Читать книгу Killertime - Charlie Meyer - Страница 9
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ОглавлениеDas Gedudel des Smartphones weckte mich.
»Wieso bist du nicht im Revier. Es ist zwanzig nach zehn.«
»Du mich auch.«
Ich drückte das Gespräch weg und drehte mich auf die andere Seite. Die Charterfahrt gestern war die dritte Abendfahrt in dieser Woche gewesen, und dementsprechend groggy fühlten sich Körper und Geist an. Deshalb habe ich mich bei dem zweiten Job für den Freelancer mit freier Zeiteinteilung entschieden. Ich hatte etwas dagegen, die nächsten dreißig Jahre bis zu meiner Rente von acht Uhr morgens bis sechzehn Uhr dreißig am Nachmittag wie ein Uhrwerk zu funktionieren und von narzisstischen Bossen wie meinem Bruder zum Rapport gerufen zu werden.
Das Smartphone dudelte erneut. Diesmal blinzelte ich aufs Display. Eine Handynummer, die ich nicht kannte. Zumindest war es nicht die von Maik Willem.
»Hallo?«
»Du hast eine halbe Stunde, bevor wir dieser Lucy Sowieso einen Besuch abstatten.«
Diesmal war er es, der das Gespräch wegdrückte, und ich nahm mir vor, seine zweite Handynummer unter dem Namen Arschloch zu speichern.
»Scheiße!«
Ich stemmte mich langsam in die Höhe und versuchte meine Pupillen auf die Einrichtung der Hütte zu fokussieren, doch alles verschwamm. Ausgeschlafen war etwas anderes. In Flipflops und Boxershorts wanderte ich um meine Hütte herum, schöpfte aus der Regentonne einen Eimer kaltes Wasser und goss ihn mir über den Kopf. Danach klarte sich mein Blick abrupt auf. Zwischen den Baumkronen leuchtete mir das Blau des Himmels entgegen, und das Außenthermometer zeigte selbst hier unten, mitten im tiefsten Wald, schon zweiundzwanzig Grad an. Es war erst Anfang Juli und schon so heiß wie im Hochsommer.
Hätte ich geahnt, wie heiß es in diesem Sommer noch zugehen sollte, wäre ich längst mit Schlittenhunden auf dem Packeis des Nordpols unterwegs gewesen.
So verfluchte ich zwar meinen Bruder mit allen mir zur Verfügung stehenden Kraftausdrücken, was nicht wenige waren, holperte aber kurz darauf mit dem Mountainbike über Baumwurzeln den Forstweg hinunter.
Es gibt viele Arten jemanden zu etwas zu überreden. Nett fragen, eine Belohnung anbieten, ihm eine in die Fresse hauen, und dann noch einmal fragen, aber damit drohen, einem Außenstehenden Leid zuzufügen, in welcher Form auch immer, steht bei mir noch niedriger im Kurs als von jemandem zusammengeschlagen zu werden, während dich seine Kumpels festhalten.
Ich schaffte es in fünfundzwanzig Minuten, in denen ich mir den Kopf darüber zerbrach, wie ich Lucy aus der Schusslinie bekommen konnte. Es fiel mir nichts ein. So wie es aussah, hatte entweder das Verteidigungsministerium oder das Innenministerium oder beide ein Dossier über sie angelegt. Oder keiner von beiden, sondern nur mein Bruder auf dem Weg in den politischen Himmel, was mir als die weitaus realistischere Variante erschien. Lucy war schließlich nicht die Schwester von Osama bin Laden, sondern lediglich eine Modelcasterin mit Beinprothese.
Lohnte es sich möglicherweise, Maik Willems Potsdamer Villa einen nächtlichen Besuch abzustatten? Während ich die roten Ampeln ignorierte, soweit es mir ungefährlich für Leib und Leben schien, grübelte ich darüber nach und kam zu keinem Schluss. Bei seiner Paranoia angesichts der NSA-Affäre konnte tatsächlich eine Papierakte existieren, die ich mitnehmen konnte, doch wer sagte mir, dass es nicht drei Kopien auf CDs oder USB-Sticks gab, die in drei verschiedenen Banktresoren deponiert waren, und zwar gerade deshalb, weil er paranoid war.
