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IV – Mr. Yorke (Fortsetzung)

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Er war in jeder Beziehung ein echter Yorkshire-Gentleman. Er war etwa fünfzig Jahre alt, doch auf den ersten Blick sah er älter aus, da sein Haar silberweiß war. Seine Stirn war breit, nicht hoch; sein Gesicht frisch und voll. In seinen Zügen erblickte man das Raue des Nordens und hörte es in seiner Stimme. Jeder Zug war vollkommen englisch, nirgends eine französische Linie; es war eine unelegante, unklassische, unaristokratische Form von Gesicht. Vornehmes Volk hätte es vielleicht gewöhnlich genannt, sentimentales, charakteristisches, feines sich daran gefreut, wegen dessen Kraft, Scharfsinn, Verstand, der rohen aber wahrhaften Originalität, die in jeder Linie ausgeprägt war und in jeder Falte lag. Doch es war auch ein unbelehrbares, verachtendes und sarkastisches Gesicht, das Gesicht eines Mannes, der sich schwer lenken und unmöglich antreiben lässt. Seine Gestalt war ziemlich schlank; er war hochgewachsen und hielt sich stramm, sodass etwas Festes und Echtes in seiner Haltung lag. Nirgends ein Anflug von etwas Bäurischem.

Es war nicht leicht, Mr. Yorkes Persönlichkeit zu schildern, aber noch schwerer dürfte es sein, seinen Geist zu beschreiben. Wenn der Leser erwartet, mit einem vollendeten, oder sogar nur mit einem wohlwollenden, menschenfreundlichen alten Herrn in ihm bekannt zu werden, so täuscht er sich.

Er hatte mit etwas Verstand und guter Gesinnung mit Mr. Moore gesprochen, aber man muss nicht daraus schließen, dass er stets so gerecht und mild sprach und dachte.

Vor allen Dingen fehlte Mr. Yorke der Sinn der Ehrerbietung gänzlich. Ein großer Mangel, der den Menschen in allen Dingen, wo Ehrerbietung verlangt wird, irreleitet. Zweitens fehlte ihm auch der Sinn für Vergleiche; ein Mangel, der den Menschen der Sympathie beraubt, und drittens hatte er zu wenig Sinn für Güte und Fantasie, wodurch Milde und Herrlichkeit aus seiner Natur schwanden, und diese göttlichen Eigenschaften für ihn vermindert wurden.

Der Mangel an Ehrerbietung machte ihn intolerant gegen alle ihm höher stehenden. Könige, Vornehme und Geistliche, Dynastien, Parlamente und Stiftungen mit allem was sie taten, den meisten ihrer Verfügungen, ihren Formen, ihren Rechten und Anforderungen waren für ihn verworfene, verächtliche Dinge. Er fand weder Nutzen, noch Vergnügen an ihnen und glaubte, dass es offenbarer Gewinn und kein Verlust sei, wenn diese hohen Stellen ausgelöscht und ihre Inhaber in ihrem Fall zerschmettert würden. Der Mangel an Ehrerbietung machte ihn auch herzenstot für die sprühende Freude, das zu bewundern, was bewundernswert ist; er vertrocknete ihm tausend Quellen des Entzückens; er ließ tausend Blüten des Vergnügens welken. Er war nicht unreligiös. Obgleich er keiner Sekte anhing, konnte seine Religion nicht die eines Menschen sein, der zu verehren versteht. Er glaubte an Gott und an den Himmel, aber sein Gott, sein Himmel waren der eines Mannes, dem es an Ehrfurcht, Vorstellungskraft und Innigkeit fehlt.

