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ОглавлениеLydia wagte sich nur zaghaft aus der Haustür, presste den Rücken gegen die geweißte Wand und kämpfte mit ihrer Panik. Die rote Ente mit den gestreiften Polstern gehörte dem Studenten, der betagte Opel mit den ausgespachtelten Dellen der Wirtin, sie hatte unauffällig danach gefragt. Während der nächsten fünf Minuten, die sie ganz still stand, die Lage sondierte, um sie herum und in ihrem Inneren, brauste nicht ein Auto auf der schmalen Landstraße an der Pension vorbei. Hier draußen gab es momentan nur ein menschliches Wesen, und das hieß Lydia Vermeeren.
Der schreckliche Bengel hielt sich im Haus auf, sie hatte sein Nörgeln gehört, als sie im Flur den Zimmerschlüssel ans Schlüsselbord hängte.
Obgleich es heiß war, fröstelte sie innerlich und verschränkte die Arme vor der Brust, um das letzte bisschen Wärme in ihrem Körper am Entweichen zu hindern. Sie fürchtete sich davor, die Stufen von der Veranda zum Parkplatz hinunterzugehen und sich der Welt da draußen ohne die Rückendeckung einer schützenden Wand auszusetzen. Waldspaziergang schien ihr plötzlich ein nicht gerechtfertigtes Wagnis.
Jemand der Höhenangst hat, erklimmt keine Gipfel, dachte sie trotzig und tastete mit der Hand wieder nach der Türklinke. Der Flur war leer, der Rückzug in ihr Zimmer frei. Für die Wirtin konnte sie sich eine Ausrede einfallen lassen. Übelkeit, Bauchschmerzen oder Kreislaufschwäche. Mal sehen. Es eilte nicht, sie konnte zwei oder drei Stunden ungestört auf ihrem Zimmer lesen und ...
Aber würde diese Elsa von Redlingen nicht den Schlüssel am Bord vermissen? Sie starrte unschlüssig auf das Holzbrettchen mit den Haken, die Hand schon ausgestreckt.
In der Küche klapperte Geschirr.
„Haben Sie etwas vergessen?“
Lydia knickte in den Knien ein und riss beinahe das Schlüsselbord von der Wand. Ein Dübel lockerte sich, ihr Zimmerschlüssel klirrte zu Boden, und Putz rieselte auf ihn herab. Elsa von Redlingen, eine dunkle Silhouette am Ende des langen Korridors, rührte sich nicht. Sie stand einfach nur da, die Hände in den Kitteltaschen, und blickte mit unergründlichem Ausdruck in ihre Richtung, das Gesicht in tiefem Schatten.
„Tut mir leid, ich wollte Sie nicht erschrecken, aber bei der Abgelegenheit der Pension schaue ich lieber nach, wenn im Korridor die Dielen knarren.“
„In der Küche klappert aber Geschirr“, stieß Lydia atemlos hervor, außerstande, sich die Losgelöstheit des Geschirrklapperns vom untätigen Herumstehen der Wirtin zu erklären. Wie konnte sie im Flur stehen, wenn es in der Küche klapperte?
Elsa von Redlingen schwieg verblüfft und sann der seltsamen Bemerkung nach.
„Sicher, ab und an klappert bei uns in der Küche auch Geschirr“, antwortete sie schließlich gedehnt und schaffte es nicht, einen Anflug von Spott zu unterdrücken. „Felix hilft mir mit dem Abwasch, und je lauter er klappert, desto lustloser ist er bei der Sache. Aber ich will Sie nicht aufhalten, Sie haben sicher etwas im Zimmer vergessen, was sie gerade holen wollten.“ Sie lächelte schmallippig, machte ohne ein weiteres Wort auf den Hacken kehrt, und die Küchentür klickte hinter ihr ins Schloss.
Lydia klaubte ihren Zimmerschlüssel vom Boden auf und hängte ihn unter wütendem Geklirr ans Bord zurück. Sie schnüffelte hinter ihr her, diese aufdringliche Wirtin. Sie kontrollierte jeden ihrer Schritte, und das in aller Öffentlichkeit. Sie haben doch sicherlich nur etwas vergessen ... Eine Unverschämtheit. Was bildete sich die Frau eigentlich ein?
