Читать книгу Mörderische Wut - Charlie Meyer - Страница 7
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ОглавлениеLydia erwachte von dem aufgeregten Gackern einer Henne. Der Morgen sickerte durch das schwarze Geäst der Kiefern vor ihrem Fenster, und unten im Hof hörte sie eine Frauenstimme leise vor sich hinschimpfen. Auf dem Rücken liegend starrte sie an die hölzerne Kastendecke und grübelte mit gerunzelter Stirn. Gestern ... Der Mann im Gericht, die Polizisten an der Ampel, der Holländer, die Antennen der Funkamateure auf den Hausdächern, die Pension. Ihr Nervenzusammenbruch. Sie zog sich die Bettdecke über den Mund und stöhnte laut in die Daunen. Natürlich war er schon längst fällig gewesen, dieser Zusammenbruch, vor allem nach ihrem panischen Davonlaufen aus dem Gerichtssaal, der irrsinnigen Fahrt über die Landstraßen und dem plötzlichen Auftauchen des Jungen im Rückspiegel. Dieses ernste, schmale Gesicht. Simon. Nein, nicht Simon, sondern der Sohn ihrer Wirtin. Wie hieß er eigentlich?
Ihr Kopf schmerzte, ihr Magen rebellierte, und sie griff nach der leeren Flasche Wein auf dem Nachttisch und ließ sie außer Sicht unter das Bett rollen.
Hatte ihr die Mutter des Jungen den Beinahzusammenstoß mit dem Reh tatsächlich abgekauft? Oder hing sie längst am Telefon, um sich bei irgendeinem Dorftrottel, der hier in der Gegend den Sheriff spielte, Rat und Auskunft einzuholen? Glitt sein Finger bereits über die Namen auf der Fahndungsliste? Keine Lydia Wondraschek aber eine Lydia Vermeeren. Wie sieht sie denn aus? Wenn sie bloß nicht so schnell mit ihrem Vornamen herausgeplatzt wäre. Na wenigstens hatte sie nur von Durchreise gesprochen und sich die Möglichkeit offen gehalten, ohne großes Brimborium wieder zu verschwinden, falls sie auch nur den Funken eines Verdachtes in den Zügen der Wirtin las. Am liebsten würde sie allerdings im Bett liegen bleiben, bis Mittags schlafen oder lesen, und dann einfach unten Bescheid geben, sie habe sich entschieden zu bleiben. In dem dunklen Holzregal neben dem Fenster standen ein paar Bücher. Aber so funktionierte es nicht. Sie musste dieser Elsa von Redlingen möglichst bald gegenübertreten und ihr in die Augen blicken.
Das von passte gar nicht zu ihr, die Frau ähnelte eher einer slawischen Bäuerin mit dem breiten Gesicht und dem starken Knochenbau, aber wahrscheinlich trug sie sowieso den Name ihres Ehemannes. Der Junge schien Lydia schlanker und vornehmer ausgesehen zu haben, vielleicht kam er dem Vater nach. Bestimmt verarmter Landadel.
Ob die Frau geschieden war? Oder Witwe? Oder arbeitete ihr Mann in einer Fabrik in der Stadt, während seine Frau die Pension nur als Nebenerwerb betrieb und sich nichts weiter als ein Nadelgeld verdiente? Viele Gäste schien es nicht zu geben. Lydia konnte sich vom Vorabend her nur ganz vage an ein junges Pärchen erinnern, das eng umschlungen den Aufenthaltsraum verließ, als sie wieder zu sich kam.
Lass dich auf keinen Fall auf eine längere Unterhaltung mit jemandem ein, dachte sie nervös, Abstand halten und nicht verplappern. Aber steh auf und geh nach unten. Blick ihr in die Augen, und wenn du kein Misstrauen findest, dann denk dir eine kurze plausible Geschichte aus, woher du kommst und wohin du willst. Erzähl ihr vielleicht, du möchtest vor der Weiterfahrt noch einen kleinen Spaziergang machen. Wenn du dann wieder zurück bist, tu begeistert, lob den Wald und die ganze Gegend und dann äußere ganz spontan den Wunsch, deinen Urlaub hier zu verbringen. Zwei Wochen. Oder sogar drei.
Bis Richard aus dem Albtraum erwachte.
