Читать книгу Wüstenkrieger - Chris Svartbeck - Страница 6

Eine Unterhaltung unter Zauberern

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Der Schamane sah zu dem Zeltpfahl herüber. Der Falke saß reglos darauf und döste in der Sonne. Es wurde Zeit für eine ernsthafte Unterhaltung, von Zauberer zu Zauberer.

*

„Du-im-Falken, wach auf!”

Jo öffnete ein Auge. Dann das zweite Auge. Direkt vor ihm befand sich ein Gesicht. Ein ihm durchaus bekanntes Gesicht.

„So lernen wir uns also endlich näher kennen”, sagte der Schamane.

Jo blinzelte. Er schlug mit den Flügeln. Das heißt, er wollte mit den Flügeln schlagen. Aber da waren nur Arme.

Wieso Arme? Warum war er wieder in Menschengestalt? Wo war er?

Jo sah sich um. Sand, eine glatte, endlose Fläche grauer Sand. Darüber ein ebenso grauer Himmel.

Nein, das war nicht die reale Welt. Der Schamane musste ihn in eine Spiegelwelt gelockt haben. Aber hatte der Schamane nicht zu Ioro gesagt, er würde keine Spiegel benutzen?

„Dies ist keine Spiegelwelt.”

Konnte der Schamane Gedanken lesen?

„Natürlich lese ich deine Gedanken. So, wie du meine Gedanken liest. Wir sind in einer Gedanken-Welt, genauer gesagt, in einem Traum. Meinem Traum.”

„Wie komme ich in deinen Traum?”

„Ganz einfach.” Der Schamane lächelte. „Ich habe dich gerufen. Eine ganz primitive Prozedur. Der Vogel schlief, und du hast geträumt. Es ist ziemlich einfach, einen Träumer zu rufen.”

„Könnte ich”, fragte Jo langsam, „meinerseits auch ohne Spiegel jemanden in meine Träume rufen?”

„Das könntest du”, bestätigte der Schamane. „Wenn du weißt, wie.”

„Könntest du … es mich lehren?”

„Warum sollte ich das tun? Ihr Spiegel-Zauberer habt mehr als genug Unheil über diese Welt gebracht. Weshalb sollte ich einen Spiegel-Zauberer irgend etwas lehren?”

„Weshalb hast du mich gerufen, wenn du mich nichts lehren willst?”

„Die Runde geht an dich.” Der Schamane lächelte wieder. „Du bist wirklich ein intelligenter Junge.”

„Also weshalb bin ich hier?”

„Ich möchte dir ein Geschäft vorschlagen. Sozusagen einen Dienst auf Gegenseitigkeit.”

Jo wartete.

„Du benötigst einen Weg, deiner Gefangenschaft zu entgehen. Schau nicht so verblüfft, ich weiß, dass du in einem Spiegel gefangen bist. Deine Signatur brüllt es ja förmlich heraus.

Und ich benötige einen Weg, die zweite Kristallkammer zu vernichten.”

„Was?”, fuhr Jo auf. „Die zweite Kristallkammer? Es gibt noch eine andere?”

„Du hast doch bestimmt von dem Aufstand gegen die Kristallkammer gehört.”

„Ja, allerdings.”

„Die Aufständischen wurden vernichtend geschlagen, damals. Aber einige von ihnen überlebten. Ich vermute, du hast das bereits aus erster Hand erfahren.”

„Ja”, bestätigte Jo. „Es waren fremde Zauberer, die mich in einen Spiegel schlossen.”

„Die Überlebenden zogen sich hinter die Wüste zurück. Dort, wo die Wüste ihre geringste Ausdehnung hat, am unteren Ende des Drachenschwanzes, dort bauten sie sich eine Zuflucht. Dort gründeten sie eine zweite Kristallkammer.”

Jo begriff. Das also war der Ort gewesen, an den Skane ihn geführt hatte!

„Und diese Kristallkammer in der Wüste macht dasselbe wie die in Sawateenatari”, fuhr der Schamane fort. „Sie sammelt Energie. So viel sie kann. Um dieses Zauberer-Versteck herum ist die Wüste tot. Und ich meine wirklich tot. Nicht einmal die Skorpione überleben dort. Eure Kristallkammer kann Sawateenatari unbemerkt auszehren, weil dort so viele Menschen leben. Jeder verliert etwas Energie, aber nicht genug, dass die Leute es merken. Es treten einfach nur ein paar Krankheiten mehr auf, sie sterben ein wenig früher, und es werden weniger Kinder geboren.”

Jo erinnerte sich an seine Besuche in der Stadt. In der Tat gab es dort weniger Kinder als auf den Dörfern. Aber er hatte das nie hinterfragt. Der einzige Ort in der Hauptstadt, an dem reichlich Kinder vorhanden waren, war der Palast.

„Und der hat den Schutz seiner verzauberten Mauern”, ergänzte der Schamane seinen Gedankengang. „Die alten karapakischen Könige wussten, warum sie seinerzeit auf diesem Schutzbann bestanden. Die heutigen wissen es nicht mehr. Aber nur durch den Bann ist gewährleistet, dass das karapakische Königshaus stark und vital bleibt.”

Das erklärte vieles. Das erklärte auch die merkwürdig toten Straßen in der direkten Umgebung der Kristallkammer. Wahrscheinlich schreckten die Leute instinktiv davor zurück, dort zu leben.

„Und die zweite Kristallkammer?”

„Wir haben keine Städte.” Der Schamane sah ihn an. „Wir haben nur unsere Zelte. Und wir sind wenige. Du weißt das, du hast unsere Zelte gezählt, als Falke. Die zweite Kristallkammer zehrt mein Volk aus. Wir bekommen kaum noch Kinder und von denen, die geboren werden, erleben nicht viele ihre Reife.”