Lydia fühlte sich in die Enge getrieben und zu demütigendem Rückzug gezwungen. Wenn sie nur vernünftiger reagiert, Hallo und Mir ist nicht wohl, ich leg mich zwei Stündchen hin gesagt hätte. In einem selbstsicheren Ton, der keine Zweifel aufkommen ließ. Aber sie hatte wieder einmal versagt.
Was nun? Bleiben oder abreisen?
Bleiben hieß, sich wie jeder x-beliebige, austauschbare Gast zu benehmen. Nach außen hin nichts zu verbergen haben. Sich unter der Tarnkappe der Normalität bewegen. Bleiben hieß Wald. Abreisen bedeutete, ein neuerliches Wagnis einzugehen, erst auf den Straßen und dann später im Hotel oder wo auch immer.
Die helle Stimme des Jungen in der Küche zerrte an ihren Nerven. Simons helle Stimme. Nein, natürlich nicht Simon, Felix, aber er sprach mit Simons Stimme, maulte und meckerte wie er und wurde mit wachsender Empörung immer schriller. Schließlich war es diese unerträgliche Stimme, die sie aus ihrer Erstarrung riss. Sie presste stöhnend die Hände gegen die Ohren, dann stürmte sie plötzlich durch die Haustür ins Freie, polterte die Verandastufen hinunter und rannte über den Parkplatz dem Wald entgegen.
Wegweiser und auf Baumborken gepinselte, längst verblasste Wanderzeichen kennzeichneten den Beginn des Wanderwegenetzes im Moorsbacher Forst. Es gab Wegweiser zu den Wettersteinen, zum Hexenhain, einem Ort namens Kühlingsgrund und sogar nach Flensburg, ein paar hundert Kilometer entfernt. Der Europäische Fernwanderweg zwischen Adria und Nordsee verlief quer durch den Forst. Dann gab es noch Hinweise auf zwei, drei Dorfnamen der Umgebung und eine schiefe Schautafel mit eingeschlagenem Glasschutz und nichts darunter.
Es war kurz nach zehn, trotz der hochsommerlichen Temperaturen noch angenehm frisch im Schatten des Kiefern- und Fichtenwaldes, der nicht bewirtschaftet wirkte. Mit grünem Moossamt überzogenes Totholz streckte seine abgebrochenen Arme in alle Richtungen. Buchen drängten in die Lücken entwurzelter Bäume, aus zusammengebackener Verrottung aufragende stumpfe Kegel zeugten von der Baulust Äonen emsiger Ameisen. Helle Sonnenflecken betupften das nasse dunkle Grün des Moosrandes beidseits des Weges. Es roch nach modriger Nässe und der Würze der Koniferen, nach Pilzen und fauligem Laub. Winzlinge von Pfifferlingen neben den Stümpfen abgeschnittener Pilze kämpften sich durchs Moos.
Lydia dachte an das Pilzomelett, dass sie vielleicht mittags erwarten würde, und Übelkeit schwappte ihr die Kehle hoch. Eine Hand auf dem Magen hastete sie weiter.
Es musste am Vortag geregnet haben. Tropfen perlten auf den ausgefransten bräunlichen und lila Kappen der Pilze oder hingen wie festgeklebt von den Blattspitzen der kleinen Buchenschößlinge. Ab und an schüttelte über ihrem Kopf ein Baum seine Krone, und Lydia stahl sich ein nervöses Auflachen über die Lippen, während sie sich ebenfalls schüttelte. Nach einer Weile verlangsamte sich das hektische Heben und Senken ihrer Brust, ihre Füße wagten sich forscher voran, und das lautlose Schreiten auf weicher Polsterung wiegte sie in Sicherheit. Sie verschmolz mit dem Wald, unhörbar und unsichtbar für ihre Verfolger, ein schützendes Dach aus ineinander verwobenen Kronen über dem Kopf. Immer öfter hob sie den Blick von den nachfedernden Nadeln vor ihren Füßen. Sie verlor die Furcht zu stürzen, sich den Arm, das Bein zu brechen, in ein Krankenhaus eingeliefert und enttarnt zu werden und blinzelte in alle Richtungen gegen die sich durch das Gezweig bohrenden Sonnenstrahlen an. Manchmal begleiteten halbhohe Mauern aus blattreichen Pflanzen den Weg. Große goldgelbe Blütentrichter schaukelten an dünnen, beinahe unsichtbaren Fäden von den Trieben - waagerechte Füllhörner, in gebogenen Spitzen endend, die Blütenkelche mit glitzernden Wasserdiamanten gefüllt.
