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Zehn Minuten später übernahm ich die Meerjungfrau am Anleger von dem Schiffsführer, der nachmittags die Rundfahrten gefahren hatte. Wir sind drei, alle in Teilzeit, und Lucas war mit zweiundsiebzig Jahren der Dienstälteste und Unduldsamste von uns. Er presste die Lippen zusammen, weil er an Bord hatte ausharren müssen, um gegebenenfalls für mich einzuspringen, sollte ich verschollen bleiben. Meine Entschuldigung hörte er sich nicht bis zum Ende an, sondern knallte wortlos die Schiffsschlüssel auf den Tisch und verschwand.

Meine eigene Besatzung begrüßte mich kaum weniger unfreundlich. Bei der Vorbereitung von Charterfahrten muss auch der Kapitän mit Hand anlegen, wenn es gilt, Tische und Stühle hin- und herzutragen, um eine Tanzfläche oder Platz fürs Buffet zu schaffen. Lucas jedoch ist noch ein Nautiker der alten Schule und lehnt alle niederen Arbeiten ab. Wenn einer aber ausfällt, müssen die anderen doppelt ran.

Nirgendwo ist die soziale Kontrolle größer als an Arbeitsplätzen, wo man räumlich so nah aufeinanderhockt wie auf einem Schiff. Sich mit dem Rest der Mannschaft zu verkrachen, bedeutet in der Regel, sich ein neues Schiff suchen zu müssen.

Seit ich den Polizeidienst quittiert hatte, arbeitet ich in der Saison im Mai, Juli und September an vier bis fünf Tagen die Woche für die kleine Reederei Sonnemann vor Ort. Wenn mich die Langeweile packt, nehme ich in den Monaten dazwischen Springerjobs auf Schiffen in ganz Deutschland oder sogar in den Nachbarländern an.

Da ich mit fünfzehn als Decksmann auf einem Binnenschiff angeheuert hatte und zehn Jahre lang erst als Matrose, dann als Steuermann und schließlich als Schiffsführer auf Schüttguttransportern und das letzte Jahr auf einem Tanker gefahren war, kenne ich fahrtechnisch die meisten Flüsse und Kanäle wie meine Westentasche und besitze die nötigen Streckenpatente. An das, was bei Sonnemann dazukam, die Fahrgäste, gewöhnte ich mich rasch.

Wir fahren einen Großteil der Reisegruppen, die zur Sababurg hoch wollen, und die Reederei kann sich damit gut über Wasser halten.

Eigentlich habe ich zwei Jobs, die sich perfekt miteinander verbinden lassen. Ich jobbe als Schiffsführer für die Reederei und übersetze als Freelancer Anleitungen von Computerspielen aus dem Englischen ins Deutsche. Das bringt mir genug Geld ein, um über die Runden zu kommen, zumal ich mietfrei in einer Waldarbeiterhütte mit Außenklo am Rande des Reinhardswaldes wohne.

Gehört hatte sie mal einem hiesigen Adeligen, dem auch der Buchenmischwald gehört, der sie umgab. Ich hatte ihm die Hütte beim Pokern abgenommen, und da er seinen Verlust nicht eben gentlemanlike hingenommen hatte, lebe ich seitdem in latenter Furcht, eines Morgens durch das Geräusch eines Bulldozers aufzuwachen, der sich den Forstweg hocharbeitet, um meine Hütte, mein Mountainbike und mich platt zu machen.

Wie gewohnt zog ich mich in unserer Rumpelkammer zwischen Paketen von Tischwäsche und blauen Müllsäcken voll schmutziger Handtücher, Geschirrtücher und Stoffservietten um. Schwarze Hose, weißes Pilotenhemd, Schulterklappen mit vier goldenen Streifen und einem Stern.

Dann versammelte ich die Mannschaft vorn im Salon an einem der Stehtische, die sie mit Hussen hergerichtet hatten. Bis zum Zustieg der Chartergäste war es noch eine halbe Stunde, trotzdem murrten alle über meinen Befehl. Die Servicekräfte murrten, weil sie den Sektempfang noch vorbereiten mussten, mein Matrose, weil die Schmutzwasserpumpe offenbar Sperenzien machte.

Der Decksmann murrte wie üblich, weil er lieber alles andere geworden wäre, nur kein Decksmann. Dummerweise bestand das Jobcenter darauf. Aber eigentlich murrten alle nur, weil sie sauer auf mich waren und noch nicht bereit, mir zu verzeihen, selbst, wenn ich eine akzeptable Entschuldigung über die Lippen brachte.

»Leute, ich bin euch eine Erklärung schuldig. Auch, wenn es völlig verrückt klingt, aber heute Morgen bin ich im Wald über zwei Leichen gestolpert und habe den Rest des Tages zusammen mit den anderen Zeugen auf unserem Polizeirevier verbracht. Das war die schlechte Nachricht. Es gibt aber auch eine Gute: Ich bin nicht der Mörder, und so hat man mich wieder laufen lassen.«

Wie schon gesagt, diplomatisches Herumeiern ist genauso wenig mein Ding wie das von Maik Willem.