Das also war der Grund, weshalb bei den Nomaden nichtkämpfende Frauen und alle Kinder tabu waren. Der Grund, weshalb der Schamane auf Kanatas Friedensbedingungen unmöglich hatte eingehen können. Der Grund, weshalb die Wüstenkrieger es als so ungeheuren Frevel ansahen, dass die karapakischen Soldaten ihre Frauen und Kinder angegriffen und ermordet hatten. Und der Grund dafür, dass die Wüstenkrieger Frauen und Kinder ihrer Feinde nicht töteten, sondern liebevoll in ihre Stämme aufnahmen und integrierten.

„Ich brauche deine Mitarbeit”, sagte der Schamane. „Ich weiß, dass du irgendwie mit Ioro reden kannst.”

„Nur mit direktem Kontakt”, gab Jo mürrisch zurück. Er konnte förmlich sehen, wie es bei dem Schamanen klickte. Der bevorzugte Sitzplatz des Falken auf Ioros Schulter.

„Aber du benutzt keinen Spiegel!”, platzte der Schamane verwirrt heraus.

„Na und?” Jo gab sich betont gleichgültig. „Mal abgesehen davon, dass das nicht geht, weil ich selbst praktisch ein Spiegel bin – ein richtiger Spiegel bei diesen ständigen Kontakten wäre ja wohl kontraproduktiv.”

„Warum … Oh!” Der Schamane begriff. „Ein starker Spiegelzauberer auf der einen Seite und auf der anderen ein ungeübter, ungeschützter Zauberschüler – du hättest ihn ausgesogen.” Er wanderte ein paar Schritte auf dem Geistersand hin und her. Dann sah er Jo wieder an. Staunen lag in seiner Miene. „Offensichtlich seid ihr mehr als nur Partner. Ihr seid Freunde!”

„Ja und?”

„Wie ungewöhnlich! Ein karapakischer Bauer, auch wenn er ein Zauberer ist, und befreundet mit einem karapakischen Königssohn! Ich dachte immer, so etwas sei nicht möglich.”

Jo schwieg. Das war nicht unbedingt ein Thema, das er vertiefen wollte. Der Schamane nickte und griff sein anfängliches Thema wieder auf.

„Wie ich vorhin schon sagte, es würde sich anbieten, dass wir zusammenarbeiten. Hilfe für mein Volk, Freiheit für dich. Wir haben einen gemeinsamen Feind.”

„Und den sollen wir wie angreifen? Mit Falkenkrallen und ein paar Messern?”

„Tsk.” Der Schamane warf ihm einen verächtlichen Blick zu. „Glaubst du, ich bin so blöd, einen direkten Angriff zu planen? Sehe ich aus wie ein Selbstmörder? Nein. Wir haben nur dann eine Chance, wenn wir es irgendwie schaffen, die eine Kristallkammer gegen die andere auszuspielen. Und das möglichst, ohne die ganze restliche Welt dabei zu vernichten.”

Er machte eine Handbewegung. „Und jetzt schwirr ab. Zurück in den Falkenkörper, bevor dein Freund sich wundert, dass sein geflügelter Begleiter plötzlich so schwerhörig ist und keinen Weckruf mehr hört.”

*

Ioro schickte den Falken mit einer Handbewegung in den Wüstenhimmel. Irgendwo zwischen den weidenden Herden würde er schon Futter finden. Gut, dass er wenigstens Jo noch hatte. Sein vertrauter Berater. Sein Zauberer-Freund war die letzte Verbindung, die er jetzt noch zu seinem alten Leben hatte. Und sein einziger Freund in diesem neuen Leben.

Und jetzt musste er zu dem Schamanen. Die Götter mochten wissen, warum. Wahrscheinlich wollte der nur militärische Auskünfte. Aber Jo hatte gesagt, er könne dem Alten vertrauen. Einem Zauberer vertrauen … War nicht auch Jo ein Zauberer? Ioro seufzte. Er hatte ohnehin keine Wahl. Entweder er ging zu dem Schamanen oder er legte sich mit den Kriegern an, die ihn ständig beobachteten.

Vor dem Zelt des Schamanen zögerte er noch einmal und blickte zurück. Der stämmige Krieger namens Chirgot zuckte zusammen, als der Falke eine enge Kurve um seinen Kopf flog. Ioro vermerkte es zufrieden. Gut so! Diesen Wüstenkriegern gegenüber musste man Stärke zeigen. Einen winzigen Moment lang war er mit sich und der Welt zufrieden, dann fiel ihm wieder ein, weshalb er hier war. Der Schamane wollte ihn sprechen. Ioro zog mit einem Seufzer den Kopf ein und trat durch den niedrigen Zelteingang.

Es roch merkwürdig. Und es sah merkwürdig aus. Ioro schaute sich neugierig um. An den Zeltstangen hingen Kräuterbündel und getrocknete Körperteile von Tieren. Für welchen Zauber waren die nötig?

„Alles ganz normale Heilmittel”, hörte er den Schamanen sagen, der gerade hinter einer Abtrennung zum Vorschein kam. Konnte der Alte Gedanken lesen?

Der Schamane lächelte belustigt. „Gedanken lesen ist bei dir unnötig, junger Freund, deine Körpersprache schreit förmlich heraus, was du denkst.” Er deutete auf einen Stapel Ziegenfelle neben der Feuerstelle. „Setz dich!”

Ioro gehorchte steif.

„Hast du dir schon überlegt, was du jetzt tun willst?”, fragte der Schamane.

Ioro schüttelte den Kopf. Nein, er hatte noch nichts überlegt. Seine eigene Handlung hatte ihn vollkommen überrascht. Und jetzt wusste er einfach nicht weiter.