Auf der anderen Seite kannte ich jemanden, der mir einen Gefallen schuldete und einen Freund hatte, der sich in alles einhackte, das sich bei drei nicht von selbst abschaltete. Einen Versuch war es wert.
Polizeihauptmeister Santos empfing mich wie ein Magengeschwür. Bereit, es mit allen Mitteln zu bekämpfen. Er wies den schlaksigen Polizeimeisteranwärter mit den roten Haaren an, mir mein Büro zu zeigen, wobei seine makellos weißen Zähne für eine Sekunde in der Andeutung eines schadenfrohen Lächelns aufblitzten.
Mein Büro erwies sich dann auch als fensterlose Besenkammer mit einem Schreibtisch und einem Schreibtischstuhl, dessen Bezug meine hundert Vorgänger schon durchgesessen hatten. Als netten Willkommensgruß hatten mir meine unfreiwilligen Kollegen tatsächlich einen Besen in der Ecke zurückgelassen. Einen mit schon platten Borsten.
Auf den makellos neuen Laptop allerdings, ein Modell, das auf dem Markt noch nicht einmal frei erhältlich war, hätte sich der Hackerfreund meines Freundes Hannes mit ungläubigem Strahlen gestürzt.
Unser Polizeirevier ist der Größe unserer Stadt angemessen. Aber immerhin haben wir noch ein eigenes Revier, was möglicherweise daran liegt, dass wir zwar eine Kleinstadt mit nur fünfzehntausend Einwohnern sind, administrativ aber als Mittelpunktzentrum des nur spärlich besiedelten Nichts gelten, das uns umgibt. Außerdem ist Hollerbeck Standort des Kreiskrankenhauses, was wiederum historisch begründet ist. Die, Ärzte in dem ehemaligen Spital aus dem neunzehnten Jahrhundert hatten sich schon so früh auf Traumatologie und Pathologie spezialisiert, dass sie sich bundesweit einen gewissen Ruf erarbeitet haben.
Das Polizeirevier besteht aus zwei Büros, einem Verhörraum, meiner Besenkammer und dem obligatorischen Empfangstresen, zu dem der junge Polizeianwärter eilte, sobald die Türglocke ging. Im Keller zwei Arrestzellen zur Ausnüchterung Betrunkener.
Der letzte Mord lag sechs Jahre zurück, wie ich später erfuhr. Ein Bauer, der Jahrzehnte von seiner Frau schikaniert worden war, hatte sie schließlich erschlagen, und, weil er nicht einsah, ihretwegen auch noch im Gefängnis zu landen, die Leiche zerlegt, durch den Häcksler gejagt und an seine Schweine verfüttert.
Als später im Schlachthaus menschliche Knochensplitter in ihren Mägen gefunden wurden, flog die Sache auf, und er landete doch noch hinter Gittern. Die Geschichte erinnert mich immer an einen polnischen Serienmörder, dessen Geliebte in der Nachkriegszeit über dreißig wohlgenährte Mitmenschen in seine Metzgerei lockte.
Die Wurst verkauften sie auf dem Schwarzmarkt.
Ich ging nach vorn zur Empfangstheke mit der Kaffeemaschine, neben der Santos mit verschränkten Armen an der Wand lehnte und das Durchlaufen des Wassers beobachtete. Mir und meinen Bermudas sah er mit der stoischen Miene eines Vaters entgegen, der sich gezwungen sieht, einen autoritätsresistenten Sohn großzuziehen, den er nicht einmal mag.
»Wie realistisch ist die Chance, eine Tasse abzubekommen?«, tastete ich mich vor.
»Gleich null«, entgegnete Santos trocken und stieß sich von der Wand ab. »Ich habe nur eine Tasse gekocht und die ist für mich. Ihr Staatssekretär hat wohl zu erwähnen vergessen, dass die Verpflegung im Service nicht inbegriffen ist.«
Er goss den Inhalt der Kanne in einen Becher und trollte sich betont langsam. Mimik und Körpersprache hätten nicht deutlicher sein können: Leck mich, du Wichser.
