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Mademoiselle Najwa

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Die Laune von Mademoiselle Najwa, unserer Klassenlehrerin, bei der wir Französisch hatten, war schwer einzuschätzen. Immer schien sie kurz davor, uns anzuschreien. Als zu Beginn des Schuljahres der Amtsarzt kam, um mit uns einen Sehtest durchzuführen, geschah etwas, das Mademoiselle gegen mich aufbrachte. Der Arzt hatte eine weiße Tafel bei sich, auf der in Schwarz die Buchstaben des lateinischen Alphabets in unterschiedlicher Größe standen. Als ich an der Reihe war, las ich sie nacheinander vor, doch beim Buchstaben Q angelangt, schämte ich mich, ihn vor dem Arzt auszusprechen. Denn das »Q« wird im Französischen genauso ausgesprochen wie das Wort cul, und ein paar Tage zuvor hatte ich von Faten El-Zein im Bus erfahren, dass dieses Wort den menschlichen Hintern bezeichnet. Als der Arzt nicht lockerließ und mich aufforderte, den Buchstaben auszusprechen, las ich stattdessen »qö« (was wiederum so klang wie das französische queue, also »Schwanz«). Daraufhin zerrte mich Mademoiselle Najwa aus dem Untersuchungsraum und schimpfte mich im Korridor mit bebendem Zeigefinger, ich sei eine stinkfaule Schülerin!

Am folgenden Tag kam sie ebenfalls mit einer Alphabettafel in die Klasse und trichterte uns ein: Q, Q, Q, Q (was klang wie cul, cul, cul), bis ihr weißer Schaum aus den Mundwinkeln tropfte. Ich sah, wie ein paar Spritzer auf den Wangen einer Schülerin in den vorderen Reihen landeten. Dann hieß sie mich an meinem Pult aufstehen und das französische Q mehrmals laut vor der Klasse aussprechen. Hitze stieg in mir hoch, breitete sich über meine Brust, meinen Kopf, meine Ohren und meine Zunge bis in meine Wangen aus, während ich tat wie geheißen und es peinlich vermied, zu meiner Mitschülerin Faten zu blicken, die mir das ganze Unglück eingebrockt hatte.

Und als wäre der Strafe noch nicht genug, hielt mich Mademoiselle Najwa beim Verlassen des Klassenzimmers zurück und gab mir einen Brief mit, den ich bitteschön meinem Vater vorlegen solle.

Mein Vater begab sich am folgenden Tag in die Schule, allerdings bekam ich ihn nicht zu Gesicht, und die Lehrerin erwähnte mir gegenüber auch nicht, dass er da gewesen war. Erst als ich nach Hause kam, erfuhr ich davon. Seine Bestrafung hinterließ Striemen auf meinem Schenkel, und obendrein erhielt ich eine volle Woche Fernsehverbot. Zwar sagte mein Vater nichts dazu, dass ich schon nach zwei Tagen wieder fernsah, aber ich war von nun an darauf bedacht, ja nicht mehr Mademoiselle Najwas Aufmerksamkeit auf mich zu ziehen. Immer wenn ich sie sah, blitzte vor meinem inneren Auge das Wort cul auf.

Es verging nicht viel Zeit, bis sie mir einen weiteren Brief für den Vater mitgab, den ich ihm diesmal aber nicht aushändigte. Und als Mademoiselle Nawja mich zwei Tage später fragte, ob mein Vater den Brief denn auch bekommen hätte, behauptete ich, er habe überraschend verreisen müssen und könne deshalb nicht kommen. Von da an gab sie mir einen Brief nach dem anderen mit, und immer wieder fielen mir Gründe und Ausreden ein, weshalb mein Vater nicht kommen konnte: »Ganz sicher kommt er nächste Woche«, »Er hat sich das Bein gebrochen«, »Sein Auto ist kaputt«, »Meine Mutter hat ein Kind bekommen«, »Mein Großvater ist gestorben« und so weiter.

Als ich Faten eines Tages von all den unterschlagenen Briefen berichtete, warnte sie mich. Was denn wäre, wenn Mademoiselle Najwa auf die Idee käme, bei meinem Vater anzurufen, um ihn zu fragen, ob er die Briefe bekommen habe. Wir müssen eine Lösung finden, meinte sie, und schlug vor, die Briefe zu öffnen und ihren Inhalt zu verändern und sie erst dann meinem Vater zu übergeben.

Faten war viel erfahrener als ich. Hatte sie nicht schon einmal de Gaulle persönlich die Hand geschüttelt? Das hatte sie mir erzählt, als die Obernonne der Schule, Mère Marie Madeleine, uns vor dem Betreten der Klassenräume voller Trauer und Schmerz die Nachricht seines Todes überbrachte. Alle sprachen damals von de Gaulle, und mir schien, er sei nicht nur der Präsident Frankreichs, sondern auch des Libanons und somit auch der Präsident aller Nonnen und eigentlich von uns allen, und folglich war es für uns höchste Pflicht, um ihn zu trauern.