„Du hast drei Optionen.” Der Schamane musterte ihn. „Du kannst nach Karapak zurückkehren. Dann stirbst du mit Sicherheit. Du kannst hierbleiben. Dann stirbst du vielleicht. Oder du kannst noch weiter weggehen von Karapak. Dann lebst du vielleicht. Vorausgesetzt, du überlebst den Weg durch die Wüste.”

Ioro schwieg. Wenn er Option eins gewollt hätte, wäre er jetzt nicht hier. Was die anderen beiden Alternativen anging, sah keine davon besonders verlockend aus. Dieser Chirgot wartete nur auf einen Grund, ihm sein Messer zwischen die Rippen zu rammen. Und die Länder jenseits der Wüste? Falls da Länder waren. Nach allem, was er wusste, konnte dort das Ende der Welt auf ihn warten. Die große Mauer, die alles begrenzte. Zumindest hatte ihm das früher seine Amme immer erzählt.

„Gibt es etwas, was dich dazu bewegen könnte, es mit uns zu versuchen?”, fragte der Schamane.

Ein lachendes Gesicht schob sich in Ioros Gedanken. Die Frau aus Karapak, die ihn beherbergte. Die Frau, die das Leben in den Roten Zelten so viel besser fand als in Karapak. „Ich denke, ja”, sagte er langsam.

*

Seit vier Monden war jetzt Ruhe an der Grenze. Die karapakischen Truppen hatten sich zurückgezogen. Ioro rechnete nach. Gut sechsundzwanzig Tage benötigte eine Karawane mit einer Bahre, um von der Grenze aus die Hauptstadt zu erreichen. Die Feierlichkeiten für das Begräbnis dauerten gut einen Mond, ein weiterer Mond würde verstrichen sein, bis der neue König offiziell gekrönt war. Dann noch die übliche Zeit, bis sich Verwaltung und Finanzen konsolidiert hatten und alle notwendigen Verwaltungsposten ausgetauscht worden waren. Und dann würde der Krieg von Neuem beginnen.

Er war sich dessen absolut sicher. Tolioro würde nicht aufgeben. Nicht, solange er vermutete, dass sein Bruder Ioro noch lebte.

Die Wüstenstämme würden vielleicht noch zwei oder drei Monde Atempause bekommen. Höchstens. Und wenn sie eine Chance haben sollten, die nächste Phase des Krieges zu überleben, mussten sie auf ihn hören.

Er hatte mit dem Schamanen gesprochen. „Vergiss es”, hatte der gesagt. „Sie werden auf keinen Fremden hören.”

Dann gab es nur eine Lösung. Er selbst musste zu einem Wüstenkrieger werden.

*

„Bist du sicher?”, fragte der Schamane.

„Ich lebe in euren Zelten. Eine eurer Frauen kocht mir mein Essen und wärmt mein Lager in der Nacht. Eines eurer Kinder lacht, wenn es mich sieht. Ja, ich bin sicher.”

„Gut.” Der Schamane wirkte sichtlich zufrieden. „Aber wenn du einer von uns werden willst, dann musst du dich als Krieger beweisen.”

„Ich führe seit Jahren das karapakische Heer an”, knurrte Ioro. „Sollte das nicht reichen?”

„In Karapak belohnen sie Abstammung mit Titeln.” Der Schamane sah ihn nicht an. „Bei uns musst du beweisen, was du kannst.”

Einen winzigen Moment lang war Ioro versucht, einfach aufzustehen und das Zelt des Schamanen zu verlassen. Aber dann sah er wieder das lachende Gesicht des Jungen vor sich. „Sag mir, was ich tun muss.”

*

Die Frau lächelte breit, als Ioro von dem Zelt des Schamanen zurückkehrte. War sie glücklich, dass er sich entschieden hatte, bei ihr zu bleiben? Ioro wusste es nicht. Er wusste immer noch so vieles nicht.

Im Zelt duftete es nach Karass und Ziegenfleisch. Die Frau gab eine ordentliche Portion von dem Eintopf in eine Schale und reichte sie ihm. Er musterte ihre Züge. Ein wenig grob waren sie, nicht so fein wie die der Palastdamen, die Züge einer Bäuerin eben. Aber sie strahlte Wärme aus. Etwas, was er nicht einmal bei seiner Mutter gespürt hatte. „Wie heißt du überhaupt?”, fragte er.

Ihr Lächeln wurde breiter. „Ich dachte schon, du fragst mich nie!” Sie setzte sich ihm gegenüber. „Mein Name ist Sua.”

„Sua”, wiederholte Ioro. „Ich habe dich nie gefragt, Sua, warum du mich in dein Zelt aufgenommen hast. Hat man es dir befohlen?”

„Nein.” Sie wurde ernst. „Niemand befiehlt hier einer Frau, wen sie in ihr Zelt holt. Und es gibt leere Zelte, für Gäste. Eigentlich wollten die Krieger dich in ein Gästezelt stecken. Aber als ich dich gesehen habe … Sagen wir mal, du siehst nicht schlecht aus, mein Zelt hatte schon einige Zeit keinen Mann mehr gesehen, und ich hatte einfach wieder Lust, ein wenig meine alte Heimatsprache zu hören.”

Eine Weile schwiegen sie beide, und Ioro löffelte sein Essen.

„Wenn du willst, kannst du in meinem Zelt bleiben”, sagte sie dann.

„Hätte ich Alternativen?”

„Sobald du einer von uns bist”, bestätigte sie. „Du könntest in das Zelt der ledigen Männer gehen. Oder zu dem Schamanen. Ich habe gehört, er würde dich gerne ausbilden.”

Ioro schauderte. Unter all diesen Zauberdingen zu wohnen … „Ich bleibe lieber hier.”

Ihr Lächeln erschien wieder. Sie wirkte beinahe schön.

*

Chirgot überlegte düster, wem er zuerst die Kehle durchschneiden sollte: dem Schamanen oder dem Karapakier Ioro. Vermutlich dem Schamanen. Nur der konnte die beschissene Idee gehabt haben, den Karapakier in die Roten Zelte adoptieren zu wollen.

