Читать книгу Killertime - Charlie Meyer - Страница 7
5
ОглавлениеNormalerweise ziehe ich es vor, meinen Schicksalswagen selbst zu lenken, und der Letzte, dem ich die Zügel in die Hand gegen würde, wäre Maik Willem, doch in diesem Fall wollte ich nur eins: raus hier. Ich saß seit über acht Stunden auf diesem verdammten Polizeirevier fest, und man hatte mir nicht einmal gestattet, meinem Boss Max zu sagen, dass er sich für die Charterfahrt am Abend höchstwahrscheinlich einen anderen Schiffsführer würde suchen müssen. Möglicherweise hatte ich nun keinen Job mehr, was ich Max nicht einmal würde verdenken können. Noch im Flur des Reviers rief ich ihn kurz an, ließ widerspruchslos seinen Frust über mich ergehen, und versprach, so schnell wie möglich zum Anleger zu fahren.
Maik Willem hörte mir mit skeptischer Miene zu.
»Oder willst du mich nur in ein Hochsicherheitsgefängnis überführen?«, frotzelte ich, als ich das Handy wegsteckte und mich ihm zuwandte.
»Sehr witzig. Kommst du nun mit oder willst du hier Asyl beantragen? Wir müssen reden, und zwar gleich.«
Bei Licht besehen, hat Maik Willem viel von einem Psychopathen. Erfolgsorientiert, skrupellos, narzisstisch. Seine Schwester Lily und er sind meine Halbgeschwister und entstammen der ersten Ehe meines Vaters mit einer Texanerin, die unmittelbar nach Lilys Geburt in die Heimat zurück verschwand, was meinen Vater, einen überbeschäftigten Landarzt, bewog, sich umgehend nach Ersatz umzusehen.
Er fand meine Mutter, die ihm ein drittes Kind schenkte: mich.
Während Maik Willem Karriere machte und ich meine aufgab, spritzte sich Lily auf den Toiletten des Frankfurter Hauptbahnhofs Heroin. Anfangs ließ Maik Willem sie regelmäßig einfangen und zum Entzug in irgendeine noble Klinik einweisen, aber nachdem sie ihren Nachnahmen in Miller änderte - nach ihrer leiblichen Mutter, von der sie nicht einmal ein Foto besaß - und zumindest namentlich niemand die Drogensüchtige mit dem Karrierepolitiker in Verbindung bringen konnte, lässt er sie zufrieden.
Zweimal stand sie vor meiner Tür und zweimal war sie am nächsten Morgen mit meiner Brieftasche verschwunden. Seitdem herrscht Schweigen im Walde. Schwierig, jemandem zu helfen, der nur vortäuscht, Hilfe zu wollen.
Zum Reden setzten mein Halbbruder und ich uns auf eine Bank am Rande der Grünanlage, keine fünf Meter von der Bundesstraße entfernt, auf der sich die Lkws Stoßstange an Stoßstange durch die kleine Stadt schieben. Wir kämpfen seit Jahren für eine Umgehungsstraße, aber Maik Willem kam der Krach gerade recht. Seit dem NSA-Lauschangriff traut er handelsüblichen Handys und geschlossenen Räumen nicht mehr, und was er zu sagen hatte, schien für fremde Ohren nicht geeignet.
Einer unserer wenigen gemeinsamen Charakterzüge ist der Mangel an diplomatischem Geschick, und so ging mein Bruder dann auch gleich zu einem Frontalangriff über.
»Hast du was mit den Morden zu tun?« Ohne mich anzusehen, wickelte er ein Hustenbonbon aus und schob es sich zwischen die Zähne.
Ich schwankte zwischen zwei Reaktionen. Ich konnte ihm in die Fresse hauen und hoffen, dass er an einem verschluckten Hustenbonbon erstickte, oder ich konnte ihn von der Bank zerren und unter die Räder des Sattelschleppers schubsen, der gerade um die Ecke bog.
»Ich nicht. Du?«
Er warf mir einen seltsamen Blick zu und überging meine Gegenfrage. »Ich werte das als ein Nein?«
»Was willst du, Maik Willem? Wie du weißt, fange ich morgens zum Frühstück schon an, meine Mitmenschen umzubringen.«
Er sah mich an, als wollte er erwidern, von mir sei alles zu erwarten, überlegte es sich dann aber und rückte endlich mit der Sprache raus.