Sie döste wieder ein, die Hände auf der Bettdecke gefaltet, und schrak gegen halb neun ein zweites Mal auf. Ein vorwitziger Sonnenstrahl stahl sich durch die schwarze Wand der Kiefern vor ihrem Fenster und malte Kringel auf den blauen Teppichboden. In seinem lang gezogenen Kegel ohne Spitze tanzte dichter Staub. Lydia verzog das Gesicht; mit Richard war sie gewöhnlich im makellosen Luxus von Fünfsternehotels abgestiegen, in denen ein Heer unsichtbarer Zimmermädchen jedem Staubkorn einzeln nachjagte.
„Hier putzt die Wirtin noch selbst“, murmelte sie träge. „Und ein Putzteufel ist die nicht.“
Wahrscheinlich hielt sie der Bengel auf Trab. Bestimmt ein nerviges Kind. Eins von der Sorte, die den Erwachsenen ständig hinterhertraben, auf jedes Wort lauern, ungefragt dazwischenreden und ein so anmaßendes Verhalten an den Tag legen, als wären die großen Leute nur auf der Welt, um von Kindern herumgeschubst zu werden.
Ein Kind wie Simon.
Die Pauke in ihrem Kopf dröhnte nicht mehr so laut, aber der Brechreiz war geblieben. Sie stemmte sich stöhnend auf den Unterarmen in die Höhe und musterte schmaläugig ihre Umgebung. Das Bett hatte eine Kuhle, und die Daunendecke, die ihr am Abend klamm und kalt vorgekommen war, schmiegte sich jetzt so warm und beschützend um ihren Körper, dass sie noch ein paar Sekunden wohlige Geborgenheit herausschinden wollte. Dem Bett gegenüber stand eine altmodische Kommode mit großen Schubladen für allerlei Krimskrams, Unterwäsche und Socken vielleicht, darüber hing ein Spiegel im verschnörkelten Holzrahmen mit abgerundeten Ecken und einem blinden Fleck links unten. Kleiderschrank, Tisch und ein hübscher etwas fadenscheiniger Sessel, blau-weiß gestreift und mit geschwungenen Beinen. Biedermeier? Ein Nachttischchen mit Troddellampe direkt neben ihrem Kopf. Sie langte hinüber und ruckelte an der klemmenden Schublade. Ihre Hand förderte einen fleckigen Heftchen-Western zutage. Sie ließ ihn eiligst wieder fallen und wischte sich mit verzogenem Mund die Finger an der Bettdecke ab. Die Wirtin schien über einiges hinwegzusehen. An der ausgebleichten Tapete neben der Tür ein großes Gobelinstickbild - Hirsch mit übergroßem Geweih auf grüner Wiese. Abgeschmackt. Vor dem Bett ein verschlissener Läufer mit Rosenmuster.
Sie stellte sich Richards angewidertes Gesicht vor, wenn er plötzlich zur Tür hereinspaziert käme. Beim heiligen Nepomuk, konntest du denn keinen Schafstall finden? Er liebte Ausdrücke wie beim heiligen Nepomuk, Jesus und Maria, oder der Klabautermann soll mich holen, und er liebte seidene Bettwäsche und Cocktails vor dem flackernden Kamin.
Richard.
Das Badezimmer war kaum größer als eine Schuhschachtel, aber in gefälligem Gelb gefliest. Hell und freundlich. Ein zweiter mutiger Sonnenstrahl, der sich zwischen Himmel und Pension durch den dichten Wald aus Blättern und Nadeln dort draußen gekämpft hatte, ließ das Gelb an einer Stelle beinahe auflodern. Vom Klo aus reichte Lydia ohne größere Verrenkungen ans Waschbecken heran. Die Duschkabine mit den matten Wänden aus Tropfenplastik weckte klaustrophobische Ängste, erwies sich jedoch geräumiger als befürchtet, solange sie den Radius ihrer Bewegungen einigermaßen vorausberechnete. Nur einmal, als ihr die Seife aus den Fingern glitschte und sie sich unbedacht bückte, stieß sie mit dem Kopf gegen die Kunststofftür, während sich ihre nackten Hinterbacken an die kalten Fliesen pressten. Sie ließ sich Zeit, die dumpfe Betäubung der Nacht loszuwerden unter dem harten, prickelnden Wasser und gurgelte ausgiebig mit einer Mundspülung, um den Pelz von der Zunge zu kriegen. Nach dem Föhnen riss sie das beschlagene Fenster auf und stockte überrascht, als ihr der herbwürzige Duft harziger Nadelbäume entgegenschlug.