Die Schwäche seiner Vergleichskräfte machte ihn inkonsequent. Während er einige vortreffliche allgemeine Grundsätze über gegenseitige Toleranz und Nachsicht die seinen nannte, hegte er gegen gewisse Klassen einen bigotten Widerwillen. Er sprach von Geistlichen und allem, was zu Geistlichen gehörte, von Lords und den Anhängern der Lords mit einer Härte, oft sogar mit einer Unverschämtheit, die ebenso ungerecht wie unerträglich war. Er konnte sich nicht selbst in die Lage derer versetzen, die er verachtete; er konnte nicht ihre Irrtümer mit ihren Versuchungen, ihre Fehlungen nicht mit ihren Nachteilen vergleichen; er konnte sich nicht die Wirkung dieser und jener Umstände auf sich selbst in gleicher Lage vorstellen und sprach selbst oft die härtesten und tyrannischsten Wünsche bezüglich derer aus, die, wie er glaubte, hart und tyrannisch gehandelt hatten. Nach seinen Drohungen zu urteilen, würde er willkürliche, ja selbst grausame Mittel angewendet haben, die Sache der Freiheit und Gleichheit zu fördern. Gleichheit ja, Mr. Yorke sprach über Gleichheit, aber im Herzen war er ein stolzer Mann; sehr freundlich gegen seine Arbeiter, sehr gut gegen alle, die ihm untergeordnet waren und sich ihm ruhig unterwarfen, aber hochmütig wie Beelzebub gegen jeden, den die Welt (denn er selbst hielt keinen dafür) als ihm übergeordnet ansah. Aufruhr lag ihm im Blut. Er konnte keine Zügel ertragen. Sein Vater und Großvater hatten es auch nicht gekonnt und seine Kinder konnten es ebenfalls nicht.

Der Mangel an allgemeinem Wohlwollen machte ihn sehr ungeduldig gegen Schwächen und alle Fehler, die gegen seine strenge, scharfe Art und Weise verstießen. Gegen seine schneidenden Sarkasmen gab es keinen Einhalt. Da er nicht mild war, musste er oft verwundet werden und wieder verwunden, ohne daran zu denken, wie oft er es tat und wie tief er traf.

Was die geringe Vorstellungskraft seines Geistes anbelangte, so konnte man dies kaum einen Fehler nennen. Ein feines Ohr für Musik und ein sicheres Auge für Farbe und Gestalt gewährten ihm die Fähigkeit des Geschmacks, und wer fragt nach Fantasie? Wer hält sie nicht für eine eher gefährliche, verstandeslose Eigenschaft, zur Schwäche neigend, vielleicht an Wahnsinn streifend, eher eine Krankheit des Geistes, als eine Gabe desselben?

Vielleicht denken alle so, außer denen, die sie besitzen, oder vielmehr, die von ihr besessen werden. Wenn man sie sprechen hört, sollte man glauben, dass ihre Herzen kalt sein würden, wenn dieses Elixier sie nicht durchströmte, dass ihre Augen dunkel sein würden, wenn diese Flamme ihr Sehvermögen nicht stärkte, dass sie einsam sein würden, wenn dieser seltene Gefährte sie verlasse. Ihr solltet glauben, dass sie eine frohe Hoffnung dem Lenz, einen zarten Reiz dem Sommer, eine ruhige Freude dem Herbst, einen Trost dem Winter verleihe, die ihr nicht empfindet. Aber alles ist am Ende Täuschung. Die Fanatiker hängen aber an ihrem Traum und gäben ihn für alles Gold der Welt nicht auf.

Da Mr. Yorke selbst keine poetische Fantasie besaß, hielt er sie auch bei anderen für überflüssig. Maler und Musiker konnte er schätzen und oft sogar ermutigen, weil er den Resultaten ihrer Kunst Geschmack abgewinnen konnte. Er konnte den Reiz eines schönen Gemäldes sehen und das Vergnügen guter Musik fühlen, aber ein ruhiger Dichter, welch eine Kraft in seiner Brust auch wütete, welch ein Feuer auch darin glühte, solange er nicht seinen Mann im Kontor oder hinter dem Ladentisch hatte stehen können, mochte er vor Hiram Yorkes Augen verachtet leben und ebenso sterben.