»Das getötete Mädchen, Rosanna, war gerade sechzehn geworden. Das zweite Opfer ist der Kerl, mit dem sie durchgebrannt ist. Er heißt Buran Jung. Ein Russe mit deutschen Wurzeln. Doppelt so alt wie sie. Zweiunddreißig. Nach ersten Schätzungen des Pathologen sind sie vor zwei oder drei Tagen von diesem elenden Dreckskerl umgebracht worden.«
Er schlug sich mit der Faust aufs Knie und beherrschte sich nur mühsam.
Meine Alarmglocken läuteten alle gleichzeitig.
»Aha. Das beantwortet meine Frage nach deiner Beteiligung. Nur nicht nach dem wie und warum.«
»Hast du dir die Leichen aus der Nähe angesehen?«
»Nur soweit mich die Schmeißfliegen ranließen. Sah nach viel Blut aus.«
»Dem Mann wurden Penis und Hoden abgeschnitten. Rosanna hat er …« Maik Willem schluckte. Er beugte sich vor und starrte auf den Boden vor seine blank gewienerten Schuhe. »Ihr wurde die Scham rausgeschnitten, und zwar anatomisch korrekt.«
Ich holte tief Luft und stieß sie langsam wieder aus. »Ein Mediziner?«
Er zuckte mit den Achseln.
»Irgendein perverser Sadist mit anatomischen Kenntnissen jedenfalls. Sie haben übrigens zum Zeitpunkt der Verstümmelungen noch gelebt und waren bei Bewusstsein, und zwar beide. Er hat sie geknebelt, lange Zeltheringe in den Boden geklopft und ihre Hand- und Fußgelenke daran festgebunden. Die Schnüre haben sich bis auf die Knochen ins Fleisch gefräst, als er loslegte.« Er schwieg ein paar Sekunden. »Die Kehlen hat er ihnen erst ganz zum Schluss durchgeschnitten. Post mortem.«
Ich atmete noch einmal tief durch. Ich wollte mir nicht vorstellen müssen, was ich hörte, aber mein Gehirn ließ mir keine andere Wahl.
»Auf die Gefahr hin, wie ein Papagei zu klingen. Was hast du damit zu tun?«
Die Kleine ist die Tochter eines hohen Tiers. Eines sehr Hohen, um genau zu sein. Außerdem Luisas Patenkind.«
Maik Willem wohnte in Potsdam im Viertel der Reichen. Luisa war seine Frau, eine geborene von und zu. Böse Mäuler behaupteten, er habe sie nur wegen ihres aristokratischen Backgrounds und den damit verbundenen Beziehungen geheiratet. Aber immerhin haben die beiden drei Kinder gezeugt, also war zumindest auch Sex mit im Spiel.
Ich schwieg eine Weile und versuchte, die Informationen zu verdauen, während ich an der Bushaltestelle zwei Männer mit Sonnenbrillen und schwarzen Anzügen beobachtete, die auf irgendetwas, aber mit Sicherheit nicht auf den Bus, warteten. Wenn mich nicht alles täuschte, waren wir das Ziel ihrer Aufmerksamkeit.
»Tut mir leid. Geht es Luisa so einigermaßen?«
Maik Willem nickte halbherzig, also fuhr ich fort.
»In der Zeitung stand nichts, es sei denn, ich habe es überlesen. Wenn dieser Mord zwei, drei Tage alt ist und Daddy ein hohes Tier, wurde das Mädchen doch bestimmt als vermisst gemeldet?«
Er schüttelte den Kopf und presste die Lippen zu einem Strich zusammen.
