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Beirut 1970–1975

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Noch bevor es richtig hell ist, stehen die vier Geschwister auf dem Trottoir vor ihrem Haus und warten auf Monsieur Halim, den Fahrer mit seinem rot-weiß gestreiften Schulbus, der sie zur Notre-Dame-du-Liban-Schule bringen soll. Er kurvt durch die Nebenstraßen des Stadtteils Shayyah und sammelt andere Kinder ein, die ebenfalls auf dem Gehsteig warten. Schwerfällig steigen die Schüler ein und lassen sich auf einen freien Platz fallen, ohne Monsieur Halim auch nur einmal dankbar oder freundlich zuzunicken. Das Geruckel des Busses und die morgendliche Stille machen mich und meine Geschwister schläfrig. Von Zeit zu Zeit gucke ich aus dem Fenster, aber da ist nichts als graublauer Himmel. Streckenweise sind nicht einmal Autos, Gebäude, Bäume zu sehen. Die Straßenbeleuchtung brennt noch.

Als es heller wird, kommen wir in Ashrafiye vor dem riesigen Schulgebäude an. Ich steige aus dem Bus, stelle meine Tasche ab, setze mich trotz Kälte erst einmal auf die Treppe am Schuleingang und warte darauf, dass wir in die Klassen gerufen werden. Dabei beobachte ich Fadia, die wie jeden Tag Zwiesprache mit einer weißen Statue auf dem hellen Fels vor der Schulkapelle gegenüber hält.

Mit gefalteten Händen steht sie vor der Skulptur, hebt und senkt abwechselnd den Kopf, als würde sie eine Geschichte oder ein Erlebnis erzählen. Dann deutet sie auf mehrere Stellen ihres Körpers und beendet das Gespräch, wobei sie die Füße der Statue berührt. Schließlich führt sie die Hand, mit der sie die Berührung vollzogen hat, an den Mund.

Mir scheint, als schlucke sie etwas hinunter, das aus der Statue hervorgekommen ist. Danach betritt sie gesenkten Kopfs die Kapelle.

Eines Tages lief ich Fadia hinterher. Die Dunkelheit in der Kapelle und die weihrauchgeschwängerte Stille bemächtigten sich meiner Sinne. Zunächst war kaum etwas zu erkennen, nie zuvor hatte ich eine so vollkommene Geräuschlosigkeit erlebt. Ich lief durch die Bankreihen. An den Wänden zu beiden Seiten hingen zahllose Bilder von Frauen, Greisen und Kindern, die um irgendetwas bittend die Hände hoben. Manche hoben sie in Richtung des Hauptes eines alten Mannes mit weißem Rauschebart, der im Himmel zu hängen schien. Einer hatte ein Buch unter der Achsel, ein anderer umarmte ein Lamm, um sie herum kreisten weiße Flügelwesen. Ihre Körper waren die von Kindern, aber ihre Gesichter die von alten Menschen. Ich konnte nicht erraten, ob es gute oder böse Wesen waren. Die Stille war erdrückend, aber die Farben der Bilder strahlten Wärme aus. In einer Ecke erblickte ich das buntbemalte Standbild einer Frau, die ein Kind auf den Armen trägt. Um sie herum brannten kleine Kerzen.

Ich suchte Fadia und fand sie unter dem Bildnis eines Mannes mit blauen Augen und rosa Lippen knien, der nach oben blickte — wohin, gab das Bild nicht preis. Der Mann hatte langes blondes Haar, das im blauen Hintergrund des Gemäldes — offenbar der Himmel — auslief. Wegen der Farbigkeit des Bildes fragte ich mich, ob das wohl ein wahrhaftiges Abbild von Jesus Christus war.

Als Fadia vor dem Altar stand, setzte ich mich hinter sie auf eine Holzbank. Ich schloss die Augen und hörte meine Klassenkameradin unverständliche Gebete murmeln. Von Zeit zu Zeit öffnete ich verstohlen ein Auge, weil ich unter keinen Umständen etwas verpassen wollte. Aber ich sah nur den Weihrauch aufsteigen und sich im ganzen Raum ausbreiten. Der scharfe Geruch stieg mir zu Kopf.

Unversehens gerieten die Gestalten um mich herum in Bewegung, als wollten sie das weiterführen, was sie getan hatten, bevor sie auf Gemälden verewigt wurden. Sie begannen, miteinander zu sprechen; es war, als führten sie eine Diskussion. Währenddessen entglitt das kleine Schaf den Händen des bärtigen, schäbig gekleideten Alten und suchte blökend nach Gras. Halbnackte Kinder tollten umher, Gelehrte lasen in Büchern, Geigen erzitterten, Hymnen erklangen, die Himmel taten sich auf … und Frauen stießen Freudentriller aus, Vögelchen flatterten durch die Luft, es herrschte solch ein Lärm und Gewimmel um mich herum, dass ich die Augen nun wirklich öffnen musste. Fadia kam in ihrer gestrengen Art auf mich zu, den Zeigefinger nach oben, in Richtung des Lärms gerichtet: »Die Glocken läuten«, sagte sie.

Es war zehn vor acht — höchste Zeit, ins Klassenzimmer zu gehen.

Ich folgte Fadia. Wieder blieb sie vor der weißen Jesusstatue stehen und deutete auf dieselben Stellen an ihrem Körper wie zuvor, um sich dann schnell zu entfernen. Ich blieb vor der Statue stehen und sah zu ihr auf, als würde ich sie um Erlaubnis für etwas bitten. Die marmornen Augen des Heilands blickten nach unten, seine Lippen waren geschlossen und seine Handflächen waren zum Betrachter hin ausgestreckt, als würde er sagen: Komm herauf zu mir! Ich wusste nicht, was tun. Zaghaft, aus Furcht, von jemandem ertappt zu werden, berührte ich nun meinerseits seine weißen Füße. Die Zehen waren glatt und kalt, und es schien mir überhaupt nicht so, als könne etwas aus der Statue hervorkommen, das sich dann herunterschlucken ließe. Ich küsste allerdings nicht die Hand, mit der ich die Statue berührt hatte, sondern eilte ins Klassenzimmer. Mademoiselle Najwa sollte ja nicht mitbekommen, dass ich spät dran war.

Beirut für wilde Mädchen

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