Was sagte der Alte da gerade?

„… und ich erwarte, dass ihr ihm nicht mehr Steine in den Weg legt als einem, der in den Roten Zelten geboren wurde.” Der Schamane starrte die versammelten Krieger der Reihe nach an. Einer nach dem anderen senkte den Blick. Chirgot nicht.

„So, wie es bei uns immer schon Brauch war!”, setzte der Schamane mit Nachdruck hinzu.

„Warum sollen wir einen Verräter in unseren Reihen willkommen heißen?”, fragte Chirgot. „Wer garantiert uns, dass er nicht als Nächstes uns verrät?”

„Er hat sein Volk nicht verraten”, erwiderte der Schamane. „Sein Volk hat ihn verraten. Sein Volk hat seine Ehre verraten.”

„Und wenn er es sich anders überlegt? Ich traue ihm nicht!”

„Er wird es sich nicht anders überlegen. Für ihn gibt es keinen Weg zurück. Er hat den König von Karapak getötet.”

„Er hat also den König von Karapak getötet”, knurrte Chirgot. „Na und? Jeder von uns hätte dasselbe getan, hätte er nur die Gelegenheit gehabt.”

„Das glaube ich nicht”, sagte der Schamane. „Der König war sein Vater.”

*

Ioro wischte sich den Schweiß von der Stirn. Der Pflegesohn seiner Zeltgefährtin, Mugo, entblößte grinsend seine Zahnlücke. Verdammt noch eins, der kleine Bastard war besser im Training als ein karapakischer Feldherr! Kein Wunder, dass die Wüstenkrieger so gute Kämpfer waren. Wenn seine Soldaten ihn jetzt sehen würden … Ein Feldherr, der mit den Kindern üben musste. Die feixenden Stammeskrieger, die ihm zusahen, waren auch nicht gerade eine Hilfe. Ioro fluchte.

„Fluch nicht!”, beschied ihm sein kleiner Ausbilder. „Wenn du unnötig redest, verlierst du nur Wasser. Das kannst du dir in Karapak leisten, aber nicht in der Wüste.”

Ioro nickte düster. Das konnte ja heiter werden!

*

Der Geistervogel kreiste über ihm. Chirgot beobachtete ihn mit zusammengekniffenen Augen. Konnte dieses vermaledeite Biest nicht woanders jagen? Immer, wenn er den Vogel sah, erinnerte er sich an die Niederlagen, die das Volk durch die karapakische Armee erlitten hatte. Und nur wegen diesem Vogel.

Es sah dem Schamanen ähnlich, dass er den Karapaki und seinen Vogel unbedingt im Lager behalten wollte. Kriegstaktik, pah! Als ob die Stämme nicht imstande waren, selbst ihre Kriege zu planen. Mit Sicherheit wäre es vernünftiger gewesen, den Karapaki gleich einen Kopf kürzer zu machen und seinen Schädel auf eine der Zeltstangen zu spießen. Den Vogel am besten gleich mit. Der Falke war einfach nicht normal.

Und wenn er den Falken erlegte? Ein gut geschleuderter Stein ... So ein Vogelkörper hielt nicht viel aus. Und einem Stein sah niemand an, wer ihn geschleudert hatte. Chirgot bückte sich unauffällig und schloss seine Hand um einen gut eigroßen Kiesel. Jetzt musste der Geistervogel nur noch in seine Nähe kommen. Chirgot wartete.

Der Falke kreiste weiter über der Herde und hielt Ausschau nach Beute. Wo große Tiere lebten, gab es immer auch kleine Beutetiere. Wüstenratten oder Mäuse. Da! Der Falke ging in den Sturzflug über. Gleich darauf hörte Chirgot ein entsetztes Quieken, das abrupt abbrach. Jetzt! Das war seine Chance! Er pirschte sich rasch auf Wurfweite an. Der Falke saß auf einer feisten Maus und war schwer damit beschäftigt, sie in seinen Schlund zu würgen. Mit routinierter Bewegung schwang Chirgot seine Schleuder. Der Stein flog geradlinig auf den nichtsahnenden Vogel zu.

Und zerbarst in der Luft.

Der Falke drehte seinen Kopf und sah Chirgot mit seinen bernsteingelben Augen an. Chirgot hatte das bestimmte Gefühl, dass der Falke gerade überlegte, ob er ihn in eine Maus verwandeln und ebenfalls verfrühstücken konnte. Zitternd wich er zurück.

Und wurde von einer harten Hand aufgehalten. Die Stimme, die dicht neben seinem Ohr ertönte, kannte Chirgot mittlerweile nur zu gut.

„Vogeljagd?” Ioros Stimme war rostiges Eisen. „Hat dir schon mal jemand gesagt, dass das ein sehr gefährlicher Zeitvertreib ist, mein Freund?”

„Ich bin nicht dein Freund!”, zischte Chirgot und schüttelte die Hand ab.

Ioro legte ihm erneut eine Hand auf seine Schulter. „Aber, aber, hat nicht der Schamane gesagt, dass wir uns brav vertragen sollen?”

Chirgot wich wütend zur Seite aus. „Kindermörder! Frauenschlächter!”

Ioros Gesicht erstarrte.

„Verräter! Weshalb sollte ich jemandem trauen, der sein eigenes Volk verraten und seinen eigenen Vater getötet hat?”

Jetzt blinzelte Ioro nicht einmal mehr.

„Und ein Feigling bist du noch dazu!”, höhnte Chirgot. „Versteckst dich hinter dem Schamanen und deinem Geistervogel!”