»Wir wollten die Presse raushalten. Rosanna war morgens mit einer Freundin im Fitnesscenter. Gegen zwölf trennten sich die beiden. Die Freundin kam zu Hause an, Rosanna nicht. Die ersten Vermutungen gingen dahin, sie könnte entführt worden sein. Der Super-GAU eben. Romeo und Julia hatte keiner von uns auf dem Schirm. Es sind Sommerferien. Sie war am Vortag erst aus ihrem Schweizer Internat nach Hause gekommen. Ihre Mutter sagt, sie habe den ganzen Abend vom Internat erzählt, aber weder einen Buran noch sonst ein männliches Wesen erwähnt. Lehrer ausgenommen. Eine Teenagerromanze kam der Familie so wahrscheinlich vor wie ein Krokodil, das sie gefressen haben könnte. Niemand ahnte auch nur das Geringste. Nicht einmal ihre besten Freundinnen. Möglicherweise hat sie diesen Russen über einen Chatroom kennengelernt, unsere Leute überprüfen das gerade.« Maik Willem wandte mit feuchten Augen den Kopf ab. »Ein Teenager, dem die ganze Welt offensteht, und dann kommt da einfach so ein dreckiger Psychopath …«
Ich legte ihm die Hand auf den Arm, doch er rückte sofort zur Seite, was mich nicht weiter wunderte. Emotional standen wir uns noch nie sehr nahe. Ich erhaschte den Blick auf seine Armbanduhr, meine Besatzung würde mich kielholen, wenn ich nicht augenblicklich zum Anleger fuhr.
»Warum hast du mich da rausgeholt?« Ich deutete auf das Polizeirevier schräg gegenüber.
»Ich will, dass du den Mörder findest.«
»Maik, ich …«
»Einmal Polizist, immer Polizist«, unterbrach er mich rüde. »Die besten Kripoleute reißen sich natürlich schon den Arsch auf, aber wir wollen, dass du parallel dazu ermittelst. Mit wir meine ich nicht nur den Vater und mich, sondern den Innenminister höchstpersönlich. Du bekommst Zugang zu ausnahmslos allen Ermittlungsergebnissen, egal welche Behörde. Höchste Berechtigungsstufe, aber auch die höchste Geheimhaltungsstufe. Kein Ton an irgendjemanden, vor allem nicht an die Presse. Du bist mein Bruder und ich habe mich für dich verbürgt.«
»Ja, toll, vielen Dank auch. Maik Willem, ich war mal Polizist. In einem anderen Leben. Es ist furchtbar, was mit Luisas Patentochter und ihrem Freund passiert ist, aber ich bin keine Schachfigur, die sich beliebig hin- und herschieben lässt. In der einen Sekunde der Hauptverdächtige, in der nächsten Hauptermittler und Protegé eines Ministers. Davon mal abgesehen war ich nie bei der Mordkommission, sondern im Streifendienst. Das ist sieben Jahre her. Im Zeitalter von DNA-Analysen und digitaler Fingerabdrücke eine Ewigkeit.«
Ich stand auf und schulterte meinen Rucksack mit den Badeklamotten.
»Du sollst keine Laboranalysen durchführen, sondern ein Profil erstellen. Infos bündeln, eins und eins zusammenzählen. Was haben sieben Jahre mit deiner Fähigkeit zu tun, die richtigen Schlussfolgerungen zu ziehen? Du hast dafür offenbar eine Begabung. Mein Gott Dylan, du hast schon mal einen Serienmörder überführt, der Kinder tötete.«
Im letzten Jahr meiner Polizeilaufbahn hatte ich mich von meiner Dienststelle zu einem Lehrgang für Fallanalytik, sprich Profiling, schicken lassen, einfach, um mich weiterzubilden. Der Lehrer, ein Profiler aus den USA, schikanös wie der Ausbilder einer Seals-Truppe, konfrontierte uns nach nur einer Woche mit dem ungelösten Fall eines Kindermörders, der in seiner Heimat Texas in Serie mordete. Millers Vorgabe: ein glaubwürdiges Profil des Mörders oder das Aus für den Kurs. Drei von uns schafften die Hürde. Ich war einer von ihnen, und aufgrund meines Profils wurde in Texas ein Lokführer der Amtrak gefasst, der fünf Kleinkinder und ein Baby einfach deshalb erwürgt hatte, weil ihm danach gewesen war.