Da es nun aber viele Hiram Yorkes in der Welt gibt, ist es sehr gut, dass der wahre Dichter, so ruhig er auch äußerlich scheinen mag, doch oft einen rachsüchtigen Geist unter seiner Friedfertigkeit verbirgt und voll Verschlagenheit in seiner Demut ist und die ganze Statur derer messen kann, die auf ihn herabsehen, und das Gewicht und den Wert der Bestrebungen ergründen, wegen deren Nichtergreifung sie ihn missachten. Es ist ein Glück, dass er seinen eigenen Segen, seine eigene Gesellschaft mit seiner großen Freundin, seiner Gottheit, der Natur, haben kann, gänzlich unabhängig von denen, die wenig Vergnügen an ihm finden und an denen er selbst keines findet. Es ist billig, dass, während die Welt und die Verhältnisse ihm oft eine kalte, dunkle, nachlässige Seite zukehrt, er imstande ist, eine festliche Herrlichkeit und einen erwärmenden Strahl in seiner Brust zu erhalten, die ihm alles herrlich und genial gestalten, während Fremde vielleicht sein Dasein für einen Polarwinter halten, den nie die Sonne erheitert. Der wahre Dichter ist niemand, den man bedauern muss, und er ist imstande, bei all seiner Sorge zu lachen, während ein fehlgeleiteter Bedauernder über sein Elend weint. Eben wenn der Nützlichkeitsmensch zu Gericht über ihn sitzt und ihn und seine Kunst für nutzlos erklärt, hört er dieses Urteil mit solch derben Gelächter an, mit solch tiefer, voller und schonungsloser Verachtung für den unglückseligen Philister, der es ausspricht, dass er vielmehr darüber zu tadeln als zu trösten ist. Solche Betrachtungen stellte aber Mr. Yorke nicht an, und jetzt haben wir es mit diesem zu tun.

Ich habe dir, lieber Leser, einige seiner Fehler genannt; was nun seine guten Seiten betrifft, so war er einer der achtbarsten und gescheitesten Leute in Yorkshire, sodass selbst die, welche ihn nicht leiden konnten, ihn doch achten mussten. Von den Armen wurde er sehr geliebt, denn er war freundlich und väterlich zu ihnen. Gegen seine Arbeiter war er fürsorglich und herzlich. Wenn er sie aus einer Beschäftigung entließ, versuchte er sie stets anderswo anzustellen, oder, wenn das unmöglich war, sie mit ihren Familien in eine andere Gegend zu übersiedeln, wo wahrscheinlich Arbeit zu finden war. Es muss auch bemerkt werden, dass, wenn, wie es manchmal vorfiel, eine Person unter ihnen Zeichen von Insubordination gezeigt hatte, Yorke, der, gleich vielen, die nicht überwacht sein wollen, es doch recht gut verstand, kräftig selbst zu überwachen, das Geheimnis besaß, Rebellion im Keim zu ersticken und sie wie Unkraut auszurotten, sodass sie sich innerhalb seiner Autorität nie verbreitete oder entwickelte. Da nun aber seine eigenen Angelegenheiten in einem so glücklichem Zustand waren, fühlte er sich selbst frei, mit der größten Strenge von denen zu sprechen, die in einer anderen Lage als der seinen waren, und was sich in ihrer Stellung unerfreuliches vorfand, ihnen gänzlich selbst als Schuld anzurechnen, und sich dadurch jedoch von der Seite der Besitzenden auf die Seite der Arbeiter zu stellen.

Mr. Yorkes Familie war die erste und älteste in diesem Landstrich, und er, obgleich nicht der vermögendste, doch der einflussreichste Mann. Seine Erziehung war gut gewesen. In seiner Jugend, vor der französischen Revolution, war er auf den Kontinent gereist. Er besaß vollkommene Kenntnis der französischen und italienischen Sprache. Er hatte zwei Jahre in Italien verbracht, und während dieser Zeit hatte er viele gute Gemälde und geschmackvolle Seltenheiten gesammelt, mit welchen er sein Haus jetzt schmückte. Sein Benehmen war, sobald er wollte, das des vollendetsten Gentleman der alten Schule, seine Unterhaltung, wenn er gefallen wollte, außerordentlich interessant und originell, und wenn er sich gewöhnlich im Dialekt von Yorkshire ausdrückte, geschah es, weil er es gerade genauso wollte und sein angeborenes Dorisch einem verfeinerten Wörterbuch vorzog. »Ein Yorkshirer Brummen«, versicherte er, »sei um so viel besser als eines Londoner Stadtkindes Stottern, wie eines Bullen Brüllen besser als einer Ratte Quieken.«