Endlos lange Armeen von großen roten Waldameisen außer Schritt und Tritt kreuzten auf dem Marsch nach Irgendwo vor ihren Füßen den Weg. Lackschwarze Käfer funkelten im Licht, und einmal hopste ein kleiner verschreckter Frosch ins Unterholz zurück.
Sie blickte in die Kronen der Bäume. Spitzkegelige Kiefern, die unteren Äste schon abgestorben, braun und nadellos, die Spitzen kleine grüne und im Wind schwankende Weihnachtsbäume mit blinkenden Sonnenlichtkerzen. Dann wieder Buchen unterschiedlichen Alters mit glatten grauen Stämmen und einem Blättergewirr in allen möglichen Höhen, bauchig und verzweigt. Es gab noch andere Bäume mit geriffelter Borke und fingerförmigen Blättern, und kaum scheitelhohe Koniferen, deren lange gebündelte Nadeln altmodischen Rasierpinseln glichen. Lydia kannte ihre Namen nicht und fragte sich, ob sie wohl in der Pension ein Buch über die Bäume und Pflanzen des Moorsbacher Forstes erstehen konnte.
Heute Nachmittag, dachte sie entschlossen. Heute Nachmittag schlage ich all diese Bäume und Pflanzen in einem Buch nach. Zaghaft lächelnd hob sie im Schüttelregen einer Baumkrone ihr Gesicht und stand ganz still, die Hände wie gefesselt auf dem Rücken. Sie leckte sich die Tropfen von der Lippen, und sie schmeckten nach Hoffnung.
Aus einer schmalen steilen Klamm zwischen zwei Hügeln querte ein gluckernder Bach den Wanderweg, die eineinhalb Meter seines knietiefen Bettes von einer Holzbrücke ohne Geländer überspannt. Sie setzte sich auf die Bohlen und ließ die nackten Füße von dem eiskalten Wasser umströmen, bis sie sich taub anfühlten, und sie am ganzen Körper zu zittern begann. Plötzlich war die Panik wieder da, das Zittern rief sie ihr ins Gedächtnis zurück. Die ewige Kälte in ihren Knochen, die dicken Decken, die sie in diesem Sommer noch zusätzlich gebraucht hatte, wenn sie sich schlaflos, mit zuckendem Augenlid, im Bett wälzte und auf das Toc-Toc-Toc des Blindenstockes lauschte.
Sie rubbelte sich die Füße mit der Strickjacke, bis sie brannten, doch ihr Körper bebte unkontrolliert, und vergeblich suchte sie die Hoffnung von eben nachzuschmecken. Sie schlüpfte in ihre Schuhe und lief hastig weiter, mit stolpernden Schritten, die Arme wieder abwehrend vor der Brust verschränkt. In einer dichten Kiefernschonung hörte sie es in der Finsternis knacken und begann zu rennen, bis sie die Wärme eines lichten Buchenwaldes mit nur vereinzelten Nadelbäumen umfing. Auf einer sonnendurchfluteten Lichtung hockte sie sich schließlich auf einen umgestürzten Baum, den Rücken zur Sonne und kramte in ihrer Umhängetasche nach den Zigaretten.
Zitronenfalter und Kohlweißlinge umflatterten große, schwefelgelbe Fingerhüte mit nickenden Köpfen. Schwüle Gewächshausluft stieg aus dem hohen nassen Gras auf, und während sie auf dem Baumstamm saß und rauchte, löste sich plötzlich das Rauschen in ihren Ohren, dieses ständige dumpfe Hintergrundrauschen seit dem Unfall, in Vogelstimmen und Laute des Waldes auf. Ein Specht klopfte hektischen Alarm. Aus dem Blättergewirr einer Buchenkrone tönte der melancholische Gesang einer Amsel. Im Gebüsch jenseits der Lichtung schmetterte ein Zaunkönig seine selbst komponierte Arie und aus den Wipfeln rings umher schimpfte, krächzte, tschilpte und zwitscherte es in jeder Tonlage. Mäuse raschelten durchs Unterholz, der Wind rauschte in den Blättern, und mit schiefem Kopf horchte sie auf das leise Plopp eines abfallenden Kiefernzapfens.