Ich verfluchte meinen Halbbruder und die Frucht seiner Lenden für die nächsten fünfhundert Jahre, kochte mir meinen eigenen Kaffee und aß die Donuts dazu, die ich auf dem Weg zum Polizeirevier erstanden hatte. Dann fuhr ich den Laptop hoch. Passwortgeschützt, na klar, ich löste nicht nur diesen Fall in Nullkommanichts, ich trat auch als Hellseher bei der Wohltätigkeitsveranstaltung der Polizeigewerkschaft auf und erriet Passwörter.
Gerade, als ich den Laptop wieder zuklappen wollte, bekam ich von meinem erpresserischen Halbbruder eine SMS auf mein Handy mit einer Reihe Buchstaben, Ziffern und Sonderzeichen und ging zu Recht davon aus, das Passwort vor mir zu haben: iry6$8jp§³. Da ich keine Chance sah, mir dieses Passwort auf Dauer merken zu können, schrieb ich es auf einen Notizzettel, den ich in mein Portemonnaie steckte.
Maik Willem hätte auf der Stelle der Schlag getroffen, und einen Moment lang spielte ich mit dem Gedanken, ihm den eingescannten Zettel als Anhang zu mailen. Kindisch, ich weiß, aber manchmal rückt sich die eigene verschobene Welt nur durch kindische Aktionen wieder gerade. Der Laptop jedenfalls enthüllte mir nun sein Innenleben, und das bestand aus einem leeren Ordner, auf dem Ermittlungsergebnisse stand, einer Telefonliste und einem E-Mail-Account, der siebzehn Mails enthielt, davon einige mit Anhang.
Aus dem verwaisten Nachbarbüro zur Linken, das aussah wie das von Santos, lieh ich mir den Drucker aus, richtete übers Internet eine WLAN-Verbindung ein und tat genau das, was ich laut ausdrücklichem Befehl des Staatssekretärs Maik Willem Crispin nicht durfte: Ich druckte all das brisante Zeugs aus. E-Mails, Fotos, Telefonliste und Hintergrundartikel. Die Tür der Besenkammer hatte ganz offenbar ein neues Sicherheitsschloss bekommen, das sollte wohl ausreichen, Neugierige am Herumschnüffeln zu hindern. Vor allem, da Santos, sein Gehilfe und ich die einzigen Bewohner der Polizeistation waren.
Seit dem Vorabend hatte sich an der Berichtserstattung auf den gängigen Plattformen nichts geändert. Zwei verstümmelte Leichen im Wald, keine Einzelheiten, keine Namen.
Dafür fand ich unter den E-Mail-Anhängen nicht nur die Tatortbilder mit verscheuchten Schmeißfliegen, sondern auch die Bilder der gewaschenen Leichen auf stählernen Autopsietischen. Das erste Bild, das ich anklickte, reichte aus, mir die übrigen gar nicht erst antun zu müssen. Diese Art voyeuristischer Inspiration brauchte ich nicht.
Das Profil des Kindermörders während meines Lehrgangs hatte ich erstellt, ohne mir die Tatortfotos der ermordeten Kinder anzusehen. Sie hätten meine logischen Schlussfolgerungen auf Grund aller zusammengetragener Infos lediglich durch die Blockade abgrundtiefer Trauer verhindert.
Die Ministerien, in Vertretung meines Halbbruders Maik Willem, verlangten von mir und den übrigen Bewohnern des Polizeireviers eine uneingeschränkte Zusammenarbeit, also hätte ich an dieser Stelle mit meinem Kaffeebecher einen zweiten Versuch starten müssen, bei Santos um gut Wetter zu bitten. Ich tat es nicht. Solange er mich nicht absichtlich behinderte, konnte er bleiben, wo der Pfeffer wuchs. Als Informationsquelle brauchte ich ihn nicht, mein E-Mail-Account füllte sich mit Mails aus allen Richtungen.
Maik Willems hielt Wort, ich bekam sogar eine dienstliche Aktennotiz von ihm an den Innenminister weitergeleitet, in der er mich als erfahrenen Profiler anpries, der Dutzende von Morden aufgeklärt hatte und der Schrecken aller Serienkiller war.
Kein Scherz, sondern eine Warnung, die mir den Ernst meiner Lage verdeutlichen sollte.
