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Familientreffen

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Der Hengst tänzelte und wölbte seinen Hals. Schaumflocken flogen von dem goldfunkelnden Gebiss. Tolioro schaute missbilligend auf die spärliche Menge Tolorier, die seinen Weg vom Stadttor zum Palast säumten. Ein bisschen begeisterter hätten sie ruhig sein können. War er nicht der Vater des Thronerben?

Vor dem Palast warteten Ehrenwachen. Tolioro sprang lässig vom Pferd und warf einem Bediensteten die Zügel zu. Oben auf der Freitreppe, die zum großen Empfangssaal führte, wartete Königin Mirsken auf ihn, in ein prächtiges, natürlich rostrotes Gewand gekleidet, begleitet von einer handverlesenen Gruppe aus Höflingen und Thronratsmitglieder. Tolioro sah mit Befriedigung, dass auch Graf Chilikit unter ihnen war. Dann konnte ja nichts mehr schiefgehen.

Einen Moment ärgerte er sich, als er die Stufen hinaufschritt. Hatte Mirsken das etwa extra so arrangiert, dass er zu ihr aufsehen musste? Aber nein. Sie war nur eine Frau. Noch dazu eine Frau barbarischer Abstammung. Sie hatte keine Ahnung von solchen Finessen.

Tolioro brauchte genau acht Stufen, bevor ihm auffiel, wie vollkommen still es war. Er betrat die neunte Stufe, als er registrierte, dass neben Mirsken eine Frau stand, die weder zu den Höflingen noch zum Thronrat gehörte und die ganz sicher auch keine Dienerin war.

Auf der zehnten Stufe strauchelte er fast. Er hatte die Frau erkannt. Es war seine Gattin Sirit.

Sirit! Bei allen Göttern, wo kam die denn so plötzlich her? Oder war sie die ganze Zeit in Tolor gewesen und man hatte ihm das verschwiegen? Aber nein, dann hätte Graf Chilikit ihn gewarnt. Wieso hatte der überhaupt versäumt, ihn darauf hinzuweisen? Aber Chilikits Gesicht war verkniffen wie eine Zitrone. Wahrscheinlich war er genauso überrascht worden. Verdammt! Hätte diese Frau nicht noch ein paar Tage länger verschwunden bleiben können? Welche Missgunst des Schicksals hatte ihm Sirit ausgerechnet jetzt wieder in den Weg gestellt?

Mit aller Höflichkeit, die er in den langen Jahren bei seinem Vater Kanata geschult hatte, verbeugte Tolioro sich auf der zwölften und letzten Stufe leicht vor Königin Mirsken. „Es ist mir eine Ehre und Freude, der Großmutter meines Sohnes meine Aufwartung machen zu dürfen“, schnurrte er. „Noch überaus erfreuter bin ich, zu sehen, dass auch meine Gattin im passenden Moment den Weg zu Euch gefunden hat. Wir werden eine Menge zu bereden haben.“

*

Ihr Sohn war nicht mitgekommen. Natürlich nicht. Sirit hatte es auch nicht anders erwartet. Der Junge war Tolioros Lebensversicherung. Und genau deshalb war er im fernen Karapak geblieben, bei seiner karapakischen Großmutter. Sirit war sich nicht sicher, ob sie darüber froh oder traurig sein sollte. Zumindest aber vereinfachte es ihr Leben. Kein Kind, auf das sie Rücksicht nehmen, um das sie sich kümmern musste.

Nur ein Ehegatte.

Und eine Mutter.

War sich ihre Mutter überhaupt darüber im Klaren, wie gefährlich die Lage für sie war? Sirit hatte ihrer Mutter alles erzählt, was ihr in Karapak widerfahren war, jedes einzelne, bittere Detail. Auch das, was danach geschehen war. Nur das Letzte, das missgestaltene Kind, hatte sie verschwiegen.

Königin Mirsken hatte die Augenbrauen zusammengezogen, als sie vom Tod ihrer Enkeltöchter hörte, und ihr Mund war schmal geworden, als Sirit berichtete, wie Tolioro die Mauer einreißen ließ, in der die Asche ihrer Töchter geruht hatte. Aber dennoch hoffte Mirsken immer noch, dass sie einen Weg finden würde, mit Tolioro zu leben und Tolor für den Sohn ihrer Tochter zu bewahren.