Lydia wagte sich nicht zu rühren, und schließlich sog nur noch der Windgeist an der Zigarette zwischen ihren Fingern. Sie fürchtete, mit einer unbedachten Bewegung das Hochgefühl des Augenblicks einfach auszulöschen und in das graue Rauschen zurückzusinken. Die Welt um sie herum war grün und golden und rötlich. Blitzendes blinkendes Sonnenlicht zwischen dunklen Stämmen.
Als sich die Sonne auf ihrer täglichen Runde über den Weg schob, sprang sie auf und trat hastig den Rückweg an. Noch immer sprach die Natur mit ihren vielfältigen Stimmen zu ihr, und das Rauschen der Furcht in ihren Ohren schwieg. Vögel sangen, Blätter raschelten, es knackte im Unterholz und morsche Stämme knarrten und ächzten. Ihr war als spaziere sie durch eine verzauberte Welt voll freundlicher Waldbewohner. Zwerge, Gnome und Elfen.
„Rübezahl!“, rief sie herausfordernd und lachte ein erstes frohes Lachen seit Monaten. „Gleich tritt Rübezahl hinter einem Baum hervor und spielt dir einen Schabernack.“
Es war nicht Rübezahl, es war der Junge, der hinter der Biegung des Weges auf den Brückenbohlen über dem quirligen Bach stand und auf sie wartete. Wie seine Mutter eineinhalb Stunden zuvor vom dunklen Ende des Flurs aus, so blickte nun er ihr reglos entgegen. Er trug verwaschene Jeans, ein kurzärmliges Poloshirt und Sandalen. Vor der Brücke lehnte das Mountainbike an einem Baum. Breitbeinig, die Hände in den Hosentaschen, Brust und Hüfte vorgeschoben, den Rücken im Hohlkreuz, so stand er da, mitten auf der Brücke und starrte ihr unbewegten Gesichtes entgegen. Das Lachen erstarb ihr auf den Lippen, und sie blieb unwillkürlich stehen.
Goldene Lichter spielten in Simons hellbraunen Haaren.
„Felix“, murmelte Lydia schwer atmend. „Felix, nicht Simon.“
Sie hatte beim Frühstück die Wirtin nach dem Jungen gefragt, aber nur die knappe Antwort Felix und dreizehn Jahre bekommen. Ihre Wortkargheit hatte Lydia einen Moment lang glauben lassen, sie wüsste alles, und es widerstrebe ihr, einer Frau, die ein Kind überfahren hatte, von ihrem eigenen Sohn zu erzählen. Lydia atmete tief durch, und ihre Panik schlug in Wut um. In Wut auf diesen kleinen Hebel in ihrem Kopf, der sich ständig von selbst umlegte und die grenzenlose Angst auslöste. Wut auf diesen unhöflichen Bengel, der dort mitten auf der Brücke aus sie lauerte und sie so unverschämt anglotzte. Wie durfte er es wagen? Ein Kind, ein freches Gör, ein sommersprossiger Bengel, von der Sonne ungleichmäßig gebräunt, in den Jeans einen Riss über dem Knie. Dieses Kind, das sich weigerte, ihr Respekt und Höflichkeit entgegenzubringen.
Wer wohl den Hühnern im Hof die Hälse umdrehte? dachte sie plötzlich. Der Junge oder seine Mutter?
„He, du!“, rief sie scharf und beschleunigte ihre Schritte. Sie würde ihm schon die Meinung zu seinem Verhalten sagen, wenn sie erst vor ihm stand. Ihn vielleicht am Arm packen, damit er sich nicht lachend wegdrehen konnte, so wie Simon sich immer lachend über ihre hilflose Wut weggedreht hatte, weil sie es nicht wagte, ihn in Gegenwart seines Vaters anzufassen. Nur dieses eine Mal, als er ihr in der Auffahrt den Weg zu seinem Vater im Haus verstellen wollte, und sie den Jungen einfach an den Schultern packte und grob zur Seite stieß, da hatte nicht er, sondern sie gelacht. Obgleich er ihr in den Magen boxte. Auch der Junge dort auf der Brücke würde nicht wagen zu lachen. Felix, der Sohn ihrer Wirtin. Als zahlender Gast des Hauses konnte sie ein Mindestmaß an Anstand verlangen. Genau das würde sie ihm ruhig aber bestimmt auseinandersetzen und ihn erst gehen lassen, wenn er sich bei ihr für sein nicht zu duldendes Benehmen entschuldigt hatte.