Beim Murmelspiel im Sandkasten hatte Faten mir erzählt, dass sie de Gaulle die Hand gegeben habe, als er einmal aus irgendeinem wichtigen Anlass unsere Schule besucht hatte. Er habe sie nach dem Handschlag sogar mit freundlichen Worten in die Wange gekniffen. Ich bedauerte, ihn damals nicht gesehen zu haben. Und auch, dass Faten immer mehr Glück hatte als ich, obgleich ich der Überzeugung war, dass der Verstorbene ein Freund meines Großvaters gewesen war. Der war nämlich Politiker und hatte viele Freunde, ganz im Gegensatz zu Fatens Opa, der immer nur in seinem Dorf hockte.

Jedenfalls öffneten wir den letzten Brief, verstanden aber beide nicht, was da geschrieben stand.

Nur der hocharabische Ausdruck farigh as-sabr (»mit der Geduld am Ende«) machte uns stutzig. Wir wussten, das farigh »leer« bedeutet, das hatten wir erst wenige Tage zuvor gelernt, aber in Verbindung mit dem Wort sabr, das sowohl für »Geduld« als auch für »Kaktusfeigen« stehen kann, ergab es für uns keinen rechten Sinn.

Wir waren ratlos. Wie sollten wir einen Brief inhaltlich abändern, dessen Bedeutung uns gar nicht klar war? So beschlossen wir, selbst einen Brief zu verfassen, und Faten schlug vor, ihren großen Bruder Fadi, der auf die Frères-Schule ging, darum zu bitten, einen solchen zu schreiben, damit wir nicht Gefahr liefen, durch unsere Handschrift aufzufliegen. Am nächsten Tag kam Faten mit einem von ihrem Bruder verfassten Brief, in dem in etwa stand, mein Vater solle mir doch bitte fünf Lira für eine Klassenfahrt ins Yasua-al-Malik-Kloster geben. Fadi ließ mir mitteilen, ich solle ihm von den fünf Lira etwas abgeben, falls mein Vater das Geld rausrückte.

Aber bevor ich den Brief zu Hause abgab, wollte ich erst einmal vorfühlen und sagte daher zu meiner Mutter, dass alle Schülerinnen meiner Klasse in der kommenden Woche fünf Lira mitbringen müssten, weil wir eine Klassenfahrt nach Yasua al-Malik machten. Verwundert sah meine Mutter mich an und bemerkte, dass wir doch erst im letzten Monat dort gewesen seien. »Wieso veranstalten die bei euch jeden zweiten Tag einen Ausflug?«, meinte sie und ließ mich dieses Mal nicht teilnehmen. Ich musste mir also etwas anderes einfallen lassen und ich beschloss, den Brief doch nicht meinem Vater zu übergeben und stattdessen weiterhin Mademoiselle Najwa anzulügen.

Als ich Mademoiselle Najwa am nächsten Morgen in die Schule kommen sah, tat ich rasch so, als würde ich etwas lesen, damit sie ja nicht zu mir käme und wieder mit den Briefen anfing. Aber die Frau Lehrerin interessierte sich nicht für meine vertiefte Lektüre und fragte mich unvermittelt, ob denn mein Vater noch immer nicht zurück sei von seiner Reise. Ich sagte, nein, das ist er nicht. Ob ich ihm den letzten Brief gegeben hätte? Ja, das habe ich, log ich. Und, kommt er bald in die Sprechstunde? Momentan ist er sehr beschäftigt, war meine Antwort. »Na gut!«, sagte sie mit spitzen Lippen und fügte dann mit weit offenem Mund hinzu, sodass ich das Weiße auf ihrer Zunge sehen konnte: »Lies nur schön weiter. Wir werden ja sehen, ob dir das bei der Abschlussklausur etwas nützt!« Und damit gab sie mir einen weißen Umschlag mit dem Hinweis, dass dies jetzt der letzte Brief sei. Als ich ihn zusammen mit Faten öffnete, lasen wir: »Ich erwarte dich am Donnerstag um 17 Uhr im Arlequin. Najwa.« Faten und ich wussten, dass das Arlequin ein Café war, aber wir begriffen nicht, warum sie ihn ausgerechnet dort treffen wollte. Es hatte noch nie eine Klassenfahrt dorthin gegeben. Faten meinte, diesmal würde die Sache bestimmt auffliegen. Denn was wäre, wenn Mademoiselle Najwa dort auf meinen Vater wartete und er nicht käme?

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