Tolors Gesetze waren eindeutig. Eine Frau herrschte nicht aus eigenem Recht. Niemals. Sie konnte als Regentin für einen erkrankten Gatten oder ein minderjähriges Kind fungieren. Das erwartete man sogar von ihr. Aber herrschen? Königin Mirsken regierte nur stellvertretend für ihren Enkel. Zumindest solange, wie sie ihren Enkel als geeigneten Erben ansah. Sie konnte jederzeit einen anderen als Erben wählen. War sich Tolioro dieser Gefahr bewusst? Sirit konnte es nicht sagen. Wenn er es allerdings wusste, dann war ihre Mutter in höchster Gefahr.

*

Ihr Gatte war auch heute nicht zu einem bloßen Höflichkeitsbesuch gekommen. Das hätte ihm auch nicht ähnlich gesehen. Sirit musterte ihre Mutter. Mirsken sah erschöpft aus, ausgelaugt. Vor weniger als einer halben Kerze war Tolioro gegangen, nachdem er sie den ganzen Abend beehrt hatte. Vorgeblich, um ein wenig auf Familie zu machen. Sirit hatte von dem Abendessen kaum einen Bissen herunterbekommen. In Karapak hatte sie ihrem Gatten wenigstens aus dem Weg gehen können. Außer natürlich, er wollte seinen ehelichen Pflichten nachkommen. In Karapak blieben die Frauen im Harem und die Männer bevölkerten den Rest des Palastes. Tolors Sitten waren anders. Und das bedeutete, Abend für Abend mit Tolioro an einem Tisch zu sitzen, seinen nichtssagenden Gesichtsausdruck zu sehen, der nur manchmal, für Buchteile eines Lidschlages, einem Ausdruck gemeiner Schadenfreude und Zufriedenheit wich, und ihm zuzuhören, wie dilettantisch er über Politik sprach. Tolioro schien nur eine Art von Politik zu kennen. Er befahl, alle anderen gehorchten, und die, die nicht gehorchten, starben.

In Tolor konnte er nicht befehlen. Aber Tolioro war auch nicht der Mann, der um etwas bat. Er hatte Pläne. Pläne, die in Sirits Ohren wie ein Ultimatum klangen. Tolioro strebte nach der Regentschaft für ihren Sohn.

Noch hielt Mirsken stand. Aber Sirit sah, dass ihre Mutter jeden Abend erschöpfter wirkte. Sie spürte, wie sehr ihr dieses ständige Gezerre an die Substanz ging. Wie lange war Tolioro jetzt hier? Achtzehn Tage. Noch einmal so viele Tage, und ihre Mutter erlitt einen Nervenzusammenbruch. Falls Sirit nicht vorher selbst die Nase soweit voll hatte von diesem scheinheiligen Schauspiel, dass sie ihrem Gatten eine Antwort mit dem Dolch gab. Oder, noch besser, mit einer ordentlichen Portion eines möglichst langsam und schmerzhaft wirkenden Giftes.

Nur, dass sie dann dummerweise auch tot wäre. Sie war mit diesem Ekel verheiratet. Und Gattenmord sahen sowohl die Gesetze in Karapak als auch die in Tolor sehr, sehr eng.

*

Sirit hielt inne. Das war doch …

„… zahlen lassen. Ich finde, damit kommen sie noch gut weg.“

„Ihr werdet ihnen dennoch einen plausiblen Grund liefern müssen.“

Mit wem diskutierte ihr Gatte da?

„Ist die Übernahme der Regierungsgeschäfte durch ihren zukünftigen König und seinen Regenten nicht Grund genug?“

„Die Leute gehen bislang davon aus, dass unsere Königin die Regentschaft führen wird, bis der Junge volljährig ist.“

„Die Königin ist eine alte Frau. Sie soll sich in ihre Gemächer zurückziehen, Tücher besticken und ruhig sein.“

„Selbst wenn sie das täte – und ich kenne Königin Mirsken gut genug, um das für sehr unwahrscheinlich zu halten –, dann wäre da immer noch ihre Tochter. Eure Gemahlin. Nach unserem Gesetz wäre sie diejenige, die dann als Regentin für Euren Sohn einzustehen hätte.“

„Sirit!“ Tolioros Stimme zischte wütend. „Sie ist die Gemahlin eines Karapakiers. Bei uns regieren die Männer, nicht die Frauen. Sie wird in den Frauengemächern bleiben und mir die Dinge überlassen, von denen sie nichts versteht.“

Sirits Hand zerteilte den Perlenvorhang. Er klirrte leise, als sie hindurch schritt.