Der Junge starrte ihr noch immer stumm entgegen, aber seine Körperhaltung änderte sich. Die großspurige Herablassung wich angespannter Aufmerksamkeit. Er nahm langsam die Hände aus den Taschen und stand nicht mehr im Hohlkreuz sondern ganz leicht nach vorn gebeugt, den Kopf zwischen hochgezogenen Schultern. Sie lief noch schneller, aber kurz bevor sie die Brücke erreichte, durchfuhr ein Zucken seinen schmalen Körper. Einen Moment lang las sie pure Angst aus seinen Zügen, dann fuhr er auf den Hacken herum, rannte zu seinem Mountainbike und schwang sich in den Sattel. Sie begann ebenfalls zu rennen. Mit wehendem Rock, die Strickjacke von einer Schulter gerutscht, die Umhängetasche unter den Arm geklemmt, spurtete sie die letzten Meter bis zur Brücke, aber da sauste er auch schon davon.
Lydia blieb keuchend auf den schwarzen Holzbohlen stehen und starrte ihm wütend nach, als er mit Karacho die sanfte Steigung des Wanderweges hinaufholperte. Er stand in den Pedalen. Seine Beine bewegten sich wie Kolben, die Knie rauf und runter und rauf und runter. Jedesmal, wenn er ein Bein durchdrückte, schnellte der schmale Rücken vor dem Sattel in spitzem Winkel zur Seite. Zwei- oder dreimal blickte er sich zu ihr um, und dann fuhr er kleine Schlenker. Schließlich tauchte sein goldgesprenkelter Haarschopf hinter der Hügelkuppe ab.
Sie presste die Lippen zusammen und stolperte mit untergeschlagenen Armen vorwärts. Diesem ungehobelten Bengel fehlte nichts weiter als die züchtigende Hand eines Vaters, der ihm Respekt Erwachsenen gegenüber beibrachte. Höflichkeit und Benimm, ein anständiges Betragen vor den Gästen, schließlich betrieb seine Mutter eine Pension, einen Dienstleistungsbetrieb, dessen Florieren doch von einem zuvorkommenden Verhalten den Gästen gegenüber abhing. Simon war frech zu ihr gewesen, weil ihn die Affenliebe seines Vaters schützte und er es sich erlauben konnte, aber der Junge der Wirtin ...? Ahnte die von Redlingen überhaupt, dass sich ihr Sohn mutterseelenallein im Wald herumtrieb? Oder hatte sie ihn ihr etwa auf die Fersen gehetzt, sie zu bespitzeln? Du hast recht, mein Junge, die tickt nicht mehr richtig, fahr ihr hinterher und pass auf, an welcher Stelle im Wald sie die Leiche vergräbt.
„Unsinn, hör mit deiner Paranoia auf!“ Lydia schlug sich hart mit den Fingerknöcheln gegen die Schläfe, wieder und wieder, bis ihr das Wasser in die Augen schoss. Tränenblind verfing sie sich mit dem Fuß unter einer Wurzelschlinge und knallte mit dem Knie auf einen Stein. Eine Weile verharrte sie in der Hocke und wartete mit zusammengepressten Zähen auf das Nachlassen des Schmerzes. In ihren Ohren begann es wieder zu rauschen.
Als sie endlich aus dem Wald stolperte, schlug es von einem entfernten Kirchturm ein Uhr. Die Sonne glühte ihr beim Überqueren des Parkplatzes auf den Kopf, und sie lief eilig und im Zickzack um die Pfützen herum. Einmal, als sie aufblickte, sah sie Elsa von Redlingen hinter einer Fenstergardine im Esszimmer ertappt zurückschrecken. Ihr Gesicht verschwand, dafür tauchten zwei armlose Hände unter dem Tüll auf und rückten die Blumentöpfe wieder gerade. Lydias Haut begann zu kribbeln, ihre Nerven vibrierten. Die Wirtin spionierte ihr hinterher, misstraute ihr, und wieder brodelten die Zweifel hitzig in ihrem Kopf auf. Abreisen oder Bleiben? Bleiben oder Abreisen?