Womit ich fest gerechnet hatte, war das erneute Auftauchen des jungen Bremersson im Türrahmen der Rumpelkammer, und ich sollte recht behalten. Ich winkte ihn herein und deutete auf den Besucherstuhl, einen harten Holzstuhl derselben Art, die ich schon von meinem Verhör am Vortag kannte.
Kaum, dass er saß, legte ich ohne Vorwarnung los: »Okay, eine höhere Macht zwingt mich, euch so lange Gesellschaft zu leisten, bis dieser Fall gelöst ist. Es gibt hundert Dinge, die ich lieber täte, zum Beispiel einen Tiger streicheln oder einer Klapperschlange ein Küsschen geben. Dummerweise gibt es hier keine Tiger und Klapperschlangen, sondern nur uns. Wir können zusammenarbeiten und das Elend damit verkürzen. Zusammenarbeiten heißt für mich in diesem Fall einfach, uns gegenseitig keine Steine in den Weg zu legen. Ich will nichts von euch, außer ein wenig Büromaterial und koche auch gern meinen Kaffee selbst. Sollte Ihr Boss allerdings auf Krieg aus sein, hat er die Konsequenzen selbst zu tragen. Die anfangs erwähnte höhere Macht lässt gern auch mal Köpfe rollen. Kennen Sie das Buch von Stephen King Die Arena? Ja? Gut, dann stellen Sie sich unsere Situation exakt so vor. Wir sitzen unter einer gläsernen Kuppel und die Regierung beobachtet, ob wir in der Nase popeln oder den Fall lösen. Und wenn ihr Daumen nach unten zeigt, tritt das Exekutionskommando an. Ansonsten gibt es eine Medaille.«
Einen Moment lang blieb Bremersson sitzen und starrte mich an, und einen Moment lang starrte ich herausfordernd aber auch leicht irritiert zurück. Ich hatte mit einem roten Kopf und Gestammel gerechnet, und damit, dass er nicht wusste, wohin er blicken sollte bei meiner unverblümten Ansprache. Stattdessen hielt er meinem Blick beinahe durchgehend stand, und mir war, als zuckten sogar seine Mundwinkel.
Als ich fertig war, kam der alte unsichere Polizeimeisteranwärter dann doch wieder zum Vorschein.
»Soll ich, äh, meinem Boss das ausrichten?«
»Das wäre fein. Danke schön.«
Er stand auf und drehte sich um, als ich ihn mit einer Frage zurückpfiff.
»Für was für einen Menschen halten Sie den Mörder?«
Der Polizeimeisteranwärter fuhr erschrocken herum. »Verzeihung?«
»Der Mörder. Was ist er für ein Mensch? Mann? Frau? Was für einen Beruf übt er aus? Wo wohnt er? Warum ausgerechnet die beiden?«
Der Junge rang nach Worten, und ich ließ ihm Zeit. Brainstorming in großer Runde bringt die besten Resultate, doch manchmal reicht es auch, einen Einzelnen unerwartet mit jeder Menge Fragen zu unreflektierten Antworten zu bringen. Gerade die bergen mitunter das größte Potenzial. Ich konnte jede Hilfe gebrauchen, die mir über den Weg lief, selbst, wenn sie in Gestalt eines rothaarigen Anwärters auftauchte.
»Okay, beginnen wir mit den einfachen Antworten. Mann oder Frau?«
Ich lehnte mich zurück und kippelte mit dem Stuhl.
Bremersson sah an mir vorbei in eine der Ecken der Besenkammer und spitzte zögernd die Lippen. Ich wartete ungeduldig und hakte schließlich nach.
