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Hollerbeck ist eine fünfzehntausend Seelen Stadt an der Oberweser zwischen Hannoversch Münden - wo laut Weserstein Fulda sich und Werra küssen - und Bad Karlshafen. Ein kleiner Touristenort zwischen Weser-Radweg und den bewaldeten Hügeln des Reinhardswaldes. Im Schatten der Sababurg.

An dreihundertvierundsechzig Tagen ist der Reinhardswald ein Paradies für Mountainbiker, Wanderer und alle, die Ruhe und Entspannung suchen. An diesem Tag nicht. Als ich den Waldweg zu meinem Badesee hinunterbretterte, hörte ich diesmal die schrillen Schreie einer Frau. Alarmiert trat ich schneller in die Pedalen. In einem früheren Leben bin ich mal Polizist gewesen, und irgendwo steckte mir offenbar die Pflicht, helfend einzugreifen zu müssen noch immer im Blut. Möglicherweise habe ich aber auch von meinen Urvätern, den Höhlenmenschen, einfach nur ein Gen geerbt, das bei Frauengeschrei automatisch Halte durch, ich komme brüllt.

Während ich in halsbrecherischem Tempo über Baumwurzeln und Steine holperte, analysierte mein Gehirn die Schreie als hysterisch und existenziell. Mal davon abgesehen, dass außer mir kaum jemand in dem Teich schwamm, hörten sie sich auch nicht so an, als wäre die Frau am Ertrinken. Oder über eine Baumwurzel gestolpert. Eher, als sei ihr der Sensenmann persönlich begegnet.

Je länger sie schrie, desto steiler richteten sich meine Nackenhaare auf.

Als ich die Lichtung vor dem See endlich erreichte, wusste ich auch warum und bremste so abrupt, dass das Hinterrad des Mountainbikes herumschleuderte und eine Wolke vermodertes Laub in die Luft schleuderte.

Etwa im Mittelpunkt der Lichtung lagen nebeneinander zwei nackte Gestalten mit ausgebreiteten Armen und weit gespreizten Beinen. Auf den ersten Blick sah es aus, als wären sie gekreuzigt worden, aber dann sah ich die Stricke, mit denen Handgelenke und Fußknöchel an etwas Metallenem gefesselt waren, das aus dem Waldboden ragte. Zeltheringe möglicherweise. Am Ufer des Sees stand zumindest ein Zelt, und wer immer die beiden getötet hatte, hatte sich mit einem Messer Zutritt verschafft. Die Zeltplane war aufgeschlitzt. Geradezu zerfetzt.

Ich lehnte das Mountainbike gegen einen umgestürzten Baum und ging langsam näher, obgleich sich alles in mir dagegen sträubte. Es waren nicht die ersten Leichen, die ich sah, schließlich hatte ich mit fünfzehn auf einem Frachtschiff angeheuert und war seitdem mit mehr als nur einer Wasserleiche konfrontiert worden, von den übel zugerichteten Verkehrstoten und Selbstmördern meiner Polizistenlaufbahn mal abgesehen.

Dies hier war etwas anderes. Die beiden dort auf der Lichtung waren nackt, gefesselt, und die Schwärme dicker fetter Schweißfliegen, die vor allem ihre Köpfe und Lenden umsummten, deuteten auf Verletzungen hin, die ich eigentlich gar nicht sehen wollte. Es stank nach Verwesung, und wenn ich die Tierspuren am Boden richtig deutete, hatte sich schon der eine oder andere vierbeinige Waldbewohner an den Leichen gütlich getan.

So ist es eben, das Gesetz der Natur. Fressen und gefressen werden. Nur sehen musste ich es nicht unbedingt.

Helfen konnte den beiden ohnehin niemand mehr.

Um den Tatort nicht zu verunreinigen, ging ich am Rand der Lichtung zu der Frau hinüber, die noch immer wie am Spieß schrie und sich in den Armen eines leichenblassen Jünglings wand. Ihr Sohn? Sie trug einen wadenlangen bunten Rock und eine rote Bluse, er Baggys und ein schmuddeliges T-Shirt. So wie es aussah, hatten sie Beeren gesucht, als sie unversehens über den Tod stolperten. Auf dem Waldboden lag ein umgekipptes Körbchen, aus dem der Inhalt gekullert war.

Gegen das schrille Schreien versuchte ich den Jungen anzusprechen und herauszufinden, ob er schon die Polizei gerufen hatte, aber was er zurückbrüllte, hörte sich rumänisch oder albanisch und ziemlich aggressiv an. Ganz offensichtlich brachte er mich und die Leichen in einen kausalen Zusammenhang. Die schwarzen Haare hingen ihm in seine schwarzen blitzenden Augen, und sein Körper zuckte, als stünde er unmittelbar davor, sich auf mich zu stürzen. Oder wegzulaufen, so ganz konnte ich es nicht deuten.