Mr. Yorke kannte jedermann, und jedermann im Umkreis von vier Meilen kannte ihn, aber vertraute Bekanntschaften hatte er nur sehr wenige. Da er selbst sehr originell war, hatte er wenig Geschmack am Gewöhnlichen. Ein derber, rauer Charakter, hoch oder niedrig, fand stets Anerkennung bei ihm; eine überfeinerte, unvernünftige Person, wie hoch ihre Stellung auch sein mochte, war ihm zuwider. Er opferte jederzeit gern eine Stunde, um mit einem seiner gescheiten Arbeiter oder mit einem wunderlichen, scharfsinnigen, alten Weib aus seinen Gehöften frei von der Leber weg zu sprechen, während er keinen Augenblick einem feinen Gentleman zu Plattitüden oder der modischsten und elegantesten, aber frivolen Dame gewährt haben würde. Seine Bevorzugungen in dieser Hinsicht trieb er bis aufs Äußerste und vergaß, dass es auch unter denen, die nicht originell sein können, liebens-, ja selbst bewundernswürdige Charaktere geben konnte. Doch machte er selbst eine Ausnahme von seiner eigenen Regel. Es gab eine gewisse Geistesrichtung, offen, herzlich, Verfeinerung vernachlässigend, unfähig, das, was intellektuell an ihm war, zu würdigen, die aber zugleich bei seiner Rauheit nie Missvergnügen empfand, von seinen Sarkasmen nicht verwundet wurde und seine Reden, Taten oder Meinungen nicht ängstlich analysierte, bei der er sich besonders wohl fühlte und daher besonders gern mit ihr verkehrte. Unter solchen Charakteren fühlte er sich als Herr. Weil sie sich seinem Einfluss wie von selbst unterwarfen, sein Übergewicht nie anerkannten, da sie nie darüber nachdachten, waren sie vortrefflich zu behandeln, ohne doch die geringste Gefahr zu laufen, unterwürfig zu werden, und ihre unbedachte, flüchtige, kunstlose Unempfindlichkeit war ebenso angenehm für Mr. Yorke, weil sie ebenso bequem für ihn war, wie die des Stuhls, auf welchem er saß, und der Diele, aus der er trat.

Man wird bemerkt haben, dass er sich gegen Mr. Moore herzlich zeigte, aber er hatte zwei bis drei Ursachen, eine kleine Vorliebe für diesen Gentleman zu hegen. So sonderbar es auch klingen mag, war doch die erste derselben, dass Moore Englisch mit einem fremden und Französisch mit einem vollkommen reinen Akzent sprach, und dass sein dunkles, mageres Gesicht mit seinen feinen, obgleich etwas verlebten Linien ein sehr antibritisches und anti-yorkshirisches Aussehen hatte. Diese Punkte scheinen kleinlich und fast unfähig, auf einen Charakter wie den Yorkes einen Einfluss auszuüben; doch sie riefen in ihm alte, vielleicht freundliche Erinnerungen an seine Reisen und an seine Jugend hervor. Er hatte in italienischen Städten und Gegenden Gesichter wie das von Moore gesehen. Er hatte in Pariser Cafés und Theatern Stimmen gleich der seinen gehört. Er war damals jung, und wenn er den Fremden sah und hörte, schien er es wieder zu werden.

Zweitens hatte er Moores Vater gekannt und mit ihm zu tun gehabt. Dies war ein substantielleres, aber keineswegs angenehmeres Band, denn da seine Firma mit der Moores Geschäfte getätigt hatte, war er auch gewissermaßen in dessen Verlust verwickelt worden.

Drittens hatte er in Robert einen tüchtigen Geschäftsmann gefunden. Er sah Grund voraus, anzunehmen, dass er durch diese oder jene Mittel endlich zu Vermögen kommen werde, und er ehrte sowohl seine Entschlossenheit, als auch seinen Scharfblick, vielleicht auch seine Strenge. Ein vierter Umstand, der sie zueinander zog, war, dass Mr. Yorke einer der Vormünder der Minderjährigen war, auf deren Gut Hollow’s Mill lag, folglich hatte Moore im Verkehr wegen Veränderungen und Verbesserungen oftmals Gelegenheit, ihn um Rat zu fragen.