Er hatte die Worte noch nicht ganz beendet, als Ioros Faust in seinem Gesicht landete. Das war’s. Wenn der verdammte Karapaki dachte, er konnte ... Chirgot überlegte nicht weiter. Seine Hand flog zum Messer. Und löste sich sofort wieder. Ein Angriff mit der Waffe auf einen Gast der Roten Zelte – undenkbar. Mit der Waffe angreifen dufte er auf keinen Fall. Aber über eine ordentliche Tracht Prügel sagte das Gastrecht nichts. Chirgot hob die Fäuste und griff seinerseits an.

Der Karapaki war schnell, das musste Chirgot ihm lassen. Er bewegte sich mit einer geradezu aufreizenden Gelassenheit und Sicherheit. Als Reiter und Bogenschütze mochte er eine Niete sein, im Faustkampf waren die Gewichte anders verteilt. Chirgot hatte Mühe, überhaupt einen Treffer zu landen. Argh! Ioros Faust war in seinem Magen gelandet. Chirgot warf sich zur Seite. Die zweite Faust traf ihn voll ins Gesicht. Chirgot schmeckte Blut. Er duckte sich, wich ein Stück zurück. Ioro folgte ihm, setzte eine ganze Serie kleiner, harter Schläge gegen seine Brust und seine Arme. Chirgot fühlte, dass ihm die Luft wegblieb. Verdammt! Das konnte nicht sein, das durfte nicht sein! Das Gesicht vor ihm blieb versteinert. Ein weiterer Treffer. Eine Rippe brach. Irgendein Teil von Chirgot stellte es beinahe sachlich fest. Lange hielt er das nicht mehr durch. Aber aufgeben? Gegenüber dem karapakischen Frauenschlächter? Auf keinen Fall. Als ihn der nächste Hieb traf, krümmte Chirgot sich zusammen und wich zwei Schritte zurück. Seine linke Hand wischte über den Boden, nahm etwas von dem Sand auf. Ioro holte zum nächsten Schlag aus. Chirgot schleuderte den Sand. Genau in die kalten, unbarmherzigen Augen seines Gegners. Einen Moment wich dieser geblendet zurück. Chirgot schlug zu. Mit einem satten Geräusch traf seine Faust mitten in Ioros Gesicht. Ein dünner Sprühregen von Blut blühte auf, Knorpel barsten. Der Karapaki ging taumelnd zu Boden. Chirgot hob die Faust ein zweites Mal.

„Genug!” Der Schamane stand plötzlich neben ihm. Chirgot sah sich verwirrt um. Erst jetzt registrierte er, dass sich fast das halbe Lager um den Kampfplatz versammelt hatte. „Seid ihr Krieger oder Kinder, dass ihr euch prügeln müsst?” Die Missbilligung in der Stimme des Schamanen war nicht zu überhören. Chirgot gab keine Antwort.

Ioro hob den Kopf. Ein breites Blutrinnsal kleckerte aus seiner zerquetschten Nase. Er atmete durch den Mund, hastig, in Stößen.

„Ich entschuldige mich”, sagte er, als er unsicher wieder auf den Beinen stand. „Ich schätze, für einen Gast habe ich ein sehr ungehobeltes Benehmen gezeigt.”

Chirgot starrte ihn verwundert an. Der Karapaki entschuldigte sich? Obwohl er, Chirgot, die ganze Sache letzten Endes angefangen hatte?

„Ich entschuldige mich auch”, sagte er endlich. Steif fügte er hinzu: „Es wird nicht wieder vorkommen.” Ein Blick hinüber zum Falken, der jetzt in großen Kreisen über ihnen flog: „Das gilt auch für deinen Geistervogel.”

Ioro nickte nur. Die Starre war aus seinem Gesicht verschwunden.

Plötzlich grinste Chirgot. „Bei den Winddämonen, Karapaki, für einen verwöhnten Prinzen hast du einen verdammt guten Schlag!” Ein dicker Knoten, von dem er nicht einmal gewusst hatte, dass er existierte, löste sich in ihm.

*

Ioro war schon wieder vom Pferd geflogen. Jo gestattete sich einen winzigen Moment der Belustigung. Das, was die Karapakier als Reiten bezeichneten, betrachteten die Wüstenstämme bestenfalls als dösiges Herumsitzen im Sattel. Zum ersten Mal seit seiner Rekrutenzeit wurde Ioro wieder richtig rangenommen. Jo lenkte den Falkenkörper tiefer. Ioros Flüche schallten bis hinauf zu ihm. Das Schauspiel würde er sich auf keinen Fall entgehen lassen.

Ioro verspürte Mordgelüste. Diese kleine braune Bestie in Pferdegestalt stand da, als ob sie kein Wässerchen trüben konnte. Wie hatte das verdammte Viech ihn so schnell wieder von seinem Rücken geworfen? Mit einem Ächzen stemmte er sich hoch. Sein Brustkorb fühlte sich an wie ein einziger blauer Fleck und bei jedem Atemzug stach es in seiner linken Seite. Er musterte die Zuschauer, unter ihnen der unvermeidliche Chirgot. Nein, er konnte auf keinen Fall aufgeben. Nicht, solange der zusah. Ioro bewegte seine schmerzenden Glieder und schob sich vorsichtig wieder auf das Pferd zu.

Chirgot revidierte seine Ansichten nur zähneknirschend, aber er wusste, was er sah. So ungern er es zugab, der Karapaki hatte tatsächlich das Zeug zu einem echten Krieger. Er war zäh, er nahm Schmerzen schweigend in Kauf, und er gab nicht auf. Und wenn er wirklich den Roten Zelten beitreten wollte? Der Schamane hatte Mittel und Wege, festzustellen, ob jemand seinen Schwur ernst meinte. Hm. Jemand wie den Karapaki an seiner Seite zu sehen … Womöglich zusammen mit dem Geistervogel? Chirgot befand, dass er sich mit dem Gedanken anfreunden konnte.

