Читать книгу Beirut für wilde Mädchen - Chaza Charafeddine - Страница 15
Mein Vater
ОглавлениеAls mein Vater eines Tages in die Schule kam, um sich mein Vorspiel bei einem Klavierwettbewerb anzuhören, und wir noch darauf warteten, dass Sœur Marie uns ins Vorspielzimmer bat, belauschte ich zufällig ein Gespräch, das mir einiges über Frauen verriet. Mademoiselle Georgette, die blonde Arabisch-Lehrerin, die immer grell geschminkt in die Schule kam, unterhielt sich flüsternd mit Mademoiselle Hiyam, der Aufseherin mit der dicken Brille, im Lehrerinnenzimmer gegenüber dem Vorspielsaal. »Hör mal«, tuschelte Georgette, »jetzt mal ehrlich, ist das nicht ein toller Hecht da draußen? Glücklich, wer den zum Mann hat! Ist seine Frau denn hübsch, weißt du da was?«
Aus irgendeinem Grund ärgerte mich diese Bemerkung so sehr, dass ich versucht war, zu ihnen rüberzugehen und ihnen zu bestätigen, dass meine Mutter tatsächlich hübsch sei. Aber ich schwieg aus Angst vor der Strafe, die mir unweigerlich blühte, wenn die beiden Damen mitbekämen, dass ich sie belauscht hatte. Ich schaute zu meinem Vater, aber der blickte nur verdrossen auf die Uhr.
An diesem Tag begriff ich, dass seine Schönheit auf seine Umgebung ausstrahlte, und ich begann auf die Gesichter der Nonnen und der Lehrerinnen zu achten, sobald mein Vater aus irgendeinem Anlass die Schule betrat. Und tatsächlich: Ihre Wangen wurden rosig, ihre Mienen waren zuerst steif, dann entspannt und weich. Und wenn mein Vater etwas Nettes zu den Lehrerinnen sagte, geriet so manche von ihnen in Verlegenheit oder entkrampfte sich. Welch Gegensatz zu ihren sonst immer sauertöpfischen Gesichtern! Mademoiselle Najwa dagegen sprach in Gegenwart meines Vaters fast stotternd und mit einer ungewohnt dünnen Stimme. Zwischenrein lächelte sie gezwungen und schaffte es trotzdem, einen friedlichen und sanften Gesichtsausdruck aufzusetzen, während ihr Blick hektisch zwischen Fenster, der Weste meines Vaters, seinen Händen, seinen Ohren, seiner Mundhöhle, seinen Haaren, seinem Hemdausschnitt hin und her zuckte. Obendrein wirkten ihre Augen müde und glänzten auf ungewohnte Weise. Mir schien, als sei sie im Begriff, gleich umzukippen.
Aber leider ging das nicht lange so. Als mein Vater Ende des Schuljahres kam, um zu erfragen, warum ich denn durchgefallen sei, antwortete Mademoiselle Najwa spitz, mit Anspannung in der Stimme, obwohl er sehr nett mit ihr gesprochen und dabei das große braune Muttermal an ihrem unteren Nasenrand ebenso wie ihre abscheuliche Miene ignoriert hatte. Sie sagte, mein Vater müsse mich für das Sitzenbleiben bestrafen, und zwar durch Streichen meiner Klavierstunden — für das ganze kommende Schuljahr. Meine Klavierstunden! Warum denn ausgerechnet die? Warum verbot sie mir stattdessen nicht die Teilnahme an der Schulabschlussfeier, die ich immer so widerwärtig fand, dass ich gar nicht mehr klar denken konnte? Oder die Teilnahme an einem Ausflug nach Harisa zur gigantischen Marienstatue, wo unser einziger Zeitvertreib darin bestand, Ketten mit Ikonenbildern zu kaufen und sie uns um den Hals zu hängen? Ich war zwar kein Genie am Klavier, aber die Klavierstunden in der Schule waren die einzigen, während derer ich nicht nachdenken musste, was sich wohl hinter den Glasscheiben, die über allen Türen in der Schule angebracht waren, verbarg. Warum die Klavierstunden, Mademoiselle Najwa?
Mein Vater bestrafte mich tatsächlich mit der Streichung des Klavierunterrichts, obwohl meine Mutter es gerade erst geschafft hatte, ihn zum Kauf eines Klaviers zu überreden. Das Klavier sollte auch geliefert werden, sofern ich das kommende Schuljahr bestünde, hieß es.
Ich glaube, ich wäre noch ein weiteres Mal durchgefallen, hätten wir nicht im Laufe des darauffolgenden Jahres die Schule gewechselt. Von den letzten Monaten an der Notre-Dame-du-Liban-Schule habe ich nur noch explodierende Granaten in Erinnerung und das Chaos, das daraufhin ausbrach, und wie wir das Schulgebäude und dann die ganze Stadt verließen. Und so vergaßen wir das Klavierspiel, mein Vater und ich.