Danach bekam ich ein Versetzungsangebot zur Profilerabteilung des Landeskriminalamtes in Wiesbaden und sagte begeistert zu. Doch dann, an einem meiner letzten Tage im Streifendienst, wurde mein Partner Manni bei einer Verkehrskontrolle getötet. Ich warf das Handtuch, beendete den vielversprechenden Anfang meiner Karriere und versteckte mich in der Provinz.
»Ich hatte mit meinem ersten und einzigen Profil einfach Glück. Mehr war da nicht. Es tut mir schrecklich leid, aber ich kann nicht helfen.«
Ich wandte mich zum Gehen und war vielleicht drei Schritte weit gekommen, als sich die beiden Men in Black an der Bushaltestelle ebenfalls in Bewegung setzten und mir auf dem Bürgersteig den Weg abschnitten. In ihren Ray-Ban-Sonnenbrillen spiegelte sich der Park in meinem Rücken.
Also hatte mich mein Bauchgefühl doch nicht getrogen. Nicht jeder, der an einer Haltestelle steht, wartet auf einen Bus.
Ich drehte mich zu meinem Bruder um, der sich langsam von der Bank erhob und näher schlenderte.
»Deine Leute?«
»Sie passen nur auf mich auf.«
»Sie versperren mir den Weg.«
»Na ja, du bist ein Mordverdächtiger, und sie werden dafür bezahlt, Leute wie dich davon abzuhalten, Leuten wie mir die Kehlen durchzuschneiden. In diesem speziellen Fall begleiten sie dich lediglich wieder hinüber.«
Maik Willem deutete auf das Polizeirevier.
Ich starrte ihn fassungslos an.
»Du erpresst mich?«
»Ach bewahre. Niemand erpresst dich. Du bist ein mündiger Bürger, der seine Entscheidungen selbst trifft. Auf der anderen Seite bist du unser vielversprechendster Verdächtiger. Daher wurde die Polizei angewiesen, dich eine Weile auf Staatskosten durchzufüttern. Bevölkerung, Presse und Politiker verlangen nach schnellen Resultaten. Der junge Sinti aus Rumänien kommt als Täter nicht infrage, weil er und seine Mutter erst vorgestern eingereist sind. Wenn man denn eine illegale Mitfahrgelegenheit auf der Ladefläche eines Sprinters, der einem Schlepperring gehört, als Einreise bezeichnen kann. Beide haben übrigens ausgesagt, dass du sie angreifen wolltest, kurz bevor die Polizei kam.«
So langsam geriet ich in Wut.
»Angreifen, ja? Ich wollte Erste Hilfe leisten, weil die Frau hysterisch war und hyperventilierte. Du weißt schon, hinsetzen und Kopf zwischen die Knie. Du meine Fresse, die Frau ist beinahe kollabiert. Sie ...«
Ich hielt abrupt inne. Stolperte ich da geradewegs in die Falle, die mein Bruder vorbereitet hatte? Er hatte schon immer gewusst, welche Strippen er ziehen musste, um mich in eine bestimmte Richtung zu lenken. Hochgradig manipulativ, auch das unterscheidet ihn nicht wesentlich von einem intelligenten Psychopathen.
»Okay, fangen wir noch mal von vorn an. Ich bin rein zufällig über die Leichen gestolpert. Ein Zeuge. Du kannst mich nicht zum Mörder machen, nur weil deine Bosse die Macht dazu haben. Die Zeiten, unbescholtene Bürger als Bauernopfer wegschließen zu lassen, sind vorbei.«
Doch eigentlich wusste ich es besser, und Maik Willem schüttelte dann auch nur ungläubig den Kopf. Wo, wenn nicht in der Politik, wird gemauschelt und korrumpiert? Ich war über zehn Jahre Polizist gewesen, und auch, wenn ich nie in die Entscheidungen der Oberen mit einbezogen wurde, hatte ich sehr wohl mitbekommen, was geht, wenn es nur der Richtige will.