Unten klappte die Haustür zu, als sich Lydia mit dem Kajalstift die Lidränder schwärzte, und sie verriss den Strich quer über die Wange und hastete mit klopfendem Herzen zum Fenster. Einen Moment lang starrte sie irritiert auf die Reihe dunkler Kiefern hinter Hühnerstall und Schuppen, dann begriff sie und erblasste vor Wut. Wie hatte sie nur so dämlich sein können, sich ein Zimmer nach hinten raus zu nehmen? Während sie ahnungslos ein paar Hühnern beim Picken zusah, konnte vorn auf dem Parkplatz der erste Polizeiwagen vorfahren. Oder fremde Männer betraten die Pension, als harmlose Gäste getarnt, die sich ganz beiläufig bei der Wirtin nach ihr erkundigten, während sie in der Schankstube einen Kaffee tranken. Wer immer sich Richards Prämie verdienen wollte, sie würde ihn nicht kommen sehen und unvorbereitet sein.
Falls sie blieb, musste sie das Zimmer wechseln.
„Ganz ruhig“, murmelte sie und wühlte mit fahrigen Handbewegungen nach dem Kamm in ihrer Handtasche, den Rücken gegen die Tür gelehnt, als stemme sich der Mörder bereits von außen gegen das Holz. „Ganz ruhig, ganz ruhig, ganz ruhig.“ Da war es wieder, das beunruhigende Holpern ihres Herzens, der Alb auf ihrer Brust, der rebellierende Magen.
Simon, dachte sie und krümmte sich vor Übelkeit. Simon boxt mir wieder in den Magen, so wie damals, als ich ihn an den Schultern packte, einfach zur Seite stieß und an dem brüllenden, wutroten Bengel vorbei zum Haus hinauf ging, in dem sein Vater auf mich wartete. Diesmal kann ich ihm nicht die Tür vor der Nase zuschlagen und von innen verriegeln.
Auf der Treppe presste sie noch immer eine Hand gegen den Magen.
„Haben Sie gut geschlafen?“
Lydia schrak zusammen, als die Wirtin so plötzlich vor ihr stand. Gleich darauf wallte Wut in ihr auf. Was sollte die blöde Frage? Unmöglich, dass die Frau die geisterhafter Blässe nach dieser neuerlichen Panikattacke übersehen konnte. Anfälle, die immer damit endeten, dass sie rücklings auf dem Boden lag, die Knie an die Brust zog und ganz flach nur zu atmen wagte, aus Angst vor dem stechenden Schmerz, wenn sich die Verkrampfung des Herzens plötzlich löste. Nein, natürlich hatte sie nicht gut geschlafen. Zudem setzte der gleichgültige Ton Elsa von Redlingens ohnehin Grenzen und ließ nur ein Ja danke oder ein schweigendes Nicken gelten, keine persönliche Beichte. Und dann der aufdringliche Blick, bevor ihre Pupillen rasch wieder abschweiften, als suchten sie ein lohnenderes Ziel als die rot geränderten Augen eines Gastes.
„Ja, vielen Dank, ganz ausgezeichnet“, stieß sie hervor, die Stimme kratzig vom Rauchen und belegt vom Alkohol. Die Flasche warmen Weins, die sie noch spät in tiefen zügigen Schlucken geleert hatte, um durch Schnelligkeit die Wirkung zu verstärken und so das vergessene Valium zu kompensieren, hatten ihr anfangs nur einen bleiernen Schlaf ohne Erholungswert beschert. Später dann Albträume, aus deren klebrigem Morast sie sich nur mühsam herausarbeiten konnte. Kraft schöpfte sie an diesem Morgen lediglich aus dem Schlaf nach dem Morgengrauen mit der gackernden Henne.