Ich ließ die Nachricht einen Moment lang auf die anderen wirken, merkte aber gleich, dass ich sie nicht restlos überzeugt hatte. Hätte ich einfach nur gesagt: Tut mir leid, Jungs und Mädels, ich bin eingeschlafen und hab‘ verpennt, wäre die Sache vom Tisch gewesen.

Niemand sagte etwas. Sie wechselten nur ungläubige Blicke, und ich ärgerte mich.

»Können wir jetzt weitermachen?«, fragte Inga, die Serviceleitung mit den pinkfarbenen Stachelhaaren schließlich mit deutlich aggressivem Unterton.

»Gleich, kleinen Moment bitte.«

Ich zog mein Smartphone aus der Hosentasche und ging ins Internet. Die Morde standen bereits auf der Facebook-Seite der hiesigen Zeitung. Ich überflog den kurzen Artikel und reichte das Smartphone weiter. Dort stand, dass die drei Zeugen, die am Tatort gewesen waren, den ganzen Tag über verhört und dann wieder entlassen worden waren. Namen wurden nicht genannt, auch keine Einzelheiten der Tat. Durchgedrungen war lediglich, dass es sich um grausame Sexualmorde handelte.

»Das Ding da telefoniert auch«, erklärte Inga trotzdem aufsässig, während mich die anderen plötzlich interessiert anstarrten und auf die Preisgabe weiterer Einzelheiten hofften.

»Dann hoffe ich mal, dass sich die Polizisten kurzgefasst haben. Ich habe keine Flatrate, und das Smartphone ist den ganzen Tag über durch fremde Hände gewandert. So wie die Handys der anderen Zeugen auch.«

Letzteres vermutete ich zwar bloß, wollte aber nur ungern den Eindruck erwecken, der einzige Verdächtige gewesen zu sein.

Jetzt endlich hatte ich die Blockade meines Teams durchbrochen. Ein paar Minuten lang prasselten mir ihre Fragen entgegen, die ich, so gut es ging, beantwortete, ohne Insiderinformationen oder meine zukünftige Rolle in dem Drama preiszugeben. Eigentlich bestätigte ich nur die Auffindung der Leichen und überließ den Rest der Fantasie jedes Einzelnen.

»Hört sich echt gruselig an«, fasste schließlich Decksmann Piet zusammen, und ein Schauer durchlief seinen spillerigen Körper, der in viel zu großen Klamotten steckte.

Inga versucht ihr Bestes, ihn gästetauglich herauszuputzen, doch Piet erwies sich als autoritätsresistent. Er kommt, weil der Staat ihn zwingt, für seinen Unterhalt zu arbeiten, er bindet das Schiff ordentlich an, weil ich ihn sonst mit einem Fußtritt ins Wasser befördern würde, aber mehr Einsatz bekommen wir nicht von ihm. Er ist Ende zwanzig, raucht zwei Schachteln Camel pro Tag, hockt abends am Tresen seiner Eckkneipe und wird bei seinem chronischen Dauerhusten noch vor seinem vierzigsten Lebensjahr ins Gras beißen.

Vielleicht berührte ihn der Tod deshalb stärker als die anderen, die mich eher mit voyeuristischem Glitzern in den Augen nach Einzelheiten fragten, die ich ihnen nicht nennen konnte oder wollte.

Matrose Gunnar war der Einzige, der meine Erklärungen wortlos hinnahm, aber das war normal, weil er auch sonst nichts sagt, außer, dass er mir beim Anlegen den Abstand zur Kaimauer oder dem Ponton durchgibt, aber das bedarf auch nicht vieler Worte. Er ruht gewissermaßen in sich selbst, und alle Kommunikationsversuche Außenstehender prallen an einem unsichtbaren Schallschutz ab, den er um sich errichtet hat. Am liebsten steht er nach den Fahrten mit dem Schlauch auf dem Oberdeck und spritzt den Dreck vom Tag weg. Das auch schon mal um drei Uhr morgens.

Da wir Schiffsführer alle nur teilzeitbeschäftigt sind und jeder von uns Dreien nur während der jeweiligen Schicht die Verantwortung für die Meerjungfrau übernimmt, hat kurzerhand der Matrose-Motorenwart Gunnar das Schiff annektiert und umsorgt es wie eins seiner eigenen zehn Kinder.

An und für sich lief die Charterfahrt problemlos ab, wenn man davon absah, dass sich einer der Versicherungsagenten etwa zur Halbzeit vor dem Buffet übergab, was zu Unmut führte, weil es den übrigen neunundachtzig Versicherungsagenten und der anwesenden Chefetage Appetit und Laune verdarb. Außerdem setzte mal wieder der Bugstrahler plötzlich aus, und ich musste mich mit den beiden Schrauben begnügen, was an sich aber kein Problem ist, es sei denn, man wendet das Schiff gerade, steht quer im Fluss und hat hinten und vorn nur noch zwei Meter Platz. Ansonsten ist es nur ärgerlich. Mich erwischte es natürlich beim Wenden, aber alles ging gut.