„Und wovon, mein verehrter Gatte, verstehe ich nichts? Etwa von der Politik? Die hat mein Vater persönlich mit mir diskutiert. Von den Finanzen? Mutter und ich haben jeden Tag zusammen die Abrechnungen kontrolliert. Und nicht etwa die Abrechnungen des königlichen Haushaltes. Wir kontrollierten die Finanzberichte der Minister und des Reichswesirs. Rechtliche Fragen? Ich habe nur unbedeutende fünfzehn Jahre lang Unterricht bei den besten Lehrern des tolorischen Reiches genommen. Was also könnte es sein, wovon Ihr mehr versteht, verehrter Gatte?

Ach ja, ich hab´s. Ihr versteht natürlich mehr von Glücksspiel, Pferdewetten, Kampfringern und der Jagd. Womöglich auch von Frauen. Solange es nicht Eure eigenen sind.“

Tolioro starrte sie mit vor Wut glasigen Augen an. „Schert … Euch … weg …!“

Sirit verneigte sich stumm, ganz das dekorative Bild einer gehorsamen karapakischen Ehefrau. Aber bevor sie gemessenen Schrittes den Raum wieder verließ, erhaschte sie noch einen Blick auf den Gesprächspartner ihres Gatten, Graf Chilikit. Sirit glaubte ein spöttisches Lächeln in seinen Mundwinkeln zu lesen.

*

Tolioro hatte verlangt, den Thronrat einzuberufen. Das alleine war schon hart an einer Brüskierung für den ganzen Adel Tolors. Und jetzt verlangte er in aller Öffentlichkeit, dass man ihm die Regentschaft für seinen und Sirits Sohn übertrug. Mit einem kalten Lächeln bekundete er seinen Anspruch, ohne sich um die Ablehnung zu scheren, die ihm von allen Seiten entgegenschlug. Zufrieden registrierte er, wie die meisten Tolorier zusammenzuckten bei der unverhüllten Drohung, mit der er auf Karapaks größere militärische Stärke hinwies – und so ganz nebenbei auch auf die Tatsache, dass der Erbe des tolorischen Thrones sich zurzeit in der Hauptstadt Karapaks aufhielt. Weit, weit weg, und durch keinen einzigen tolorischen Soldaten geschützt.

Tolioro zitierte Gesetze. Regierende Frauen waren widernatürlich in Karapak. Frauen konnten nicht regieren. Auch nicht als Regentinnen.

„Es ist mir egal, was die Gesetze Karapaks für diesen speziellen Fall vorsehen“, sagte Königin Mirsken ungehalten. „Soweit ich weiß, sind wir immer noch in Tolor. Hier gelten tolorische Gesetze. Und nach tolorischem Recht bin ich die Regentin für meinen Enkel.“

Tolioro biss die Zähne zusammen. Vor dem versammelten tolorischen Hochadel durfte er sich keine Blöße geben und ausfallend werden.

„Der Prinz ist gleichzeitig Erbe des karapakischen Throns“, warf Graf Chilikit gerade ein.

„Karapak! Was schert uns das?“, brummte ein grauhaariger Fürst. Zustimmendes Gemurmel rannte durch den Saal. Tolioros Zähne knirschten. Verdammt! Manchmal hatte er den Eindruck, dass Chilikit nicht für, sondern gegen ihn arbeitete.

„Könnte man nicht einen Kompromiss in Erwägung ziehen?“ Graf Chilikit lächelte gewinnend. „Eine gemeinsame Regentschaft für einen gemeinsamen Erben?“

Tolioro kochte auf kleiner Flamme. Das war ja fast noch schlimmer! Dummerweise schien dieser Vorschlag der Königin sogar zu gefallen. Verdammtes Weib! Musste sie sein Leben so kompliziert machen?

*

„Musste das sein, Mutter?“, fragte Sirit. „Mein Gatte kann keine Frau ertragen, die eine eigene Meinung hat. Diese gemeinsame Regentschaft ist zum Scheitern verurteilt.“

Mirsken zog die Augenbrauen hoch. „Du hast nicht gerade eine hohe Meinung von deinem Gatten.“

„Schlechte Erfahrungen.“

„Ich habe keine Wahl. Der Rat hat es so beschlossen.“ Mirsken tunkte den Federkiel wieder ins Tintenfass. Mit schwungvoller Bewegung unterschrieb sie den Erlass im Namen ihres Enkels. Des letzten männlichen Erben aus dem Hause Dacas. Und so sehr es sie schmerzte, sie wusste nur zu genau, dass Tolor nicht reif war für die Herrschaft einer Frau. Ihr Volk vertraute ihr, ihr Volk würde ihr folgen, was immer sie befahl – aber nur, solange sie im Namen des Prinzen sprach.