„Kaffee bitte“, beantwortete sie die zweite Frage der Wirtin rasch. „Ich hoffe, ich bin nicht zu spät zum Frühstück, gestern Abend wollte ich noch nach der Zeit fragen, aber dann habe ich es doch wieder vergessen.“
„Nein, nein, alles in Ordnung, unsere Feriengäste frühstücken zwar meist zwischen halb acht und neun, aber für Durchreisende mache ich natürlich Ausnahmen. Manche brechen schon in aller Herrgottsfrühe auf, andere, wie der Vertreter letzte Woche, schlafen an ihren freien Tagen oder nach einer langen Anreise bis in die Puppen.“ Unsere Feriengäste, dachte Elsa von Redlingen bitter. Klingt, als könnten wir uns vor Zulauf kaum retten bei diesem Nichts ringsherum. „Ich fürchte nur, ich kann Ihnen kein Frühstücksei anbieten, die beiden Legehennen streiken heute Morgen leider. Der Marder war gestern im Stall.“
„Be … bevor ich weiterfahre, würde ich gern noch einen kleinen Spaziergang machen“, begann Lydia irritiert, ohne den Zusammenhang zwischen Marder und Frühstücksei begriffen zu haben, und kniff vor Anspannung die Augen zusammen . „Einen Waldspaziergang, meine ich. Mein Urlaub hat gestern begonnen, und eigentlich wollte ich ihn zu Hause auf Balkonien verbringen, aber dann habe ich mich doch ganz spontan entschlossen wegzufahren. Sozusagen ins Blaue hinein. Na ja, nicht ganz, ich dachte, vielleicht hoch an die Ostsee. Bei dem verregneten Sommer kriege ich eventuell sogar noch ein Zimmer in einem der Darßdörfer oder auf Hiddensee. Mal sehen, ich weiß noch nicht so ganz genau, wohin es mich verschlägt. Aber wohin auch immer, ich möchte schon die Anfahrt genießen und mich nicht vom Verkehr hetzen lassen. Schließlich habe ich drei Wochen Zeit. Ich meine ... was ich damit sagen will, stört es Sie, wenn ich das Zimmer erst gegen Mittag räume? Wenn ja, dann packe ich die Reisetasche einfach wieder ins Auto.“
Elsa schüttelte lächelnd den Kopf und suchte nach Worten.
Dieser seltsam lauernde Blick, dachte sie gleichzeitig unangenehm berührt, irgendetwas stimmt mit der Frau nicht. Und Waldspaziergang. Natürlich war der Wald mit den Wettersteinen und dem Hexenhain die einzige Attraktion rings um die Pension, hielt sie genau genommen sogar am Leben. Auf der anderen Seite fühlten sich die meisten Pensionsgäste sogar regelrecht verpflichtet, sich zu einem Waldspaziergang durchzuringen. Geradeso, als gebe es nirgendwo sonst auf der Welt Wälder. Die Urlaubsstimmung gaukelte ihnen eine besondere Idylle vor im Moorsbacher Forst, und Elsa verdiente neben den Einnahmen der Schankstube noch einiges am Verkauf von Ansichtskarten, Wanderkarten und einer Broschüre, in der die Geschichte der Wettersteine beschrieben wurde. Es war nur so, dass sie seit dem Überfall lieber ein Warnschild aufgestellt hätte: Achtung, Raubmörder kreuzen eventuell Ihren Weg.
Vor allem seit dem Auftauchen des Mountainbikes. Trotz ihrer energischen Versuche, sich nur ein kurzes Hereinschauen von Victor einzureden. Manchmal bröckelte eben ihre Verdrängung, und bodenlose Abgründe taten sich auf. Was, wenn er sich schon seit Wochen wieder in der Nähe herumtrieb?
Noch immer blickte die Frau sie lauernd an, und Elsa rang sich seufzend zu einer Antwort durch.
„Nein, nein, kein Problem. Sie brauchen das Zimmer erst zu räumen, wenn sie tatsächlich abfahren wollen. Es ist nicht vorgebucht, und falls weitere Übernachtungsgäste anreisen sollten, stehen ihnen noch drei freie Zimmer zur Verfügung. Also machen Sie sich keine Gedanken. Brauchen Sie eine Wanderkarte? Nein? Na ja, es gibt genug Wegweiser, Sie werden sich schon nicht verlaufen. Aber vielleicht möchten Sie mittags noch einen Happen essen, bevor sie sich wieder auf die Socken machen? Meine Feriengäste essen in der Regel abends warm, weil sie sich sowieso den ganzen Tag im Wald herumtreiben. Auf Wunsch gebe ich ihnen Lunchpakete mit, aber wenn Sie möchten, kann ich Ihnen Rühreier auf Toast oder ein Pilzomelett anbieten. Oder eine andere Kleinigkeit von der Karte aus der Schankstube. Falls sich das Wetter hält, könnten Sie vorn auf der Veranda essen. Unsere Gäste schwärmen immer von der würzigen Luft.“
Luftkurort Mörderpension, dachte sie verächtlich. Prima Reklame.