»Was deutet auf einen Mann?«
»Die Kraft. Der Mörder hat das Zelt von außen aufgeschlitzt, sich reingebeugt und den Russen bewusstlos geschlagen. Laut Spurensicherung hat er ihn dann an den Füßen aus dem Zelt gezerrt und in die Mitte der Lichtung geschleift. Das Mädchen hat er den Spuren nach am Waldrand erwischt und dann neben dem Russen angebunden. Also muss er auch stärker als sie gewesen sein. Dann hat er beide verstümmelt und getötet.«
»Gut, okay. Klingt logisch, obgleich ich finde, dass die Kraft einer durchtrainierten Frau unterschätzt wird. Außerdem könnte eine Waffe im Spiel gewesen sein. Es gibt, soweit ich weiß, keine Spuren, dass er das Mädchen mit Gewalt auf die Lichtung gezerrt hat. Eines irritiert mich allerdings noch mehr an Ihren Worten.« Ich kippelte erneut, bis ich die Wand im Rücken spürte, und runzelte die Stirn. »Sie sprechen von dem Russen und dem Mädchen. Wieso nicht von dem Mann und dem Mädchen? Gibt es irgendeinen Hinweis, dass der Mord einen rassistischen Hintergrund hat, oder sind Sie selbst Rassist?«
Diesmal lief er knallrot an, und nicht zum ersten Mal gratulierte ich mir zur hohen Kunst der Diplomatie. Wenn ich so weitermachte, lautete der Untertitel des Dritten Weltkriegs Die Welt gegen Dylan Crispin, und ich ging mal davon aus, dass keiner auf mich eine Siegwette abschließen würde.
»Ich ... äh ... nein, natürlich nicht. Ich habe nichts gegen Ausländer. Ich meine, diese ganzen Flüchtlinge ... Heute Morgen stand in der Zeitung, wir müssten uns auf eine Ebolaepedemie einstellen. Hier bei uns. In Europa.«
Er starrte mich mit seinen großen blauen Augen vorwurfsvoll an.
»Das Opfer war aber kein Ebolakranker, kein Terrorist und auch kein Sozialschmarotzer. Nur ein Mensch, der brutal abgeschlachtet wurde. Aber egal, was er hätte sein können, wir suchen seinen Mörder und finden ihn. Wir sind die Guten.«
Nicht, dass ich davon überzeugt war, aber einer musste die Fackel der Hoffnung vorantragen, warum also nicht ich?
Die Türglocke erlöste uns beide, und ein sichtlich erleichterter Bremersson trat den strategischen Rückzug an und flüchtete zum Empfangstresen. Ich hörte ihn jemanden begrüßen und eine gemurmelte Antwort. Kopfschüttelnd sah ich ihm nach. Die Jagd nach einer Bestie setzt nicht zwangsläufig voraus, dass man selbst eine Bestie ist. Weicheier mit dünnem Fell gehen dabei aber drauf. Entweder psychisch oder physisch. Manchmal auch in Kombination.
Genau deshalb hatte ich meine Laufbahn bei der Polizei abrupt beendet. Sie hatten mir einen Frischling als Partner zugeteilt, und anstatt die eigene Waffe zu ziehen, als er bei der Führerscheinkontrolle die Knarre des Kerls auf dem Beifahrersitz entdeckte, war er in Panik geraten und weggelaufen. Der Schuss hatte das Herz des Jungen von hinten zerrissen, und obgleich er laut Pathologe sofort tot gewesen sein muss, ist sein Körper noch zehn Meter weiter gelaufen.
Nachts wache ich manchmal auf, und sehe den toten Körper laufen. Alles, was mir dann noch hilft, ist das Schlagzeug, das mir Lucy geschenkt hat. Mitten in der Nacht haue ich auf das Becken, die Trommeln und das Tomtom, bis ich alle Bewohner des Waldes verscheucht habe. Nur der Geist will ich nicht weg, sondern klammert sich leichenblass an mich und wimmert: »Du hättest als Erster gehen müssen, nicht ich.«
Irgendwann ging mir das Druckerpapier aus. Fündig wurde ich in einer Art Materialschrank im Keller. Als ich die Treppe wieder hochkam, stürmte allerdings Santos mit dem Drucker, den ich von ihm ausgeliehen hatte, gerade aus meiner Besenkammer. In der Tür rempelte er mich hart an und stürmte dann weiter, den Flur hinunter.
»Hey! Stopp!«, brüllte ich ihm hinterher.
Tatsächlich blieb er stehen und fuhr kampfbereit herum.