*

Das war er, der Tag aller Tage. Ioro fror. Vor Sonnenaufgang war es in der Wüste verdammt kalt, und der Alte hatte ihm keinen Fetzen Kleidung erlaubt. Es sei nicht üblich, hatte er nur gesagt. So streng, wie die Wüstenkrieger auf ihre Traditionen achteten, hatte es wohl keinen Zweck, zu widersprechen. Ioro fühlte sich komisch. Er, der oberste Feldherr, nein, der ehemalige oberste Feldherr des karapakischen Heeres, sollte hier in der Wüste eine Prüfung absolvieren, die unter den Wüstenkriegern bereits halbwüchsige Kinder machten. Jene Prüfung, mit der die Jungen bewiesen, dass sie Krieger waren, mit der sie zum Mann wurden. Nur so, hatte der Schamane erklärt, würde es Ioro möglich sein, wirklich zu einem Krieger der Roten Zelte zu werden. Nur so würde die Weißspuren-Sippe, die diesen Teil der Wüste ihre Heimat nannte, Ioro als vollwertigen Menschen sehen. Weißspuren-Sippe! Namen hatten die! Wie kamen Menschen zu so komischen Namen? Die Roten Zelte, klar, so nannten sie sich, weil ihre Zelte aus rotem Ziegenhaar waren. Aber Weißspuren? Jede Spur in dieser verdammten weißsandigen Wüste war weiß!

Der Schamane tauchte neben ihm auf. „Bist du bereit?” Er musterte Ioro abwägend.

„So bereit, wie ich nur sein kann”, brummte Ioro. „Außerdem kann ich nicht länger warten.”

Einen Moment sah der Schamane aus, als ob er ihn fragen wollte, warum. Aber dann zuckte er nur die mageren Schultern, drehte sich um und deutete in die Wüste hinaus. Jenseits des Flammenringes, den die Wachfeuer um die Zelte und die Herden bildeten, war es noch stockfinster.

„Du kennst deine Aufgaben”, sagte der Schamane. „Du läufst zur Felsennadel. Dort fängst du einen blauen Skorpion. Lebend. Dann suchst du die Quelle in den tausend Schluchten. An ihrem Ufer steht ein Birfa-Strauch. Von dem nimmst du einen Zweig. Und dann bringst du den Zweig und den Skorpion zur großen Felsenwand. Du hast Zeit bis zum nächsten Sonnenaufgang. Wenn du pünktlich kommst, wirst du auf der großen Felsenwand die aufgehende Sonne des neuen Tages begrüßen. Wenn nicht, bist du tot.”

Der Falke, der die ganze Zeit reglos auf dem First des Schamanenzeltes gesessen hatte, gab einen heiseren Schrei von sich.

„Du wirst dich da raushalten!”, befahl der Schamane. „Diese Prüfungen muss Ioro aus eigener Kraft bestehen. Sonst haben sie keinen Wert. Nicht für den Stamm und nicht für ihn selbst.”

Der Falke schlug mit den Flügeln.

*

Noch bevor er die Wachfeuer hinter sich gelassen hatte, setzte die kurze Dämmerung ein. Als er das Ende der Weideflächen erreichte, ging die Sonne bereits auf. Einige wenige Augenblicke freute Ioro sich über die Wärme. Dann verfinsterte sich sein Gesicht. Er trug keine Kleidung. Absolut keine. Und er wusste, wie verdammt empfindlich seine Brandnarbe auf Sonne reagierte. Das konnte heiter werden. Aber es gab kein Zurück. Jetzt nicht mehr. Er konnte nur zusehen, dass er seine Aufgaben so schnell wie möglich erledigte. Ioro lief los.

Eine Kerze später lief er nicht mehr. Der Sand war tief und heiß. Seine Füße fühlten sich an, als ob sie gebraten wurden. Und seine Brandnarbe brannte mit ihnen um die Wette. Sie war jetzt schon knallrot. Ioro setzte einen Fuß vor den anderen. Bedächtig, stur, zielstrebig. Er würde diese verdammte Felsennadel erreichen. Was zwölfjährige Jungen schafften, sollte ein karapakischer Feldherr auch können.

Am späten Vormittag kochten nicht nur seine Füße und seine Brandnarbe, sondern auch sein Gehirn. Ioro war mehr als erleichtert, als er endlich in den Schatten der Felsennadel tauchen konnte. Er gestattete sich einen kurzen Moment zum Ausruhen – nur um nach wenigen Augenblicken entsetzt wieder hochzufahren. Er war beinahe eingeschlafen! Tagsüber in der Wüste einzuschlafen, ohne Schutz, ohne Kleidung, ohne Wasser, etwas Dümmeres konnte er kaum tun. Wie war noch die erste Aufgabe? Es dauerte einen Moment, bevor sie seinem benebelten Gehirn wieder einfiel. Ach ja. Der Skorpion. Er begann, Steine umzudrehen.

Es war nicht weiter schwierig, einen Skorpion zu finden. Unter jedem zweiten Stein lauerte einer. Womit Ioro allerdings nicht gerechnet hatte: Die Biester waren aggressiv. Sie sprangen sofort auf ihn los. Jeden hatte er bislang verdammt schnell mit genau dem Stein erschlagen müssen, unter dem er sie herausgelockt hatte. Wie sollte er einen lebendigen Skorpion einfangen und transportieren? Ioro sah sich um. Irgendetwas musste es hier geben, das er gebrauchen konnte. Die Aufgabe musste irgendwie lösbar sein. Systematisch suchte er den Fuß der Felsnadel ab. Aber da gab es nichts, außer ein paar Federn von irgendeinem Vogel, der anscheinend auf der Felsnadel sein Nest hatte. Aasgeier, vermutlich, die Federn waren groß. Ioro ging weiter – und hielt inne. Verdammt, ja doch, die Federn. Eilig kehrte er zurück, untersuchte seinen Fund näher. Die Skorpione waren klein, die Federn groß und kräftig. Groß genug für einen Käfig. Er hockte sich in den Sand und begann, Federn zu verflechten.