Nichts erzürnt einen Reeder stärker als ein Anruf eines seiner Schiffsführer, der eine Havarie meldet. Die beiden häufigsten Ursachen: aufgesetzt oder Holz in der Schraube. Da aufgesetzt aber gern mit geschlafen oder unfähig assoziiert wird, ist Holz in der Schraube der Renner.

Aufgesetzt durch angeblichen Ausfall des Bugstrahlers wertet unser Reeder grundsätzlich als Ausrede, zumal dieser verdammte Boogie nie ausfällt, wenn er selbst am Ruder steht. Bei der Meerjungfrau jedenfalls wackelt seit jeher ein Kontakt irgendwo zwischen Steuerhaus und Bugstrahler, ohne dass Gunnar oder ich bisher dahintergekommen wären wo genau. Wir suchen schon, seit ich das Schiff übernommen habe.

Auf der Rücktour versuchte ich Lucy zu erreichen, aber entweder schmollte sie noch mit mir und ging nicht ran, oder aber sie zog durch die Discos auf der Suche nach einem neuen Ruprecht. So hatten auch wir uns kennengelernt, in einer Disco auf der Suche nach einem Ruprecht, wobei ihrer männlich und meiner weiblich sein sollte. Ein One-Night-Stand bitte.

Diesem einen waren ein Zweiter und Dritter und dann noch viele gefolgt, aber länger als ein halbes Jahr hielten wir es zusammen nicht aus. Keiner von uns beiden war zu diesem Zeitpunkt zu einer festen Bindung bereit gewesen, woran sich seitdem nicht viel geändert hat. Lucy hat zwei missglückte Eheversuche hinter sich, ich war zehn Jahre auf Binnenschiffen unterwegs gewesen und mehr der Spezialist für vorübergehende Bindungen geworden. In meiner Kölner Polizeizeit lag die Scheidungsrate der Kollegen bei fünfzig Prozent, was mich auch nicht eben zu einer Ehe animierte.

Nach dem unspektakulärem Aus zwischen Lucy und mir war aus unserer Affäre eine tolle Freundschaft entstanden, die dauerhaft hielt.

Nach dem Ende der Charter schlüpften Gunnar und ich in unsere Blaumänner, stellten im Maschinenraum einen Scheinwerfer auf und nahmen die Schmutzwasserpumpe auseinander, um das Schnüffelventil und ein paar Dichtungen auszutauschen. Die Mädels begannen währenddessen, den Salon wieder aufzuräumen. Als sie die Tischdecken von den zusammengestellten Buffettischen zogen, kam darunter ein Versicherungsagent zum Vorschein, der dort seinen Rausch ausschlief. Sie weckten ihn nicht eben behutsam und schleiften ihn zu einem Taxi, das sie gerufen hatten. Der Fahrer kannte das schon, er holte öfter mal unsere Chartergäste ab.

Als Gunnar und ich uns wieder aus dem engen Maschinenraum herausquälten, hatte sich Piet bereits vom Acker gemacht. Die Mädels waren sauer, streikten ihrerseits und saßen rauchend und lamentierend mitten im unaufgeräumten Chaos. Ich werde an Bord eher selten laut, aber es war ein langer beschissener Tag gewesen. Männer Tischerücken zu lassen, ist die eine Sache, obgleich jedes der Mädels an Bord kräftiger ist als Piet, aber Arbeitsverweigerung dulde ich auf der Meerjungfrau nicht.

Nach meiner kurzen aber kräftigen Ansage stoben alle in unterschiedliche Richtungen davon und das Aufräumen ging weiter. Gunnar und ich stellten die Tische wieder an ihre angestammten Plätze.

Um halb vier Uhr morgens strampelte ich mit dem Mountainbike durch den stockfinsteren Wald zu meiner Hütte und war, wie immer, erleichtert, sie noch stehen zu sehen. Ich schaltete meinen Hotspot an und surfte auf dem Tablet noch ein wenig im Internet, während ich mir den mittlerweile kalten Döner zwischen die Zähne schob, den ich in unserem einzigen Dönerladen am Bahnhof gekauft hatte. Er gehört Tarik und Zafer, zwei etwas weltfremden Brüdern aus Anatolien, die bis fünf Uhr früh auf Kundschaft hoffen, obgleich der letzte Zug kurz vor Mitternacht durch den Bahnhof brettert. Ohne anzuhalten.

Zu den Morden gab es jede Menge Nachrichten, aber alle klangen gleich. Keine Einzelheiten über die Verstümmelungen, keine Namen, eben nur zwei Leichen im Wald. Die Spekulationen reichten vom Eifersuchtsdrama bis hin zu einem Amoklauf.

Killertime

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