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Der Bericht der Spurensicherung und der Autopsiebericht aus der Pathologie landeten beinahe gleichzeitig in meinem Postfach. Weiterleitung von Maik Willem. Geprüft und genehmigt. Ich las beide und wünschte, ich hätte es nicht getan. Um wieder runterzukommen, drehte ich eine schnelle Runde mit dem Mountainbike an der Weser entlang und reflektierte die Infos.

Aufgrund des Insektenbefalls der Leichen ging die Spurensicherung davon aus, dass die Morde am Mittwoch geschehen waren. Der Täter hatte mit einem scharfen Messer – möglicherweise einem Teppichschneidemesser – das Zelt von außen aufgeschlitzt, durchgefasst und den schlafenden Mann bewusstlos geschlagen. Das Mädchen war offenbar gerade austreten gewesen und hatte hinter einem Baum hervor beobachtet, wie der Mörder ihren Freund aus dem Zelt in die Mitte der Lichtung schleifte, lange Zeltheringe in den Boden trieb und ihn daran fesselte.

Dann hatte er sie gesucht und gefunden und neben seinem ersten Opfer festgebunden. Er hatte sie in Ost-West-Richtung platziert, den Kopf nach Westen, die Füße nach Osten. Zufall oder religiöser Brauch? Sie hatte offenbar keinen Fluchtversuch unternommen. Den Spuren nach hockte sie die ganze Zeit hinter einer dicken Buche. Hier hatte sie sich erleichtert, und hier hatte sich der Mörder von hinten an sie herangeschlichen.

Warum war sie nicht weggelaufen?

Sie war nackt gewesen und in Flipflops unterwegs. Nacktheit und das Gefühl höherer Verletzlichkeit gehen Hand in Hand. Also blieb sie einfach hinter diesem Baum hocken, in der Hoffnung, dem Mörder weismachen zu können, sie sei geflohen.

Oder weil eine namenlose Angst sie förmlich paralysierte.

War der Mörder so kaltblütig gewesen, ihren Freund vor ihren Augen zu quälen und zu töten, bevor er sie einfing? Weil er die Chancenlosigkeit ihrer Flucht erkannt hatte? Frühmorgens auf einer Lichtung an einem See. Jeder laute Atemzug, jedes Knacken eines Zweiges beim Versuch, sich in den Wald zu schleichen, hätte er so deutlich hören müssen, als wenn sie ihm Hier bin ich, fang mich doch zugerufen hätte.

Er wollte, dass sie zusah.

War das womöglich erst der Kick, den er brauchte? Nicht das Morden an sich, sondern sie zusehen zu lassen, wie er ihren Liebhaber entmannte und ihm anschließend die Kehle durchschnitt? Oder hatte er möglicherweise gehofft, sie würde weglaufen, damit er sie jagen und zur Strecke bringen konnte wie ein flüchtendes Reh?

In den achtziger Jahren hatten ein Ex-Marine und ein Vietnamveteran in den USA Frauen in einer Höhle gefoltert, vergewaltigt und ermordet. Bei einigen von ihnen gönnten sie sich das zweifelhafte Vergnügen, sie freizulassen, um sie mit Nachtfernrohr und Präzisionswaffe durch den Wald zu jagen und erst Stunden später abzuknallen.

Doch Menschen in Todesgefahr reagieren unterschiedlich. Weglaufen, die Augen schließen und hoffen, sich der Gefahr stellen oder selbst angreifen, sind in der Regel die Optionen, die intuitiv auch halbwegs intelligenten Mördern bewusst sind.

Psychopathen mit überdurchschnittlichem IQ spielen nicht selten mit ihren Opfern, in dem sie ihnen mehr als eine Option offen lassen und so den eigenen Kick erhöhen. Möglicherweise hatte er sich in Rosannas Fall ein sadistisches Vorspiel geleistet, in dem er sie zusehen ließ, wie Buran qualvoll starb.

Möglicherweise.

Frustriert kippte ich den Stuhl bis zur Wand zurück und starrte an die Decke. Ich war weder Psychologe noch Psychiater noch ein ausgebuffter Profiler, der nach zwei Stunden seinen Bericht fertig hatte: männlich, weiß, Mitte dreißig, dominierende Mutter, quälte Tiere in seiner Jugend, lebt in maximaler Entfernung von dreihundert Metern vom Tatort. Worauf einer der Kripobeamten eine Landkarte ausbreitet, auf eine ehemalige Waldarbeiterhütte mitten im ausgedehnten Grün des Reinhardswaldes deutet und brüllt Schnappt euch das Schwein.

Und als krönender Abschluss dieser Verbrecherjagd im Akkord tritt mir die Taskforce morgens um drei die Tür ein.

Ich hingegen bin ein Profi im Navigieren eines Schiffes mit ausgefallenem Bugstrahler, mache fundierte und witzige Borddurchsagen bei den Rundfahrten und brauche kein Lexikon mehr, um die Anleitung für Ego-Shooter oder Strategiespiele ins Deutsche zu übersetzen. Auf diesen Gebieten bin ich gut und weiß, was ich tue. Beim Profiling hingegen arbeite ich mich durch einen zähen Sumpf, ohne Hoffnung auf festen Boden.

Mein Problem war nur, nicht aufhören zu können, ohne Lucy in den Knast zu bringen.

Ich brauchte zumindest jemanden, der meine Schlussfolgerungen kritisch reflektierte.

Ich rief Lucy an.

»Hey Süße, wo treibst du dich gerade rum?«

»Willst du raten?«

Sie hielt offenbar ihr Handy in den Raum, und das unerträgliche Geräusch eines in höchsten Tönen sirrenden Bohrers drang an mein Ohr. Unten links begann es in meinen Zähnen zu ziehen.

»Mein Mitgefühl sei bei dir, aber sollten wir dann nicht lieber nach der Folter zusammen telefonieren?«

Ich kämpfte mit der Vorstellung, wie der Zahnarzt drohend mit dem Bohrer vor ihren Lippen herumfuchtelte, während sie in aller Ruhe telefonierte.

»Ach Gottchen, nein, meine Beißer sind alle in Ordnung. Ruprecht hat ein kleines Problem mit Zahnärzten und Wurzelbehandlungen. Ich halte nur Händchen.«

Im Hintergrund hörte ich einen Mann langgezogen stöhnen. Lucy nahm einen Moment lang das Handy vom Ohr und säuselte etwas, von dem ich nur noch die letzten Worte verstand: »… das sind aber auch fürchterlich lange und dicke Nadeln, mein armer Schatz.« Sie schien ihm ein Küsschen auf die Wange zu hauchen. »Mein tapferer kleiner Liebling.«

Dann sprach sie wieder mit mir.

»So. Wolltest du etwas Besonderes?«

»Dich sehen. Mit dir reden. Mir auch ein Küsschen abholen.«

»Heute Abend 19 Uhr?«

»Geht nicht. Heute bin ich schon mit einer hinreißenden Pathologin verabredet, die sich hoffentlich nicht nur für das Gewicht meiner Organe interessiert.«

Erstaunlicherweise hält unsere Freundschaft die Affären des jeweils anderen mühelos aus.

»Dann morgen. Ich kaufe frischen Tintenfisch.«

Eine weitere von Lucys herausragenden Fähigkeiten ist es, exotische Dinge so zuzubereiten, dass sie tatsächlich auch exotisch schmecken.

Im Hintergrund heulte Ruprecht auf und Lucy drückte das Gespräch weg. Hatte sie nicht gesagt, es sei aus zwischen ihr und diesem Weihnachtsmann?

Killertime

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