„Das ist nicht nötig, danke für das Angebot, aber wahrscheinlich werde ich auch gar nicht bis mittags unterwegs sein ...“ Lydia stoppte mitten im Satz, drauf und dran sich selbst auszutricksen. Sie war keine durchreisende Touristin, die gleich nach einem Waldspaziergang ihre Reise an die Ostsee fortsetzen wollte und sich erlauben konnte über Mittag in irgendeinem popeligen Gasthaus einzukehren. In einem Dorfgasthof, wo vielleicht Lkw-Fahrer ihre Pause am Tresen verbrachten und die neusten Nachrichten aus dem CB-Funk bequatschen. Wie sah die Frau noch mal aus? Drei kleine sternförmige Muttermale auf Wange und Schläfe? Sie war Lydia Vermeeren, von Richard und der Polizei gleichermaßen gejagt, aber auch, wenn sich ihr bei dem Gedanken an Pilzomelett oder Rühreier auf Toast schon jetzt der Magen umdrehte, musste sie später etwas essen, um nicht zusammenzuklappen.
Sie spürte, wie sich ihre Wangen färbten, und brachte nur mit Anstrengung ein verzerrtes Lächeln zustande. „Wissen Sie was, ich hab’s mir anders überlegt“, sagte sie hastig und mit belegter Stimme. „Wenn es Ihnen nichts ausmacht, würde ich doch sehr gern eine Kleinigkeit zu mir nehmen, bevor ich weiterfahre. Dann muss ich nicht gleich schon wieder beim nächsten Gasthof die Fahrt unterbrechen.“
„Natürlich, gern.“ Elsa von Redlingen klopfte geschäftig ein Stuhlkissen auf, in Gedanken bereits die Arbeiten auf der Tagesliste durchgehend, und wandte sich denn mit halbem Lächeln ab. „Sollten Sie noch etwas brauchen oder eine Frage haben, Sie finden mich in der Küche.“
„Ja, danke - und ... und, na ja, das Theater gestern Abend, es tut mir sehr leid. Sie müssen mich für eine hysterische Zicke halten, wegen eines dummen Rehs so die Nerven zu verlieren.“
„Schon gut“.
Nichts weiter? fragte sich Lydia verblüfft. Nur ein Schon gut, die Tür klappt hinter ihr zu, und der Nervenzusammenbruch ist vergessen? Eine Frau mit ungewöhnlichen Reaktionen. Sie spielte lustlos mit dem Brötchen auf ihrem Teller, bevor sie beschloss, wenigstens die obere Hälfte mit dem Mohn zu essen. In den letzten Monaten hatte sie über zehn Kilo abgenommen. Ihr Gesicht war hager geworden und die Wangen eingefallen. Ihr Haar hing formlos und ohne Glanz bis auf die Schultern und blieb büschelweise in der Bürste hängen. Die sanfte Bräunung ihrer Haut, auf die sie früher, in diesem anderen vergangenen Leben, so viel Wert gelegt hatte, war einer ungesunden Blässe gewichen, die sie, so gut es eben ging, mit Make-up kaschierte. Seit Simons Unfall ging sie nicht mehr ins Sonnenstudio, wagte sich überhaupt kaum noch aus dem Haus und ließ sogar die Lebensmittel aus dem Supermarkt liefern. Sie sonnte sich auch nicht mehr im Liegestuhl auf ihrer Terrasse aus Angst vor dem geschäftigen Sirren der Funkantenne auf dem Nachbardach und dem tastenden Toc-Toc-Toc des Blindenstockes. Manchmal tastete sich Richard den Gartenweg hinunter. Dann blieb er am Zaun stehen und starrte zu ihr herüber mit seinen leeren Augenhöhlen hinter der dunklen Brille, während sein Stock wie der Schlegel einer Triangel zwischen den Holzstaketen herumklapperte. Minuten, die sich zu qualvollen Stunden aneinanderreihten, in denen sie sich, unfähig, die Vorhänge vor Richard und seiner Qual zu schließen, in kaum erträglichem Mitleid mit ihm zusammenkrümmte und die Hände verlangend gegen das Glas der Terrassentür presste.
Ich liebe dich mehr als mein Leben. Seine heisere Stimme, das warme Murmeln an ihrer Kehle.
„Ich dich doch auch, Richard“, flüsterte sie, und Tränen schossen ihr in die Augen.
Als die leise Stimme aus der Küche in ihr Bewusstsein drang, erstarrte sie mitten in der Bewegung, die trockene Brötchenhälfte an den geöffneten Lippen, während sie noch von dem ersten Bissen abwehrende Übelkeit auf der Zunge schmeckte. Stirnrunzelnd horchte sie auf. Telefonierte die Frau? Ein Kälteschauer rann ihr über den Rücken. Tatsächlich, Elsa von Redlingen telefonierte. Mit wem? Der Polizei? Ich hab‘ hier so eine Hysterische zu Gast ...