Nur einer hatte noch weniger Chancen als sie, alleine zu regieren. Der karapakische Ehemann ihrer Tochter, Tolioro.

Was vielleicht gut so war, denn der Mann war ihr unheimlich. Und ausgerechnet mit ihm zusammen würde sie die nächsten Jahre Tolor regieren müssen. Ihr graute davor.

*

„Geduld ist eine Tugend“, hatte seine Mutter Iragana immer gesagt. „Sie bringt uns weiter als kämpferisches Ungestüm.“ Geduld musste er jetzt haben. Solange jedenfalls, bis die Königin tot war. Und seine Frau Sirit am besten gleich mit. Waren die beiden Frauen erst einmal ausgeschaltet, wer blieb dann noch als Regent des tolorisch-karapakischen Prinzen? Er, Tolioro. Und niemand sonst. Allerdings, Königin Mirsken war noch jung genug, um die nächsten zwanzig oder dreißig Regenzeiten zu überleben. Von seiner Frau ganz zu schweigen. Und bis dahin wäre der kleine Bastard groß und jenseits seiner Macht. Tolioro tigerte unruhig in seinem Gemach hin und her. Nein, solange würde er auf keinen Fall warten. Erst die Frauen weg, dann die alleinige Regentschaft, und dann … mochte dem kleinen Prinzen ein Unglück zustoßen. Pech. Schade, sehr schade. Aber ganz offensichtlich waren Unglücke in Dacas Blutlinie nicht selten.

Welche Optionen hatte er sonst noch? Einfach erobern konnte er das Land wohl schlecht, Tolor hatte bislang allen militärischen Versuchen Karapaks erfolgreich widerstanden. Ihm rann die Zeit davon. Nur so wenige Jahre noch … Und wenn er mit List arbeitete? Sozusagen eine Eroberung durch die Hintertür? Aber zunächst einmal musste er zurück nach Karapak. Das Land durfte nicht zu lange ohne Herrscher sein. Wer weiß, welchem gierigen Adeligen die Gelegenheit sonst zupass kam. Außerdem waren da immer noch diese dreimal verfluchten Wüstenstämme, bei denen sein Bruder Ioro jetzt stecken musste. Die Generäle schworen zwar Stein und Bein, dass die Wüstenstämme Ioro bestimmt sofort einen Kopf kürzer gemacht hätten, bei all den Niederlagen, die der ihnen beigebracht hatte. Aber Tolioro wusste es besser. Zum einen fiel sein vermaledeiter Halbbruder immer wieder auf die Füße. Und zum anderen hatten sich in den letzten Monden den Berichten nach die verschiedenen Stämme der Wüstenkrieger zu einer Allianz zusammengeschlossen. Das hatten sie in tausend Jahren nie gemacht. Ganz eindeutig Ioros Handschrift. Außerdem hatte Nao, dieser junge Adelige, der immer um ihn herumscharwenzelte, etwas angedeutet. Etwas, was ihm Mittelsmänner erzählt hatten. Sein Bruder lebte noch. Und die Wüstenstämme waren nach wie vor unbesiegt.

Nein, er musste zurück nach Karapak. Dort kannte er gewisse Leute. Vielleicht wussten die eine Lösung.

Einen Lichtblick zumindest gab es in seinem Leben. Er konnte seine Frau hierlassen, bei ihrer Mutter. Sie würden tun, was immer er verlangte, um den kleinen Bastard zu schützen. Natürlich hieß das nicht, dass er mit ihr fertig war. Noch lange nicht. Seine Rache würde nur warten müssen. Andere Dinge waren wichtiger als Sirit, zumindest vorerst. Wichtig war die Herrschaft über das Reich. Und der Erbe beider Reiche. Und den hatte er.

*

Sirit und Mirsken standen gemeinsam auf der höchsten Zinne des Palastes und sahen den karapakischen Reitern hinterher. Weder Mutter noch Tochter tat es leid, sie fortreiten zu sehen.