Zwei Kerzen später hatte er es geschafft. In einem Federball, der an einer Federschnur hing, steckte ein aufgeregter kleiner, blauer Skorpion.

Ioro sah sich zufrieden nach seiner nächsten Aufgabe um. Eine Quelle war genau das, was er jetzt brauchte. Sein Durst war kaum noch auszuhalten.

Es war fast zu einfach. Die tausend Schluchten begannen direkt hinter der Felsennadel und er brauchte nur dem Gefälle zu folgen, um zu der Quelle zu finden. Zudem war es schattig in den Schluchten und die Quelle bot herrliches, trinkbares Wasser. Auch der Birfa-Strauch bereitete keinerlei Schwierigkeiten. Breitästig stand er neben der Quelle und wartete förmlich darauf, dass Ioro sich bediente. Was sollte das für eine Probe sein?

Drei Kerzen später kannte Ioro die Antwort.

Nicht das Finden der Quelle oder des Strauches stellte die Schwierigkeit dar. Die Probe bestand darin, aus den tausend Schluchten wieder herauszufinden. Natürlich hatte er sich den Weg nicht gemerkt. Und natürlich landete er immer und immer wieder in einer Sackgasse. Die Wände waren zu mürbe, um daran hochzuklettern, seine Versuche endeten jedes Mal in einer Sand- und Felslawine. Irgendwann stand er zum dritten Mal vor einer mittlerweile wohlbekannten Felswand mit einem charakteristischen weißen Streifen in dem rötlichen Gestein.

Nein, bloßes Herumirren würde ihn hier nicht herausbringen. Er musste es taktisch angehen. Konnten ihm seine eigenen Spuren helfen?

Leider nicht. An den meisten Stellen hatte der ständig wehende Sand, der über die Ränder der Schluchten hinab wehte, jede Fährte verschüttet. Und da, wo noch etwas zu sehen war, hatte er durch seine Herumlauferei selbst jede Möglichkeit verwischt, den richtigen Weg zu finden.

Konnte er die Wände irgendwie markieren? Er versuchte, mit einem Stein den Fels anzuritzen. Es war mühsam und dauerte, bevor auch nur ein einziger Strich tief genug war, um deutlich sichtbar zu sein. Nein, so ging das nicht. Die Zeit lief ihm davon. Ioro setzt sich neben die Quelle und dachte nach. Wie konnte er sicher stellen, einen Weg nicht zweimal zu gehen?

Die Sonne stand schon sehr tief, als er endlich die Lösung fand. Er musste nur zusehen, dass er mit einer Hand immer am Felsen blieb. Das verhinderte zwar nicht, dass er in einer Sackgasse landete. Aber er brauchte keine Schlucht ein zweites Mal zu erkunden.

Die Methode funktionierte, wenn auch mühsam. Ioro wanderte systematisch eine Schlucht nach der nächsten ab. Mindestens fünfmal kam er zurück zur Quelle, nur um von dort aus in die nächste Schlucht einzutauchen. Seine Füße schmerzten mittlerweile nicht mehr, sie bluteten und fühlten sich fast taub an. Die Sonne war längst untergegangen. Ioro hätte einiges für ein gemütliches, sicheres Feuer gegeben, das ihn wärmte und vor den Windgeistern schützte. Aber er besaß nichts, womit er Feuer machen konnte. Und selbst wenn, er hätte an keinem Feuer verweilen können. Nicht, wenn er es noch rechtzeitig zu dem Schamanen zurückschaffen wollte. Über seine kalte Haut strich noch kälterer Wind. Geisterwind. Ioro fühlte einen unheimlichen Druck auf seiner Brust, den er betroffen als Angst identifizierte. Die kleinste Fackel, ja sogar eine winzige Kerze wäre ihm jetzt mehr als willkommen gewesen. Überall um ihn herum raschelte und rieselte es und er konnte nicht einmal die Hand vor Augen sehen. Bis in die Schluchten reichte das Sternenlicht nicht. Er fühlte seinen Weg mehr, als dass er ihn sah. Hoffentlich hatte der blaue Skorpion, der immer noch in seinem Federball saß, hier keine freilaufenden Brüder. Ioro lief und lief.

Irgendwann fiel ihm auf, dass er die Steine auf dem Boden erkennen konnte. Ioro schaute hoch. Der Schluchtrand war fast in Augenhöhe. Er hatte endlich einen Weg aus den tausend Schluchten gefunden.

Der Rest war verhältnismäßig einfach. Nach der Dunkelheit in den Schluchten wirkten die Sterne fast wie helle Fackeln, die ihm den Weg erleuchteten. Die fürchterliche Kälte der Wüstennacht allerdings war nicht einen Deut besser als die brennende Sonne tagsüber. Mit einem Körper, der steif und halb betäubt vor Kälte war, setzte Ioro mechanisch Fuß vor Fuß und kämpfte sich beharrlich bis zur großen Felsenwand hinter dem Lager durch. Von Ferne blinkten fröhlich und einladend die Lagerfeuer. Ioro schaute weg. Noch nicht. Noch ein letztes Hindernis galt es zu überwinden.

Er war fast enttäuscht, wie leicht der Aufstieg war. Die große Klippe sah zwar steil aus, war aber verwittert genug, um ein fast bequemes Klettern zu ermöglichen. Gut, er musste den Zweig und den Federball mit dem Skorpion mit den Zähnen festhalten, aber das war eine verhältnismäßig kleine Unannehmlichkeit. Solange der Skorpion nicht versuchte, ihn durch die Federwand hindurch zu stechen … Es dauerte. Die Klippe war hoch. Sehr hoch. Aber es war nicht wirklich schwierig. Ioro erreichte die Kante, als der Himmel gerade begann, sich aufzuhellen.

