Читать книгу Beirut für wilde Mädchen - Chaza Charafeddine - Страница 10
ОглавлениеIrgendwo am Meer stand die Großmutter. Sie lächelte und schien sich über die Ankunft der Enkelinnen zu freuen. Das Mädchen mochte seine Großmutter sehr. Die Schwester spielte mit ihrer Puppe mit dem brustlangen schwarzen Haar und dem lächelnden Mund. Das Mädchen dachte an den Mann mit dem schwarzen Gesicht, der ihm noch immer des Nachts im Traum erschien und Geschichten erzählte. Die erzählte es wiederum seiner blondhaarigen Puppe weiter, die auf dem Tischchen neben dem Bett thronte. Das Mädchen ging nicht gern zur Schule, aber die große Schwester zerrte es an der Hand: »Komm mit, sonst ärgert sich unsere Mutter.« Sie ging mit, aber nicht wegen der Mutter dort in der afrikanischen Ferne, sondern ihrer traurigen Schwester zuliebe.
Niemand in der Schule hatte je von dem schwarzen Mann gehört. Der Nonne wuchsen Haare am Kinn, und das Gesicht der Lehrerin war wie aus Blei. Die Schwester lernte emsig, das Mädchen lernte überhaupt nicht. Es beobachtete die Schwester und fragte sich immerzu, warum sie bloß so fleißig war.
Das schwarze Haar der Schwester war mittlerweile so lang wie das ihrer Puppe. Sie war eine Schönheit. Das Mädchen dagegen bekam Spitznamen, die ihre Pfunde aufs Korn nahmen, und es war darüber sehr unglücklich. Was konnte es schon tun? Es liebte nun mal Süßigkeiten und verschlang so viele, dass es schien, als suchte es darin etwas, das ihm verloren gegangen war. Es ernährte sich von Süßem, vielleicht um sicherzugehen, dass sein Körper ihm nicht abhandenkomme. Der mit Süßem angefüllte Körper war seiner.
Die Großmutter verwöhnte die Kleine. Alle liebten sie und überhäuften sie mit Küssen. »Man könnte die Kleine ungesalzen auffressen!«, sagten sie. Das Mädchen hasste die Küsserei, besonders die von Großmutters unersättlichen Freundinnen, die ihm ständig ihre Lippen auf die Wange pressten. Es reichte schon, dass es die Stimme einer von ihnen hörte, schon musste es an nasse Küsse und Nasen denken, die ihm den Geruch aus dem Gesicht saugten. Das Mädchen verstand einfach nicht, warum sie es auffressen wollten.
Sie fuhren mit dem Auto am Meeresufer entlang, die Luft wehte dem Mädchen über das Gesicht und durch die Haare. Es war heiter und vergnügt. Es nahm die goldenen Ohrringe ab, die man ihm vor einigen Tagen in die Ohren gestochen hatte. Sie hatten die Form von Weinblättern und waren angeblich aus dem Irak. Außerdem hatte man ihm einen weiß emaillierten Armreif übergestreift. Das Mädchen warf die Ohrringe aus dem Autofenster und blickte zur Großmutter, dann zum Großvater, dann zur Schwester. Keiner hatte mitbekommen, dass es den teuren Schmuck weggeworfen hatte.