit Holzeinschlag bewirtschaftet, große Teile wuchsen sich, seit einem Vierteljahrhundert mehr oder minder den Launen der Natur überlassen, zu einem malerischen Urwald aus. Der Berg mit den Wettersteinen, einem altgermanischen Kultplatz mit großen bearbeiteten Findlingssteinen in unterschiedlicher Anordnung, war bereits als Naturschutzgebiet ausgewiesen.

Obgleich die Jagdgesellschaft nur wenige Tage und Nächte im Jahr den Wald durchstreifte, war sie jedesmal einem Nervenzusammenbruch nahe. Selbst als ihr Verstand Victor und seinen Kumpel nach dem Überfall in sicherer Entfernung von der Pension wähnte, fürchtete sie sich vor dem Augenblick, wo man ihr die Beiden erschossen ins Haus trug. Oder schlimmer noch, erschlagene Jäger, deren Weg sie zufällig gekreuzt hatten.

Was, wenn Victors Auftauchen zum Geburtstag seines Sohnes doch nicht nur eine Stippvisite gewesen war? Kein Hallo, ich wollte nur mal eben ... sondern ein Hallo, da bin ich wieder?

„Haben Sie das Reh angefahren?“, fragte sie noch einmal, ohne die Ungeduld in ihrer Stimme mäßigen zu können.

„Nein, dem Himmel sei Dank nicht, aber mein Wagen schlingerte nur um Haaresbreite an dem Tier vorbei. Einen Moment lang dachte ich, gleich krachst du gegen den Baum, Lydia, aber wie durch ein Wunder kam ich zum Stehen, und nichts war passiert.“ Lydia rang mühsam nach Luft und lauerte unter gesenkten Wimpern hervor auf die Reaktion der Frau mit dem adligen Namen und dem dunklen Haar. Sie trug es geflochten und am Hinterkopf hochgesteckt, und hier und da stahl sich schon ein weißes Fädchen dazwischen. Schluckte sie die Geschichte? Wie alt mochte sie überhaupt sein? Fünfunddreißig? Oder Vierzig? Auf jeden Fall eine vom Leben desillusionierte Frau. Die Mundwinkel verbittert nach unten gezogen, eine steile Falte auf der Stirn und die Schatten derselben Schlaflosigkeit unter den Augen, die auch sie selbst mit Puder und Cremes zu verdecken suchte wie Kainsmale ihrer Schuld.

Elsa nickte erleichtert. Kein verletztes Reh, keine Vergewaltigung und offenbar auch keine dem Irrenhaus entsprungene Verrückte. Nur ein nachträglicher Schock, der sich ein wenig heftig für den Anlass gelöst hatte. Die heiße Milch würde wohl doch helfen, aber wenn die Frau nicht wollte, dann auch gut. Es war kurz vor zehn, sie spürte die Nässe des Sommers in den Knochen, und der Schmerz aus ihrer kaputten Bandscheibe zog die ganze Wirbelsäule hoch. Wenigstens hinlegen und ausstrecken können, auch wenn der Schlaf meist erst weit nach Mitternacht kam.

Hatte Felix nun das Esszimmer gefegt und den Müll auf dem Kompost gebracht? Wenn ja, dann erfreulich leise. Normalerweise ließ sie ihn nur herumfuhrwerken, wenn die Gäste außer Haus waren. Bei seinem Geklapper, Geschepper und Gerumse konnte sich niemand entspannen. Schon gar nicht schlafen. Während die Frau durch den Flur auf die Haustür zuging, und die Dielen unter ihren Füßen knarrten, warf sie einen prüfenden Blick ins Esszimmer. Sie schüttelte in müder Ergebung den Kopf. Er hatte gefegt, o ja, aber wie immer nur außen um Tisch und Stühle herum, während die Krümel unter der Tischplatte interessante Muster aufs Parkett malten. Diese verdammte Gedankenlosigkeit. Er leerte den Müll aus, ohne hinterher den Eimer auszuwaschen. Er putzte das Mountainbike und vergaß die dreckigen Lappen mitten auf der Veranda. Ab und an ließ sie ihn sogar die Gästezimmer saugen, aber wenn sie später nachfragte, warum der große Fussel noch immer vor dem Bett von Soundso lag, gab er wahrheitsgemäß zur Auskunft, der Staubsauger habe ihn nicht aufsaugen wollen, eben weil er so groß war. Sich zu bücken, fiel ihm nicht ein.

Über ihrem Kopf hörte sie Johannes Lindströms schwere Schritte auf dem Holzboden, und einen Moment lang horchte sie ganz neidisch. Seine Freundin Alice würde bereits im Bett liegen und ihm lächelnd beim Ausziehen zusehen und dann ... Die reinsten Kinder noch. Albern, ohne Verantwortung und offensichtlich auf der Sonnenseite des Lebens geboren. Erst jetzt fiel ihr die Doppelbödigkeit der Worte auf dich wartet noch Arbeit auf, und ihre Naivität schockte sie.

Schmarotzer, dachte sie in plötzlicher Wut und blickte mit unwillkürlich geballten Fäusten Lydia - wie hieß sie noch gleich? - Lydia Wondraschek durch eines der hohen Bogenfenster im Aufenthaltsraum nach, wie sie sich mit der großen Stablampe um die Pfützen herumleuchtete, ihr Gepäck aus dem Fiat zu holen.

Die ganze Hysterie nur wegen eines Rehes auf der Straße! Diese Art belangloser Sorgen hätte sie auch gern mal zur Abwechslung.

Mörderische Wut

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