Also wanderte ich am Waldrand wieder ein Stück zurück, aus dem Wind und dem Verwesungsgestank heraus, und tippte die 110 in mein Smartphone. Ich beschrieb die Situation und den Weg und versprach zu warten. Für die schreiende Frau bat ich um einen Krankenwagen. Ihr Schreien klang zwar bereits heiserer, und irgendwann hätte sich das Problem von selbst gelöst, aber eine Beruhigungsspritze würde ihre Stimmbänder und unsere Ohren schonen.

Ich versuchte dem Jungen begreiflich zu machen, dass er seine Mutter auf einen Baumstumpf setzen und ihr den Kopf zwischen die Knie pressen sollte, weil sie zunehmend zu hyperventilieren begann. Ich machte es ihnen pantomimisch sogar vor, wobei ich mir wie ein Idiot vorkam, drang aber zu keinem von beiden durch. Er blickte nur finster drohend zu mir hinüber, und als ich einen zweiten Versuch wagte, mich ihnen zu nähern, warf seine Mutter den Kopf zurück und kreischte panisch. Das Kopftuch über den schwarzen Haaren, die ihr lang und strähnig den Rücken hinunter hingen, rutschte ihr bei der Gelegenheit in den Nacken. Sie kreischte noch lauter.

So wie es aussah, hielten mich beide tatsächlich für den Mörder.

Es dauerte eine Weile, bis die Polizei, zwei Mann stark, in ihrem altersschwachen Streifenwagen den Forstweg hinuntergeholpert kam, gefolgt von einem Rettungswagen mit zwei Sanitätern. Es gibt noch einen zweiten Streifenwagen in unserer kleinen Stadt, aber der steht mit einem Kolbenfresser auf dem Hof der Polizeiwache. Mit dem früheren Dienststellenleiter war ich locker befreundet gewesen. Nach der Bürgermeisterwahl hatte er gehen müssen, und zur Neubesetzung hatte ich nie Kontakt aufgenommen.

Ich weiß nicht, wer tiefer durchatmete, als die schreiende Frau von den Rettungssanitätern mit sanfter Gewalt in den Wagen geschoben wurde und die Türen zuklappten: ihr Sohn oder ich. Innen kreischte sie zwar noch eine Weile heiser weiter, aber doch sehr gedämpft. Dann, plötzlich, trat Ruhe ein. Die Spritze wirkte.

Die beiden Polizisten näherten sich den Leichen ebenfalls nur auf einige Meter, bevor einer zum Funkgerät griff und Verstärkung anforderte. Der Ranghöhere, den ich für unseren neuen Dienststellenleiter hielt, war ein südländisch aussehender Typ. Klein, untersetzt und mit stechendem Blick. Sein Gehilfe, den Schulterklappen nach ein Polizeimeisteranwärter, war groß, schlaksig, mit roten Haaren. Pat und Patachon.

Ab und an warfen sie misstrauische Blicke in meine Richtung.

Dem kleinen Rumänen oder Albaner hatte offenbar allein der Anblick ihrer Uniformen den Schneid abgekauft. Wahrscheinlich hätte er längst die Beine unter die Arme genommen, wenn da nicht seine Mutter im Rettungswagen gewesen wäre. Ich hoffte für ihn, dass seine Papiere in Ordnung waren.

Nach und nach traf Verstärkung ein, von wo auch immer. Die Spurensicherung rumpelte in einem weißen Sprinter über den Weg, Polizisten aus Hofgeismar hatten sich einen Jeep Cherokee besorgt. Befehle hallten durch den Reinhardswald.

Ein Frischling mit nur einem Streifen auf den Schulterstücken stapfte mutig zu den Leichen hinüber und starrte sie an. Er schaffte es gerade noch, sich umzudrehen, bevor er sein Frühstück ins Laub spuckte. Einer von der Spurensicherung brüllte vor Wut die Eichhörnchen von den Bäumen, während der Frischling schlotternd von der Lichtung wankte.

Während die Leichen höchstwahrscheinlich noch ein paar Stunden dort ausharren mussten, wurden der Junge, seine Mutter und ich zügig abtransportiert. Gott sei Dank kannte ich einen der zur Verstärkung angerückten Beamten aus meiner aktiven Zeit und überredete ihn, mein Mountainbike hinten in seine Grüne Minna zu packen und mit runter nach Hollerbeck zu nehmen. Ein Freundschaftsdienst von Bulle zu Bulle, auch wenn ich nur ein Ex war und er unwillig in seinen Bart grummelte.

Sollte der Spurensicherer davon erfahren, der eben noch dem armen Frischling die Hölle heißgemacht hatte, traf ihn mit Sicherheit der Schlag.

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