Der Schamane stand genau da, wo Ioro über den Klippenrand kletterte. Er streckte stumm die Hand aus. Ioro übergab ihm den Zweig und den Skorpion. Der Schamane zog eine Augenbraue hoch, als er die Federkugel sah, sagte aber nichts. Er winkte Ioro, ihm zu folgen, und marschierte ein Stück den Klippenrand entlang. Der Weg stieg noch ein gutes Stück an. Hier war die Klippe wilder, der Rand unregelmäßiger. Ioro konnte vor sich eine große Einbuchtung erkennen und dahinter einen noch größeren, gezackten Vorsprung. Es musste kurz vor Sonnenaufgang sein, der Himmel wurde bereits hell. Jetzt endlich machte der Schamane den Mund auf.

„Du gehst zum Rand der Klippe, so weit, wie du dich wagst. Dann begrüßt du die Sonne.” Der Schamane deutete auf den gezackten Vorsprung, der wie eine Pfeilspitze in die Leere über dem Abgrund ragte. „Dort, auf diesem Felsen.”

Na schön. Wenn’s denn sein musste. Zum Glück litt er nicht unter Höhenangst. Ioro ging los. Der Schamane folgte ihm in wenigen Schritten Abstand.

Der Vorsprung war schnell erreicht. Er war größer, als er von ferne ausgesehen hatte, und er stieg noch ein ganzes Stück an, bevor er sich in der zweiten Hälfte etwas nach unten neigte. Ioro ging bis zum Beginn der Neigung. Bis hierher bestand keine Gefahr. Dahinter musste er aufpassen. Wenn er auf der Neigung ausrutschte, würde er abstürzen. Er schnob wütend. … so weit, wie du dich wagst. Wollte der Schamane ihm damit unterstellen, dass er ihn für wenig mutig hielt? Dem würde er das Gegenteil beweisen, ha! Er ging weiter. Die Neigung war nur gering. Bis zwei oder drei Schritte vor die Abbruchkante sollte er es ohne große Mühe schaffen. Dämliche Mutprobe.

Ioro hielt inne. Was immer der Schamane war, dämlich war er nicht. Diese spezielle Mutprobe musste irgendeinen besonderen Zweck erfüllen. Er lauschte. Weit weg schrie ein Falke. Jo? Er wollte weitergehen. Zögerte. Etwas fühlte sich nicht richtig an. Unsinn. Das bildete er sich nur ein. Ioro lauschte wieder. Da war nichts. Absolut nichts. Er ließ sich von nichts ins Bockshorn jagen. Ein schöner Krieger war er!

Ioro ging einen Schritt weiter. Der Felsen knackte. Er hielt inne. Lauschte. Nichts. Ein weiterer Schritt. Wieder knackte der Felsen. Kaum hörbar. Und dennoch überlaut in der atemlosen Stille um ihn herum. Ioro ging rückwärts. Vorsichtig. Einen Schritt, noch einen Schritt, noch einen, bis er eine Stelle erreichte, an der er sich wieder sicher fühlte. Der Felsen vor ihm knackte noch einmal. Und dann löste er sich, ganz langsam, wie in Zeitlupe, vom Mutterfelsen, ein kleiner Spalt erst, der dann breiter wurde, schließlich aufklaffte wie ein Drachenmaul, und dann drehte sich der Felsen schwerfällig vom Klippenrand weg und stürzte in die Tiefe.

Man hörte kaum etwas, als er endlich unten ankam.

Ioro fühlte Schwindel. Wenn er weitergegangen wäre …

„Was ist das für eine beschissene Mutprobe?”, fragte er wütend.

„Keine Mutprobe”, beschied ihm der Schamane kühl. „Nicht dein Mut stand auf dem Prüfstand, sondern dein Verstand. Oder dein Instinkt. Wähl dir selbst aus, was dir lieber ist. Und jetzt stell dich gefälligst anständig hin und begrüße die Sonne.”

*

Es war bereits dunkel, als der Schamane das Zelt betrat. In der Hand hielt er eine kleine Schale mit einer tintigen Flüssigkeit und eine Bronzenadel.

„Es wird Zeit für dein erstes Zeichen, junger Krieger!”

Ioro entblößte schweigend seinen Oberkörper. Der Schamane tauchte die Nadel in die Flüssigkeit und begann, die Umrisse des Zeichens in Ioros linken Oberarm zu tätowieren. In dem Maße, in dem das dunkle Zeichen Gestalt annahm, sog es den dünnen Faden Dunkelheit, der noch immer in Ioros Seele ruhte, in sich auf und machte ihn unschädlich. Der Schamane ging kein Risiko ein mit dem neuen Krieger. Loyalität, die von Dritten beeinflusst werden konnte, war keine Loyalität. Ioro musste ganz und gar und mit jedem Faden seiner Seele den roten Zelten gehören.

Ioro wartete in dumpfer Ergebenheit, während die Nadel ihr Werk verrichtete. Dauerte es immer so lange? Das sonnenverbrannte Narbengewebe schmerzte.

Tiefer als seine Narben schmerzte Ioros Herz. Hiermit hatte er endgültig alle Brücken zu seinem Heimatland und zu dem Volk seiner Geburt abgebrochen.

In dieser Nacht feierte die Weißspuren-Sippe in den Roten Zelten die Geburt eines neuen Kriegers. Es war Chirgot, der dem neuen Krieger sein erstes Pferd gab, es war Chirgot, der ihm Bogen, Pfeile und ein langes Messer überreichte, und es war Chirgot, der ihn als Sippenbruder in die Arme schloss und ihm seinen neuen Namen gab: Nior. Skorpion.

Aber es war die Frau Sua, die Niors Tränen behutsam abtrocknete, als er nachts im Schlaf weinte.

Wüstenkrieger

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