»Hör auf den Naiven zu spielen und sieh den Tatsachen ins Auge. Der Vater des Mädchens golft mit dem Innenminister und lädt den Verteidigungsminister zu seinen Grillpartys ein. Außerdem wurden die Beschuldigungen der Rumänen schriftlich festgehalten. Du kannst sie nachlesen. Das und deine Anwesenheit am Tatort reichen, um dich vorerst wegzuschließen.«
»Was wenn ich ein wasserdichtes Alibi beibringen kann für die Tatzeit?«
»Ich sagte, vorerst wegsperren. Solltest du allerdings kein Alibi auftreiben können, könnte es natürlich länger dauern. Wo warst du zum Beispiel Dienstagmorgen, so gegen fünf Uhr in der Frühe? Oder Mittwoch um dieselbe Zeit?« Er beobachtete mich scharf. »Zu Hause im Bett? Dann hoffe ich für dich, du hattest jemanden zum Vögeln bei dir. Wenn nicht, hast du ein ernsthaftes Problem.«
Ich starrte ihn wortlos an und überdachte in Windeseile meine Optionen. Ich war im Bett gewesen. Allein.
»Was hast du davon, wenn du mich ins Spiel bringst?«
Wir standen dicht voreinander. Ein Fünkchen Triumph glomm in seinen Augen auf.
»Allein mein uneigennütziges Angebot, dich einzusetzen, hat mir die uneingeschränkte Aufmerksamkeit zweier Minister eingebracht, vom Vater des Mädchens ganz zu schweigen. Solltest du Erfolg haben …?«
Er zuckte die Achseln und lächelte freudlos.
Es verschlug mir beinahe die Sprache. Aber auch nur beinahe.
»Du benutzt den Mord an Luisas Patenkind, um politisch Karriere zu machen? Wie tief kann man denn noch sinken?«
Einen Moment lang glaubte ich er würde zuschlagen, doch dann versenkte er die geballten Fäuste lediglich in seinen Anzugtaschen. Die Men in Black, knapp außer Hörweite, schienen nahe davor, ihre Waffen zu ziehen.
»Rosanna ist tot, niemand kann sie wieder zum Leben erwecken. Warum also sollte ihr Tod nicht im Nachhinein etwas Gutes bewirken. Ich helfe dem Vater, den Mörder vor Gericht zu bringen, und der Vater und seine Ministerfreunde ebnen mir den Aufstieg. Eine Hand wäscht die andere, so läuft das nun mal seit Adam und Eva. Also entscheide dich.«
Ich erwiderte sein freudloses Lächeln.
»Okay, nehmen mir mal an, rein hypothetisch natürlich, ich lehne dein freundliches Angebot ab, und wende mich mit dieser unglaublich korrupten Geschichte direkt aus dem Untersuchungsgefängnis an die Medien. Bildzeitung, Spiegel, RTL, was dann? Mischt mir jemand Gift ins morgendliche Knastmüsli oder hänge ich mich versehentlich in meiner Zelle auf?«
Maik Willem betrachtete mich einen Moment lang wie einen dieser großen toten Frösche, die uns der Familienkater in unserer Kindheit ständig vor die Füße gelegt hatte. Mittlerweile sah er genervt und müde aus.
»Frag mich nicht, okay?«
»Das tue ich aber gerade. Ich will wissen, woran ich bin. Jetzt.
»Es gibt da eine Frau, die dir etwas bedeutet. Lucy Sowieso. Namen vergesse ich immer. Die Frau jedenfalls, die mit dir bei diesem grässlichen Unfall im Auto saß. Dieselbe, für die ich die Einweisung in die Psychiatrie verhindert habe.«
Ich biss die Zähne zusammen und schwieg. Wie weit würde er noch gehen?
»Es gab da einen Vorfall, noch keine drei Jahre her. Eine kleine Brasilianerin. Eine Schönheit unter uns gesagt, ich habe ihr Foto gesehen. Aber sie war erst fünfzehn, und diese Lucy Sowieso hat sie mit gefälschten Papieren aus dem Land geschmuggelt und in die USA einreisen lassen. So was erhitzt die politischen Gemüter und gefährdet unsere Beziehungen zu den USA. Muss ich ausführlicher werden?«
Eine ganze Weile standen wir voreinander und keiner sagte etwas. Dutton hatte in seinem Spiegel-Bestseller Psychopathen bei den Gemeinsamkeiten zwischen Serienmördern, Wirtschaftsbossen und Politikern recht, und das beste Beispiel hierfür stand gerade vor mir.