»Was? Das ist mein Drucker, und wenn Sie noch ein einziges Mal irgendetwas aus meinem Büro klauen, und sei es nur ein Kugelschreiber, sind Sie ein toter Mann. Ich korrigiere mich: Wenn Sie mein Büro noch einmal in meiner Abwesenheit betreten, sind Sie ein toter Mann.«
»Wie Sie sehen, schlottere ich geradezu vor Angst. Tut mir leid wegen des Druckers, aber der Besen bei mir in der Ecke wollte die Seiten partout nicht ausdrucken. Aber eigentlich wollte ich einfach nur mal die Verhältnisse klarstellen.«
Ich wiederholte in etwa, was ich Bremersson über den Grund meines Hierseins gesagt hatte, bekam aber von Santos trotzdem kein freundliches Herzlich-Willkommen-Lächeln. Nicht einmal den Anflug davon, was ich ihm eigentlich auch nicht verdenken konnte. Ich war von einem hoffnungsvollen Hauptverdächtigen zum Starermittler avanciert, dem er, der Dienststellenleiter höchstpersönlich, zuarbeiten sollte.
»Sie sind übrigens ein lausiger Schauspieler«, setzte ich noch einen drauf. »Während meines Verhörs bekamen Sie zwei Anrufe auf Ihrem Handy. Der Erste teilte Ihnen das Ergebnis des Abgleichs meiner Fingerabdrücke mit. Ex-Bulle. Das änderte nichts an der Tatsache, dass ich für Sie der Hauptverdächtige war. Aber dann kam Anruf Nummer zwei: Hart rangehen. In die Enge treiben. Ihm Angst machen. Ihm die Ausweglosigkeit seiner Situation aufzeigen. Dann aber, wenn wir reinkommen und übernehmen, Schnauze halten und Kopf einziehen.« Ich lehnte mich an die Wand neben der Tür und verschränkte die Arme vor der Brust. »Die ganze Chose war nichts weiter als ein abgekartetes Spiel.«
»Wer sagt, dass Sie nicht noch immer mein Hauptverdächtiger sind?«
Santos war gut im Pokerface, und ich schloss nicht aus, dass er tatsächlich im Hinterzimmer irgendeiner Kaschemme pokerte, um sein Gehalt aufzubessern. Da ich selbst gern spielte, wäre er ein interessanter Gegner gewesen.
»Ich erkenne ein kriminelles Arschloch aus hundert Meter Entfernung. Aber wenn die überbezahlten Politiker da anderer Ansicht sind, bitte schön, sollen sie eben Köpfe rollen lassen. Hier gibt es nur zwei.«
Den Drucker unter dem Arm verschwand er in seinem Büro und knallte die Tür zu.
Ich starrte auf die geschlossene Tür und ballte unwillkürlich die Hände zu Fäusten. Wer hier wohl das Arschloch ist, dachte ich wütend, und rief mich gleich darauf selbst zur Raison. Ruhig bleiben. Zusammenreißen. Du musst doch nur den Mörder finden, und schon kann dieser Idiot von Dienststellenleiter die Grenzen seines Reviers ganz allein wieder bepinkeln.
Zur Komplementierung meiner Büroausstattung gab es schließlich noch andere Quellen. Ich rief die Servicenummer auf meiner Telefonliste an und diktierte einem beflissenen Herrn meine Bestellliste. Die Lieferung trudelte in Rekordzeit ein, und ich wies den Lieferanten an, alles in den Ecken meiner Besenkammer zu stapeln. Dass ich sogar den Drucker meiner Wahl bekam, sagte mir, dass niemand es für nötig gehalten hatte, Maik Willem meine Bestellungen vorzulegen.
Dann allerdings wurde ich meinen guten Vorsätzen doch noch untreu. Möglicherweise wollte ich bloß den Macho raushängen lassen, möglicherweise auch nichts unterversucht lassen, meinen Widersacher zu einer Zusammenarbeit zu überreden. Jedenfalls schlenderte ich den Flur hinunter, nachdem ich meine neuen Schätze ausgepackt und aufgebaut hatte, und platzte in Santos‘ Büro, ohne anzuklopfen.