Was den zweiten, jetzt im Salon von Mr. Yorke gegenwärtigen Gast betraf, so existierte zwischen diesem und seinem Wirt eine doppelte Antipathie, die der Natur und die der Umstände. Der Freidenker hasste den Formalisten, der Freund der Freiheit verabscheute den Verehrer der Disziplin. Überdies hieß es auch noch, dass sie in früherer Zeit Nebenbuhler bei derselben Dame gewesen seien.

Mr. Yorke war als junger Mann vor allem wegen seiner Vorliebe für aufgeweckte und muntere Frauen bekannt gewesen. Ein auffallendes Äußeres und Benehmen, ein wahrhafter Witz und eine beredte Zunge schienen ihn besonders anzuziehen. Doch machte er keiner von all diesen glänzenden Schönen, deren Gesellschaft er suchte, ernsthafte Anträge und fiel auf einmal in ernsthafte Liebe und eifrige Werbung für ein Mädchen, das der vollständige Kontrast von allen denen war, die er bis jetzt bemerkt hatte, ein Mädchen mit einem Madonnengesicht, ein Mädchen wie lebender Marmor, die personifizierte Stille. Es tat nichts, dass, wenn er mit ihr sprach, sie bloß mit einzelnen Silben antwortete; nichts, dass seine Seufzer ungehört schienen, dass seine Blicke nicht erwidert wurden, dass sie nie auf seine Ansichten einging, selten bei seinen Scherzen lachte, ihm keine Achtung und Aufmerksamkeit zeigte; nichts, dass sie das Entgegengesetzte von allem Weiblichen schien, von dem man wusste, dass er es je in seinem Leben bewundert habe. Für ihn war an Mary Cave alles vollkommen, weil er sie aus irgendeinem Grund – denn er hatte zweifellos einen Grund – liebte.

Mr. Helstone, der damals Hilfsgeistlicher von Briarfield war, liebte Mary auch – oder bewarb sich wenigstens um sie. Verschiedene andere bewunderten sie, denn sie war schön wie ein Engel auf einem Denkmal, aber der Geistliche wurde wegen seines Amtes vorgezogen, weil dieses Amt ihn wahrscheinlich mit einer Art von Talmi-Glanz umgab, der beim Fortschreiten zu einer Heirat notwendig war, und den Miss Cave bei keinem der übrigen Wollhändler, ihren Anbetern, vorfand. Mr. Helstone besaß weder Mr. Yorkes verzehrende Leidenschaft für sie, noch gab er vor, sie zu besitzen. Er zeigte nicht die demütige Verehrung, welche die meisten ihrer Anbeter zu unterjochen schien. Anders als die Übrigen sah er sie eher so, wie sie wirklich war, und war folglich mehr Herr über sie und sich selbst. Sie nahm ihn auf sein erstes Ansuchen an, und sie wurden vermählt.

Die Natur hatte nie die Absicht gehabt, aus Mr. Helstone einen guten Ehemann, besonders für eine sanfte Frau, zu machen. Er glaubte, solange eine Frau still sei, verlangte sie nichts und ihr fehle nichts. Wenn sie sich nicht über Einsamkeit beklagte, konnte die Einsamkeit, so sehr sie auch andauerte, ihr nicht unangenehm sein. Wenn sie nicht sprach und sich vordrängte, eine Vorliebe für dieses und eine Abneigung gegen jenes ausdrückte, besaß sie weder Vorliebe noch Abneigung, und es war unnötig, ihren Geschmack zu befragen. Er erhob keinen Anspruch darauf, Frauen zu verstehen oder sie mit Männern zu vergleichen.