Mein Halbbruder Maik Willem. Janus, der Mann mit den zwei Gesichtern.
Vor Jahren hatte sein Einfluss mir und Lucy aus einer Riesenklemme geholfen, jetzt drohte er sie einzubuchten. Er hätte natürlich einfach sagen können: Hey Dylan, du schuldest mir noch was! Aber die einfache Variante reichte ihm nicht. Er drohte, um seine Macht zu demonstrieren und seiner Erpressung doppeltes Gewicht zu verleihen.
Trotzdem war ich ihm von damals etwas schuldig. Mir blieb keine Wahl.
»Okay, ich tue es. Aber wenn dieser Deal hier beendet ist, treffen wir uns wieder. Genau hier und glaube mir, ich brauche nur zwei Minuten, um Danke schön zu sagen.«
Ganz kurz nur flackerte etwas wie Furcht im Gesicht meines Bruders auf, dann war da wieder nur das Pokerface des Politikers. Ich spielte mit dem Gedanken, ihm eine Kopie der Geschichte von Kain und Abel zukommen zu lassen.
»Einverstanden.«
»Nur vorab schon mal, damit die Fronten geklärt sind: Du bist das größte Arschloch, das ich kenne, aber du hast Lucy damals geholfen, dafür schulde ich dir was. So, wie geht’s weiter?«
Er reichte mir eine Plastikkarte mit meinem eingeschweißten Foto, demselben, das auch meinen Personalausweis zierte, und funkelte mich wütend an. Die Karte wies mich als Mitarbeiter des Innenministeriums aus, mit einer ellenlangen ID-Nummer und einem Chip.
»Diese Chipkarte öffnet dir alle Türen. Du operierst vom Revier aus. Mit der ID-Nummer kannst du dich in alle Datenbanken einloggen, die für den Fall von Interesse sind. AFIS, Einwohnermeldeamt, Fahrzeugregister, was du eben brauchst. Du arbeitest ausschließlich auf dem Laptop, den du von uns bekommst. Keine handschriftlichen Notizen, keine Ausdrucke.«
Er schwieg einen Moment lang, ließ mich aber nicht aus den Augen.
Ich tat ihm nicht den Gefallen, über das Ausmaß seiner Befugnisse beeindruckt zu sein, war es aber tatsächlich.
»Santos und sein Gehilfe werden in diesem Moment angewiesen, dir zuzuarbeiten. Sie werden nicht erfreut sein, aber kooperieren. Wenn nicht, ruf mich an, und sie sind ihre Jobs los. Ich halte dir den Rücken frei, solange nichts, was du herausfindest, irgendwo anders hingerät, außer an mich persönlich. Keine Presse, kein Facebook, keine Freundin.«
»Warum diese Geheimniskrämerei?«
»Warum? Der Kerl, der Rosanna gevögelt hat, war nicht nur doppelt so alt wie sie, sondern auch noch russischer Staatsbürger. Das macht das Ganze zu einer hochpolitischen Affäre, gerade jetzt während des Ukraine-Konfliktes und den Reibereien mit Putin. Möglicherweise steckt viel mehr dahinter als die Schwärmerei einer Sechzehnjährigen.«
Ich dachte an die Köpfung des amerikanischen Journalisten nach den Luftangriffen der USA auf die Stellungen der IS-Miliz in Syrien. Vorstellen konnte ich es mir nicht in unserer idyllischen Provinz, aber es gab jede Menge Seltsames in der Welt, das sich meiner Vorstellungskraft komplett entzog. Möglicherweise fielen auch Exekutionen heutzutage unter den Oberbegriff Reibereien.
Ich sah ihm und seinen Men in Black zu, wie sie allesamt in einem schwarzen BMW mit getönten Scheiben verschluckt wurden, der wie auf Kommando an diesem Punkt unserer kleinen Plauderei vorfuhr. Panzerglas?
Dann ging ich mein Mountainbike vom verabredeten Platz holen, dem Fahrradständer des Cafés zwei Blocks von der Polizeistation entfernt.
Erst auf halbem Weg zum Anleger fiel mir auf, dass ich nicht einmal gefragt hatte, was für ein hohes Tier Rosannas Vater war.