»Der echte Mörder läuft da draußen rum, und würde sich triumphierend die Hände reiben, wenn er sehen könnte, wie wir uns gegenseitig an die Hälse gehen. Ich weiß nicht, wie Sie versorgt werden, aber ich habe in meiner Besenkammer nebenan über dreihundert Seiten mit Hintergrundinfos. Alles von fleißigen Heinzelmännchen in den letzten vierundzwanzig Stunden zusammengetragen. Wenn Sie also Bedarf haben …?«
Santos blickte nicht einmal auf von dem Schriftstück, das er auf seinem überladenen Schreibtisch las, aber in der Wolke geballten Testosterons über seinem Kopf brodelte es geradezu. Als ich mich endlich umdrehte, stand der junge Polizeianwärter keine drei Schritte hinter mir und starrte mich mit einem Ausdruck in seinem Kleinjungengesicht an, von dem ich nicht sagen konnte, ob er Verlegenheit oder Schadenfreude widerspiegelte. Auf jeden Fall hatte Bremersson den Anstand zu erröten, als ich ihn herausfordernd anfunkelte, bevor ich samt meiner eigenen Testosteronwolke geschlagen das Feld räumte.
Noch einmal würde ich diesem Idioten von Dienststellenleiter nicht die Hand zur Versöhnung reichen. Ich wanderte in mein Büro zurück und knallte meinerseits die Tür zu. Einen Moment lang betrachtete ich mich in dem quadratischen Spiegel, der neben der Tür hing. Ich sah beleidigt und verbissen aus. Soviel zur Coolness, die ich glaubte, im Gegensatz zu Santos auszustrahlen. Ich schmollte und nahm übel. Ich hängte den Spiegel ab und lehnte ihn umgedreht gegen die Wand. So wenig, wie ich die Fotos von Leichen brauchte, um mir ein Bild vom Täter zu machen, wollte ich den ganzen Tag mich selbst anstarren müssen.
Kopfschüttelnd setzte ich mich wieder an den Schreibtisch und betrachtete den dicken Papierstapel. Würde ich noch vor dem Wintereinbruch mein altes Leben zurückbekommen, oder fegte die Putzfrau irgendwann die Knochen meines in sich zusammengefallenen Skeletts unter dem Schreibtisch hervor, weil es mir niemals gelingen würde, den Mörder zu enttarnen?
Zwei Stunden später hatte ich mich durch die ersten hundert Seiten gekämpft, wenn auch stellenweise nur quer, und zog meinen Hut vor denen, die sie gefüllt hatten. Vor meinem geistigen Auge sah ich zwei Dutzend Kripobeamte nach ihrer nächtlichen Mammutarbeit im Akkord ausgelaugt über ihren Schreibtischen hängen.
In erster Linie ging es um das Mädchen. Rosanna Marquardt, einzige Tochter von Simone und Matthias Marquardt. Was für ein hohes Tier ihr Daddy war, stand nicht dabei, doch eigentlich interessierte es mich nur marginal und ließ sich wahrscheinlich jederzeit auf Google in Erfahrung bringen. Extremisten jedenfalls schloss ich aus. Sie hätten die beiden Opfer öffentlichkeitswirksam hingerichtet. Vorsichtig gedacht schien mir die Tat eher von einem sadistischen Psychopathen begangen zu sein, der starke Stimulanzien brauchte, um seinen Schwanz hochzukriegen.
Ich kramte nach der Telefonliste, rief in der Pathologie des hiesigen Krankenhauses an und ließ mich zu Frau Doktor Markowitz durchstellen, meiner Ansprechpartnerin laut Liste. Im Hintergrund jaulte etwas, das sich wie eine elektrische Säge anhörte, ohne, dass ich wissen wollte, was oder wen sie dort gerade zerlegten.
Als jemand ungeduldig Ja? fragte, gab ich meinen Namen und meine ID-Nummer an und legte anschließend ohne Vorwarnung los.
»Hat sich der Mörder über den Leichen einen runtergeholt? Gibt es Sperma?«
Einen Moment lang blieb es still. Dann antwortete eine Frauenstimme ungehalten: »Hallo? Heiße ich Bibi Blocksberg und reite auf einem Besen? Darf man wenigstens mal eine Minute Luft holen, bevor ihr Ignoranten durchs Telefon geschossen kommt?«
»Entschuldigung, aber bei dem Tempo, das alle Beteiligten vorlegen, habe ich lediglich versucht, auf den fahrenden Zug aufzuspringen. Sich davorzuwerfen, schien mir wenig sinnvoll.« Ich lachte und sie stimmte mit ein.