Sie gehörten in eine verschiedene, wahrscheinlich geringere Ordnung der Existenzen. Eine Frau konnte nicht ihres Mannes Gefährtin, noch weniger seine Vertraute, am wenigsten seine Stütze sein. Seine Frau war nach ein bis zwei Jahren in keiner Weise für ihn von großer Wichtigkeit und als sie eines Tages von ihm und dem Leben Abschied nahm, plötzlich, wie er glaubte – denn er hatte ihr Kränkerwerden fast gar nicht bemerkt, – wie andere jedoch glaubten, nach und nach, und in dem Ehebett nur noch eine immer noch schön gebildete Form aus Staub lag, aber kalt und weiß: so fühlte er sein Beraubtsein – wer mag sagen, wie wenig? Aber doch vielleicht mehr, als er es zu bemerken schien, denn er war kein Mann, dem das Leid leicht Tränen abpresste.

Seine trockenen Augen und seine einfache Trauer skandalisierten einen alten Verehrer und ebenso auch eine weibliche Dienerin, die Mrs. Helstone in ihrer Krankheit beigestanden und dabei vielleicht die Gelegenheit gehabt hatte, mehr von dem Wesen der verstorbenen Frau und ihrer Fähigkeit, zu fühlen und zu lieben, kennenzulernen, als deren Gatte selbst. Sie plauderten zusammen über die Verstorbene, erzählten Anekdoten mit Ausschmückungen wegen ihrer auszehrenden Krankheit und deren wahrer oder vermeintlicher Ursache, kurz, sie reizten einander gegenseitig zum Unwillen gegen den harten, kleinen Mann auf, der in einem benachbarten Zimmer über Papieren saß und nicht wusste, welcher Vorwürfe Gegenstand er war.

Mrs. Helstone war kaum unter der Erde, als sich in der Nachbarschaft das Gerücht verbreitete, sie sei an gebrochenem Herzen gestorben. Dieses steigerte sich schnell zu Mitteilungen über unfreundlichen Umgang und endlich über Einzelheiten der harten Behandlung ihres Mannes – Mitteilungen, die völlig unwahr, aber darum nicht minder eifrig aufgenommen wurden. Mr. Yorke vernahm sie auch und glaubte ihnen zum Teil. Schon vorher war er seinem glücklichen Nebenbuhler nicht freundlich gesinnt gewesen. Obgleich er jetzt selbst verheiratet und mit einer Frau verbunden war, die in allen Beziehungen das genaue Gegenteil von Mary Carve war, konnte er doch diese große, fehlgeschlagene Hoffnung seines Lebens nicht vergessen, und als er hörte, dass das, was für ihn so kostbar gewesen war, von einem anderen vernachlässigt, vielleicht sogar missbraucht worden war, entstand in ihm gegen diesen anderen ein tiefer und bitterer Widerwille.

Die Beschaffenheit und Größe dieses Widerwillens kannte Mr. Helstone nur zur Hälfte. Er wusste weder, wie sehr Yorke Mary Carve geliebt hatte und was er bei deren Verlust gefühlt hatte, noch kannte er die Verleumdungen in Bezug auf seine Behandlung gegen sie, die jedermann in der Nachbarschaft vertraut waren, nur nicht ihm. Er glaubte, nur politische und religiöse Verschiedenheiten trennten ihn und Mr. Yorke. Hätte er gewusst, wie die Sache wirklich stand, würde er schwerlich durch irgendein Zureden dazu gebracht worden sein, die Schwelle seines ehemaligen Nebenbuhlers zu überschreiten.

*

Mr. Yorke setzte seinen Vortrag an Robert Moore nicht weiter fort. Die Unterhaltung drehte sich bald wieder um allgemeinere Themen, doch noch immer in etwas streitbaren Ton. Der unruhige Zustand des Landes und die verschiedenen, vor Kurzem an Fabrikeigentum verübten Plünderungen boten hinreichenden Stoff zu Meinungsverschiedenheiten, da jeder der drei Anwesenden andere Ansichten über diese Themen hatte. Mr. Helstone betrachtete die Fabrikbesitzer als geschädigte Opfer und hielt die Arbeiter für unvernünftig. Er verurteilte heftig den weitverbreiteten Geist des Hasses gegen die gesetzmäßigen Obrigkeiten, die anwachsende Abneigung, Übel, die er für unvermeidlich hielt, geduldig zu ertragen. Die Heilmittel aber, die er verschrieb, waren kräftiges Einmischen der Regierung, genaue Überwachung seitens der Obrigkeit und, wo nötig, schnelle militärische Maßnahmen.