Die fehlende Neugier der Wirtin, ihr Desinteresse an dem woher und wohin, war das alles nur ein hinterhältiges Einlullen gewesen? Ein Wiegen in Sicherheit, um sie nicht kopfscheu zu machen, bevor ein Streifenwagen mit Blaulicht angerast kam, sie wieder einzufangen? Gab diese Elsa von Redlingen eben das Kennzeichen ihres Fiats durch? Beantwortete sie die Nachfragen des Dorfsheriffs? Vermeeren? Nein, sie nennt sich Wondraschek ...Ja, richtig, drei sternförmige Muttermale ...
Das Brötchen noch in der Hand rannte Lydia in Panik zur Anrichte hinüber und presste mit angehaltenem Atem das Ohr an die Läden der Durchreiche.
„ ... ja genau, zwei Kilo Kotelettkasseler, ein Pfund Mett und zwanzig Eier. Nein, das ist nicht nötig, Herr Schmidt, Sie sollen die Sachen nicht Eddie mitgeben, selbst dann nicht, wenn er zufällig bei Ihnen hereinschneit. Ich möchte Herrn Seefeld keinen Umweg auf seiner Wäschetour zumuten. Mein Sohn Felix holt die Bestellung wie immer mit dem Fahrrad ab. Morgen früh. Ja. Ja, natürlich noch vor ein Uhr, ich weiß, Sie haben von eins bis drei Mittagspause. Ja ...“
Das verächtliche Schnaufen in ihrem Rücken ließ Lydia ertappt herumfahren. Das Brötchen fiel ihr aus der Hand auf die abgetretenen Dielen.
Simon! Simon lehnte in der offenen Tür im Rahmen und starrte sie an mit dieser abscheulichen Abschätzigkeit der Kinder im Blick. Komisch, sie hatte ihn kleiner und dicker in Erinnerung, nicht so aufgeschossen und spillerig.
Sie schluckte. Nein! Nein, reiß dich zusammen Lydia. Nicht Simon. Simon ist tot und begraben. Nur der Junge deiner Wirtin, erinnere dich, der unverschämte Bengel, der dich gestern im Rückspiegel so angestarrt hat. Der Junge, der schuld an deinem Zusammenbruch war.
„Hallo, Junge.“ Ihre Stimme bebte. „Ich ... ich wollte deine Mutter nur bitten, mir vielleicht ... vielleicht ... Ich meine, fragen, ob ich noch ein Glas Orangensaft bekommen könnte? Aber dann hörte ich Stimmen hinter der Durchreiche, und da musste ich mich doch erst mal vergewissern, ob ich so ohne weiteres stören konnte, ich meine, ob sie telefoniert oder mit einem anderen Gast spricht, und deshalb ...“ Luftlos keuchend hielt sie inne.
Er stand in der Tür und starrte sie an.
„Da steht doch der Orangensaft“, entgegnete er mürrisch und deutete auf das volle Glas neben ihrem Frühstücksgedeck. „Noch eins kostet extra.“
„Oh, das macht nichts. Ich ... ich brauche morgens viel Flüssigkeit, verstehst du, und ich dachte, ehe deine Mutter vielleicht einkaufen fährt oder ... na ja, irgend etwas tut, was man in Pensionen als Wirtin so tut, frage ich sie besser gleich, ob ich noch ein zweites Glas bekommen kann. Wie heißt du denn?“
„Ich sag Bescheid“, sagte Felix mit unüberhörbarem Misstrauen in der Stimme und klappte nachdrücklich die Küchentür hinter sich zu, ohne ihre Frage zu beantworten.
Lydia ballte die Fäuste.
„Hi“, hörte sie seine helle Jungenstimme nur wenig gedämpft. „Die Heulsuse von gestern will noch’n Orangensaft. Wenn du mich fragst, tickt die nich‘ mehr richtig.“
„Dich fragt aber keiner“, entgegnete seine Mutter scharf. „Wie oft soll ich dir außerdem noch sagen ...“ Der Rest ging im Rattern eines eingeschalteten Mixers unter.
Mit scharf abgegrenzten dunklen Wutflecken auf den Wangen und am ganzen Körper bebend, hastete sie zu ihrem Stuhl zurück und begann das Brötchen systematisch zu zerfetzen.