»Kluge Entscheidung, ich habe mit den beiden hier schon überreichlich zu tun. Also, was genau wollen Sie?«
»Wie wär’s mit einer Sushi-Bar heute Abend?«
»Griechisch.«
»Pizzeria?«
»Mexikanisch, und das ist mein letztes Angebot. Ich hoffe, Sie sind jung, gut aussehend, und die Sorte Mann, vor dem mich meine Mutter gewarnt hat.«
Ihre Stimme war tief und ein wenig heiser, und ich merkte, wie es in meinen Lenden zu kribbeln begann. Du meine Güte, ich sollte das Telefonat in den nächsten zwei Minuten beenden, oder ich konnte für nichts garantieren.
»Mexikanisch und ja. Schwiegermütter mögen mich nicht. Hat es nun Sperma gegeben auf den Leichen?«
»Nein, hat es nicht. Entweder tut er nur so, als törnt ihn das Ermorden und Verstümmeln seiner Opfer an. Oder er hat wirklich gravierende Potenzstörungen. Jedenfalls hat er weder auf den Leichen noch in unmittelbarer Nähe zu ihnen ejakuliert. Keine Vergewaltigung oder Penetration mit irgendwas.«
»Also einfach nur ein Sadist?«
»Möglich. Oder jemand, der seine wahren Gründe, die beiden umzubringen, verschleiern will oder muss.«
Ich stöhnte. »Ein Auftragskiller der Russenmafia mit Schauspielausbildung?«
»Ein Mitglied der Familie? Ein Ehrenmord?«
»Och kommen Sie. Wenn das Mädchen Muslimin mit Kopftuch gewesen wäre, während der Junge mit Schläfenlocken und Jarmulke herumlief, dann vielleicht.«
»Ehrenmorde geschehen nicht nur aus religiösen Gründen. Ein sechzehnjähriges Mädchen aus einflussreichem Haus, das sich mit einem doppelt so alten russischen Asylbewerber einlässt? Skandale und Präsidenten vertragen sich nicht besonders. Vielleicht hat Papa jemanden losgeschickt, der Unzucht mit einer Minderjährigen ein Ende zu setzen. Die Macht dazu hätte er als Leiter des BND.«
Leiter des BND? Bundesnachrichtendienst? Präsident? Einen Moment lang verschlug es mir dann doch die Sprache. Kein Wunder, dass an unseren Bushaltestellen plötzlich Men in Black herumstanden und Maik Willem sich bedeckt hielt.
»Wenn Sie an Ihrem Job hängen, sollten Sie diese Theorie nicht allzu oft wiederholen«, sagte ich hastig.
»Ich sage, was ich denke. Ihre guten Ratschläge können Sie sich sonst wohin stecken.«
»Sachte, ich gehöre zu den Guten. Trotzdem klingt das für mich wenig überzeugend. In dem Fall hätte er Buran Jung umbringen lassen, nicht aber seine eigene Tochter.«
»Möglicherweise wollte er ihn gar nicht umbringen, sondern nur zusammenschlagen lassen oder erschrecken oder was weiß ich. Dann lief diese Bestrafungsaktion aus dem Ruder. Der Mann ist plötzlich tot, das Mädchen auch, und irgendein Jemand muss das Ganze so aussehen lassen wie ein Sexualmord, um von der Familie abzulenken. Wollen Sie immer noch mit mir ausgehen?«
Ich lachte.
»Nur, wenn Sie bei Tisch zur Unterstreichung Ihrer Theorien nicht gemeingefährlich mit dem Besteck herumfuchteln.«
»Um acht beim Mexikaner, und schließen Sie vorher eine Krankenversicherung ab. Ich würde Ihnen ja gern den Autopsiebericht mailen, aber alle Infos gegen direkt ans Ministerium.«
Damit drückte sie das Gespräch weg, und ließ mich mit breitem Grinsen in meiner Besenkammer zurück. Unabhängig davon, ob es mir gelang, sie abzuschleppen, versprach der Abend allein schon gesprächstechnisch ein Knüller zu werden. Ich liebe Frauen mit wachem Geist und flinker Zunge.