Mr. Yorke wünschte zu wissen, ob diese Einmischung, Überwachung und Hilfe diejenigen nähren könne, welche hungerten, und denen Arbeit gebe, denen sie fehle und die kein Mensch einstellen wolle. Er leugnete die Idee unvermeidlicher Übel; er sagte, öffentliche Geduld sei ein Kamel, auf dessen Rücken bereits das letzte Bisschen, das es tragen könne, gelegt worden sei und Widerstand folglich zur Pflicht werde. Er betrachtete den weitverbreiteten Geist der Abneigung gegen die öffentlichen Behörden als das vielversprechende Zeichen der Zeit. Er gestand zu, dass die Besitzenden allerdings sehr benachteiligt wären, ihre Hauptlasten seien aber auf sie durch eine »verdorbene, schlechte und blutige« Regierung (dies waren Mr. Yorkes Worte) gehäuft worden. Tollköpfe wie Pitt, Dämonen wie Castlereagh, erbärmliche Idioten wie Perceval wären die Tyrannen, der Fluch, die Verderber ihres Handels. Ihre törichte Beharrlichkeit in einem nicht zu rechtfertigenden, hoffnungslosen, zugrunde richtenden Krieg habe die Nation zu dem gegenwärtigen Schritt geführt. Ihre ungeheuren, erdrückenden Steuern, die schändlichen Kabinettsbefehle, deren Verursacher in den Anklagestand und aufs Schafott gebracht zu werden verdienten, seien es, die wie ein Mühlstein an Englands Nacken hingen.

»Aber wozu«, fragte er dann, »half nun das Recht, zu sprechen? Welche Hoffnung gab es, dass Vernunft gehört werde in einem Land, das von Königen, Priestern und Adel tyrannisiert werde, wo ein Verrückter dem Namen nach Monarch, ein sittenloser Schwelger der wahre Regent, wo eine solche Beleidigung gegen den gesunden Menschenverstand wie erbliche Gesetzgeber geduldet, wo eine solche Narrheit wie eine Bischofsbank, ein solch anmaßender Missbrauch wie eine gemästete, verfolgungswütige Staatskirche erlaubt und verehrt, wo ein stehendes Heer erhalten und eine Schar fauler Priester und ihre armen Familien vom Fett des Landes ernährt werde?«

Mr. Helstone stand auf und antwortete, indem er seinen Schaufelhut aufsetzte, wiederum: Im Laufe seines Lebens seien ihm zwei bis drei Beispiele vorgekommen, wo Ansichten dieser Art so lange tapfer behauptet worden seien, wie Gesundheit, Kraft und weltlicher Wohlstand die Mitverschwörer dessen gewesen wären, der sich zu ihnen bekannt hätte; es komme aber eine Zeit für alle, »in der die Hüter des Hauses zittern müssen, in der sie schaudern müssen vor dem, was oben, und Furcht sein muss auf ihrem Weg«7, und diese Zeit sei der Prüfstein der Advokaten der Anarchie und der Rebellion, der Feinde der Religion und der Ordnung. Vor Kurzem sei er an das elende Sterbebett eines der wütendsten Feinde unserer Kirche gerufen worden, um jene Gebete zu lesen, welche diese für die Kranken verordnet hatte. Hier habe er einen Mann siechen sehen, der, von Gewissensbissen gemartert, flehentlich nach einer Möglichkeit gesucht hatte, Buße tun zu können, und doch unfähig war, dies zu tun, obgleich er angstvoll und unter Tränen danach verlangt hatte. Er müsse Mr. Yorke warnen, dass Lästerung gegen Gott und den König eine Todsünde sei und dass es noch so etwas wie das jüngste Gericht gebe.