„Eine Sorge weniger“, sagte Mirsken endlich.

„Der kommt wieder. Zur Unzeit, wenn irgend möglich“, gab Sirit zurück. „Mutter, was immer du tust, versuche um der Göttin willen alles, diesen Mann aus Tolor fernzuhalten. Versprich es mir!“

Königin Mirsken sah noch einmal hinüber zu der Staubwolke, die über den fernen Reitern hing. Einen Moment lang heulte der Wind um sie auf. Es klang wie eine Warnung. „Er erwartet nur Berichte von mir“, sagte sie. „Berichte über das, was sich im Land tut.“

„Und Abgaben“, korrigierte Sirit sie sanft.

„Die Abgaben sind für deinen Sohn. Meinen Enkel.“

„Das glaubst du doch selbst nicht, Mutter. Die Abgaben werden in Karapaks Kriegskasse landen.“

„Vermutlich.“ Mirskens Gesicht blieb unbewegt. „Aber wenn uns das Ruhe und Frieden erkauft, ist es mir eine gute Summe wert. Und solange wir zahlen, ist der zukünftige König Tolors sicher.“

Sirit zog es vor, zu schweigen.

*

Ihr Enkel, der nicht wirklich ihr Enkel war, sah gut aus. Iragana musterte die kleine Gestalt. Schon jetzt ragte die Nase der Mehmes prominent aus dem wachen, intelligenten Kindergesicht. Einen winzigen Moment lang verspürte sie ein fast schmerzhaftes Verlangen, ihn in die Arme zu schließen. Aber er war nicht ihr Enkel. Sie gab der Amme einen Wink, den Prinzen wieder in seine Gemächer zu bringen.

Tolioros Augen wurden schmal. „Du weißt es.“

„Natürlich.“ Iragana gab sich keine Mühe, zu leugnen.

„Wie lange schon?“

„Seit ich ihn das erste Mal sah.“

„Und du hast geschwiegen.“

„Hätte es etwas geändert, wenn ich nicht geschwiegen hätte? Du hattest ihn bereits adoptiert.“

Tolioro trat gegen ein zierliches Tischchen. Das geschnitzte Holz zersplitterte. „Hattest du vor, es mir irgendwann einmal zu sagen?“

„Nicht, solange es nicht nötig war.“

Einen Moment lang funkelten Mutter und Sohn sich an. Dann setzte Tolioro sich auf den Diwan. „Erkläre mir deine Gründe.“

Es klang sachlich, ruhig. Iragana hatte das Gefühl, auf sehr, sehr tiefem Treibsand zu stehen. Eine falsche Bewegung …

„Du hast bislang keinen leiblichen Sohn. Jedenfalls keinen, von dem wir wissen.“ Sie hielt kurz inne. „Aber du bist zeugungsfähig. Wir wissen, dass du bereits mehrere Töchter gezeugt hast.“ Erneut hielt sie kurz inne. „Ich habe diesen Jungen als eine Art Platzhalter betrachtet. Solange – vermeintlich – ein Sohn deiner Blutlinie existiert, wird es niemand wagen, deinen Herrschaftsanspruch und den deiner Familie infrage zu stellen. Solange wird niemand bezweifeln, dass du das Wohlwollen der Götter besitzt, wie alle bisherigen Könige des Hauses Mehme.“

Sie schwieg erneut und wartete darauf, dass ihr Sohn die richtigen Schlüsse zog.

„Und wenn ich keinen Sohn hätte?“, fragte Tolioro schließlich.

„Es gab einen Präzedenzfall.“ Iragana wagte nicht, ihren Sohn anzusehen. „König Narakur. Vor dreihundertfünfundsechzig Regenzeiten. Er bekam keinen Sohn. Und das, obwohl er neben seiner Gemahlin mindestens drei Dutzend jungen, gesunden Konkubinen beiwohnte. Der Kronrat wartete zwölf Regenzeiten. Dann schlossen die Ratsherren sich mit den Priestern zusammen, stimmten ab, entwarfen ein neues Thronfolgegesetz und ernannten einen neuen König.“

„Aber … Könige werden auf Lebenszeit gekrönt.“

„Richtig.“

„Heißt das, es gab einen zweiten König?“

„Das heißt, es gab einen toten König. Und einen neuen König.“

Tolioro sog zischend die Luft ein.

Wüstenkrieger

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