In ihrer Nervosität plapperte sie dann einfach drauf los, als sie die Wirtin zwischen Esstisch und Durchreiche abfing. Obgleich ihr die Worte lobender Begeisterung für die Natur nur so über die Lippen flossen, schien es ihr mittendrein peinlich berührt, als lobe sie jeden Baum und jeden Vogel einzeln. Später geriet sie endgültig ins Trudeln, als sie vom einigermaßen festen Boden halber Wahrheiten aufs Glatteis der Lügen schlidderte und haltlos vorwärts rutschte.
„Ein Streit. Eine abscheuliche Auseinandersetzung.“ Ihre Finger drehten fahrig am Ehering, ihre Pupillen zuckten über die Wirtin hinweg in die Ecken des Raumes, schnellten die Tapete hoch, jagten über Tisch und Stühle und fanden keinen Halt. „Wir lassen uns scheiden, wissen Sie, aber gestern, da kam er noch einmal ins Haus, weil es noch so viel zu besprechen gab. Und dann dieser grässliche Streit ...“
Und plötzlich konnte sie ihr Geplapper nicht mehr abstellen, fühlte sich außerstande, ihre Erklärungen schlüssig zu beenden. Sie wusste nicht mehr, ob sie am Morgen von einem Urlaub an der Ostsee oder an der Nordsee gesprochen hatte, und verfranzte sich in immer neuen Lügen über das wütende Gezanke, das Gezerre um Unterhalt und Fernseher und ihren plötzlichen Entschluss, einfach ihre Reisetasche zu packen, um all dem zu entgehen. Während ihre Stimme vor Anspannung zu schrillen begann, stürzte der Redestrom wie ein Wasserfall zu Tal, bis ihr ausgetrockneter Mund anfing, die Silben zu verwischen.
Endlich verhaspelte sie sich und keuchte bedrängt unter der Flut ihrer sinnlosen Worte.
Elsa stand stumm und unbeteiligt vor ihr mit der Schüssel dampfender Knödel in der einen und einem pilzüberhäuften Jägerschnitzel in Rotweinsoße auf einem Teller in der anderen Hand. Mit so teilnahmsloser Geduld wartete sie das Ende des Redeschwalls ab, dass Lydia es nicht wagte, sie anzusehen und auf den Gobelingroßvater an der Wand starrte, um ihre unsteten Pupillen auf einen Punkt zu zwingen. Sie brach mitten im Satz ab, presste die Lippen aufeinander, und Trotz legte sich über ihre Züge, bevor sie den Wunsch nach einem Zimmer für zwei oder drei Wochen am Ohr der Wirtin vorbeimurmelte. Ein bockiges Kind, das sich seiner Ausflüchte bewusst ist und scheltende Ablehnung erwartet.
„Natürlich, gern.“ Elsa stellte Schüssel und Teller an der Schmalseite des langen Tisches ab, ohne Lydias wirre Geschichte mit mehr als einem abschließenden Nicken zu kommentieren. „Möchten Sie Ihr jetziges Zimmer behalten oder doch lieber das hellere nach vorn heraus beziehen. Es ist insgesamt freundlicher, und Sie könnten sich abends auf den Balkon setzen, wenn die Stechmücken Sie nicht allzu arg plagen.“
Grenzenlose Erleichterung strömte Lydia durch die Adern. Aber ja, ja, prima, sie wolle mit Vergnügen umziehen, erwiderte sie mit einem Eifer, der übertrieben in ihren Ohren widerhallte und viel zu lange im Raum hängen blieb. Natürlich wolle sie umziehen, heller und ein Balkon, genau so ein Zimmer habe sie sich vorgestellt, und ja, ja, ein Jägerschnitzel mit Knödel sei absolut Spitze, genau das Richtige, viel besser als ein Pilzomelett, aber die viele Mühe ...
„Schon gut.“
Als sie mit brennenden Wangen vor ihrem Teller am Tisch saß, schlurfte der Junge durchs Esszimmer in die Küche. Wortlos und mit abgewandtem Gesicht, Arm und Ellenbogen aufgeschrammt, einen Riss im Hemd, eine blutverschmierte Scharte an der Stirn. Er gab sich Mühe, sein Humpeln zu verbergen. Er musste mit dem Mountainbike gestürzt sein, und nach einem langen prüfenden Blick zerteilte Lydia Vermeeren einen Knödel mit ihrer Gabel und lächelte.