Mr. Yorke glaubte vollkommen, dass es so etwas wie das Jüngste Gericht gebe. Wäre es anders, würde man sich schwerlich vorstellen können, wie alle die Schurken, die in dieser Welt zu triumphieren schienen, ungestraft schuldlose Herzen brächen, unverdiente Vorrechte missbrauchten, ein Skandal für jeden ehrwürdigen Beruf wären, dem Armen das Brot vom Munde wegnähmen, den Niederen trotzten und vor Reichen und Stolzen kröchen, ihren Lohn nicht in der Münze, wie sie es verdienten, ausgezahlt erhalten sollten. Doch, setzte er hinzu, wenn er einmal über solche Vorgänge und deren anscheinend glückliche Erfolge auf diesem elenden Brocken von einem Planeten recht niedergedrückt gewesen war, habe er sich jenes alte Buch herbeigeholt (und damit zeigte er auf eine große Bibel im Schrank), es an einer beliebigen Stelle aufgeschlagen und mit Sicherheit einen Vers gefunden, der ihm alles ins rechte Licht gesetzt habe. Er wisse, was jedes Menschen Pflicht sei, ebenso gut, »als ob ein Engel mit großen weißen Flügeln über seine Türschwelle gekommen sei und es ihm gesagt habe«.

»Sir«, sagte Mr. Helstone und nahm all seine Würde zusammen, »Sir, die größte Kenntnis des Menschen ist, sich selbst zu kennen und die Grenze, wohin seine eigenen Füße schreiten.«

»Mr. Helstone, Sie werden sich selbst noch erinnern, dass Unwissenheit von den Pforten des Himmels fortgetrieben, durch die Luft getragen und in eine Tür an der Seite des Hügels, wo der Weg zur Hölle hinabgeht, gestoßen wurde.«

»Genauso sehr, wie ich nicht vergessen habe, Mr. Yorke, dass eitles Selbstvertrauen, das den Weg vor sich nicht sieht, in einen tiefen Abgrund fällt, der von dem Fürsten der Tiefe absichtlich dort gegraben wurde, um eitle prahlerische Toren dort zu fangen, dass sie in ihrem Fall mit ihm zerschmettert werden.«

Hier aber fiel Mr. Moore ein, der bisher als ein stummer, aber unterhaltener Zuhörer dieses Wortgefechts dagesessen hatte und dessen Gleichgültigkeit gegen das politische Parteigeschwätz des Tages sowie gegen die Klatschereien der Nachbarschaft ihn zu einem unparteiischen, wenn auch teilnahmslosen Richter der Verdienste eines solchen Streites gemacht hatte, und rief: »Sie haben sich nun beide genug gestritten und bewiesen, wie gründlich Sie einander hassen und wie gering Sie voneinander denken. Was mich betrifft, so ist mein Hass gegen die Schurken, die meine Maschinen zerstört haben, noch so vorherrschend, dass ich keinen für meine Privatbekanntschaft und noch weniger für so etwas unbestimmtes, wie eine Konfession oder Regierung, übrig habe. Doch in der Tat, Gentlemen, scheinen Sie mir alle beide, wie Sie sich so zeigen, sehr böse und noch viel schlimmer zu sein, als ich es je von Ihnen glaubte. Ich wage es nicht die ganze Nacht mit einem Rebellen und Gotteslästerer zu verbringen, wie Sie, Yorke, und auch ebenso ungern mit einem grausamen und tyrannischen Geistlichen nach Hause reiten, wie Sie, Mr. Helstone.«

»Und doch gehe ich, Mr. Moore«, sagte der Pfarrer ernst. »Kommen Sie mit mir oder nicht, ganz nach Belieben.«

»Nein, er soll keine Wahl haben, er muss mit Ihnen gehen«, versetzte Yorke. »Mitternacht ist vorüber und ich dulde niemanden länger in meinem Haus. Sie müssen alle fort!« Und damit läutete er.

»Tobias«, sagte er zu dem eintretenden Diener, »leuchte den Leuten aus der Küche, schließe die Türen und geh zu Bett. Da hinaus, Gentlemen!« fuhr er zu seinen Gästen gewandt fort und leuchtete ihnen durch den Gang, wo er sie dann höflich zum Haupttor hinausschob.

Sie trafen ihre Leute, die von der Rückseite des Hauses gelaufen kamen. Ihre Pferde standen am Tor. Sie stiegen auf und ritten fort. Moore lachte über ihre schnelle Abfertigung, Helstone war darüber sehr empört.

Shirley (Deutsche Ausgabe)

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